sanctus

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G

Gelöschtes Mitglied 15780

Gast
[ 4]sanctus


gekammerte zellen verdrehte quadrate ins feinste geschachtelt
berühren die mitte den punkt und so wächst aus dem punkt in der mitte
ein neues gemäuer von zell-zitadellen und schachtelt die kammern
von häusern an straßen und plätzen - umstädtert das gläserne sandkorn

die vögel des himmels sie stürzen hinab zieht der schwarm sich zusammen
berührt schon die mitte den punkt und so blüht aus dem punkt in der mitte
die wolke des schwarms wieder auf und die vögel erobern das weltall
drei flügel vor fuß mund gesicht und umarmen mit dreien den urknall

kadosch singen sie und kadosch und kadosch einmal ewig drei-faltig
berühren die mitte den punkt und so reifen im punkt in der mitte
die samen der dreisamen kapseln darin die personen sich spiegeln
in deren verstand und begegnung die straßen die häuser umzweigen
 

Monochrom

Mitglied
Hi,

ich mag das...

Nur zuweilen machst Du es dem Leser nicht leicht.

Begriffe wie "Punkt", "Mitte" sind unlyrisch, wenn sie nicht deutlich in einen Zusammenhang gebracht werden. Sie brauchen eine BIlderhilfe.

Dann sind da mit SIcherheit begründbare Äußerungen wie
"umarmen mit dreien den urknall"... da sollte noch ein Antippen erfolgen, weil das an sich eine ganz grandiose Äußerung ist.

Mithin ist der Text leider etwas gestelzt. Du solltest Dir überlegen, bei hermetischen Texten einen leichten Satzbau, ein einfaches GErüst zu wählen, damit der Leser besser folgen kann...

Mit Interesse gelesen,
Monochrom
 
G

Gelöschtes Mitglied 15780

Gast
hallo, Monochrom - was meinst Du mit "antippen"? ein anderes wort für "berühren"?
 

Monochrom

Mitglied
Ich meine ein Antippen an die Interpretationsmöglichkeiten, also, genau, ein nahes Berühren der Möglichkeiten.

Die Drei ist eine weite Zahl: 3 Raumdimensionen, Dreifaltigkeit etc...

Sag nicht was Du sagen willst, aber tippe es an...

Bis denne,
Monochrom
 
G

Gelöschtes Mitglied 15780

Gast
formstrenge

zuerst einmal: dankeschön für das reinschauen, lesen, verständnissuchen, mitteilen und anregen.
eigentlich ist es eine gedichtform, die dir, wie ich an deinen anmerkungen sehe, fremd ist, deshalb noch einmal danke.
"unlyrische" wörter gibt es natürlich nicht, und gerade die abstrakten der mathematik und logik sind besonders reizvoll aufgrund ihrer unterkühltheit, helligkeit und deutlichkeit.
das widerspricht einer angeblichen "gestelztheit". was ist denn, wenn ich rückfragen darf, "gestelzt" bei diesem lied mit seiner fast geometrisch strengen form?
 
O

orlando

Gast
Kann gut sein, Mondnein,
dass dir gleich Unsinn blühen wird.
Inhaltlich, wegen seiner 6-Hebigkeit und der leicht expressionistischen Sprache, erinnern mich deine Verse irgendwie an Werfels Drama "Der Spiegelmensch", mutet also leicht faustisch an. Gleichsam, als würde das Spiegelmotiv der Mathematik zurückgegeben ...
Andererseits handelt es sich bei dir ja nicht um jambische Blankverse, sondern um die flexibleren Hexameter, die sechshebige Daktylen umfassen. (Selbst aus sprachlicher Sicht ergäbe sich eine Interpretation des Inhalts [verdrehte Quadrate, ins Feinste geschachtelt]).

Eigentlich beschreibt mir dein "sanctus" ein ganzes Leben oder besser noch dessen Totensang, aus dem das neue Samenkorn erwächst.
Doch ist dies ein Korn "oder ist es sein Spiegel?"

Sehr schön auch die Herausstellung der heiligen 3, die mittig umzweigt und, gedoppelt, die Liebe ergibt.

Kurzum: Mir gefällt das Gedicht super - selbst wenn ich falsch liegen sollte.

Auf deine Einwände oder zustimmenden Worte bin ich gespannt
orlando
 
G

Gelöschtes Mitglied 15780

Gast
jesajah

sehr wichtig, sehr treffend von dir, liebe Orlando, auf die formale struktur einzugehen.
hexameter sind es nicht, da alle verse unbetont anfangen. sechs hebungen aber wohl: amphibrachyen. d.h. daktylen wie beim hexameter, nur noch ein unbetonter auftakt jeweils davor.
(für klassische dramen ist der sechhebige iambus üblich.)
das "sanctus" ist ein messeteil, litourgeia, ritus nach der opferung, vor der wandlung. es zitiert dort, in der messe, den ruf der beiden sechsflügligen seraphim vor JHWH gemäß Jesajahs thronvision: "heilig heilig heilig ist JHWH der heere". ich übernehme davon nur die sechsflügeligkeit der beiden engel (aber anders über deren leib verteilt) und das dreifache "kadosch". und baue es trinitarisch neu auf, analogisiert mit dem vegetativen leben und wiederleben, das der geburt des sohnes im vater und der reflexion im geist des all-ein-seienden entspricht.
ein mandala, damit sprenge ich den anthropomorphismus der üblichen trinitätsauffassung und lege den mittel-"punkt" zugleich in das bewußtseinszentrum des menschen. bin halt philosoph, der fichte und hegel liebt. und fasziniert von moderner kosmologie.

pardon, habe wieder zu viel geantwortet. bitte um verzeihung.
 
O

orlando

Gast
Jetzt wird es noch spannender.
Heißen deine Verse also in ihrer Gesamtheit Amphibrachien oder gibt es noch einen speziellen Namen? Neulich las ich mal was über eine amphibrachysche Schaukel (oder so ähnlich), damit hast du aber nix zu tun oder?
Hoch erfreut bin ich, dass ich den Bezug Inhalt und Form richtig erspürt habe und geradezu entzückt darüber, dass es sich bei dir um die sechsflügligen Seraphim handelt (den Hebungen gemäß).
Ach, hätte ich dir doch ein Zehnerle rübergereicht ...

Leicht reuige Grüße
orlando
 
G

Gelöschtes Mitglied 15780

Gast
die amphibrachys ist ein versfuß.
kurz-lang-kurz.
wenn also mehrere amphibrachyen aufeinander folgen, klingts genauso wie beim daktylischen hexameter. so, wie aufeinanderfolgende trochäen nichts anderes als iamben sind und nur am anfang und erst am ende klar zu unterscheiden ist, ob der vers mit einem auftakt beginnt und ob er iambisch-betont oder trochäisch unbetont endet.

"schaukel" ist bei so einer symmetrischen "waage" von versfuß schon passend. kenne ich aber nicht.

danke für deine freundliche einschätzung diese dreizähligen knospenblütenfrucht!
 
O

orlando

Gast
Danke. Ich war schon ganz durcheinander.
Dass es sich beim Amphibrachys um einen Versfuß handelt, weiß ich natürlich, sah mich aber schon auf der Spur einer mir gänzlichen unbekannten antiken Form. :D;)
orlando
 
O

orlando

Gast
Danke. Ich war schon ganz durcheinander.
Dass es sich beim Amphibrachys um einen Versfuß handelt, weiß ich natürlich, sah mich aber schon auf den Spuren einer mir gänzlich unbekannten antiken Form. :D;)
orlando
 

HerbertH

Mitglied
Hallo Mondnein und Orlando,

amphybrachische Hexameter sind so neu nicht, ich hab auch mal so etwas verbrochen in Feste Formen ( http://www.leselupe.de/lw/titel-Plutoniumtrinker---Amphybrachische-Hexameter-111501.htm ). Es ist also eine Feste Form, weshalb das Gedicht auch gut in Feste Formen untergebracht werden könnte - muss nicht.

Die langen Hexameter-Zeilen sind heut fast schon schwierig für hastige Leser. Man könnte eventuell auch bei diesem Gedicht einen "3x2" Umbruch wählen, mit dem ich damals experimentierte.

Hinsichtlich der Wortwahl stimme ich Dir zu, lieber Mondnein: Gerade Wörter, die man aus einem anderen Zusammenhang kennt, wzB. Punkt aus dem Mathematikunterricht, entfalten in Gedichten eine ganz eigene Wirkung und reizen mich auch sehr.

Wie ich gerade bemerkte, ist der letzte Satz selbstbezüglich: "Gerade Wörter" sind selbst ein Beispiel, wenn man sie z.B. mit "Ungerade Wörter" oder auch "Schiefe Wörter" kontrastiert. Das weckt bei mir den Spieltrieb :).

Liebe Grüße

Herbert
 
G

Gelöschtes Mitglied 15780

Gast
amphi-brachys = um (die länge) herum (gebaute) kürze(n)

der wesentliche unterschied zum hexameter ist bei diesen amphi-brachyschen versen, daß hier (bei mir jedenfalls) die doppelkürze (ich meine doppel-unbetonte) nie durch eine länge bzw. einfache unbetonte ersetzt wird.
dadurch muß man nicht überlegen, etwa bei mehreren einsilbigen wörtern, wo denn die betonung liegt, und ob da zwei einsilbler unbetont sind usw., sondern darf sich der daktylischen (bzw. amphi-brachyschen) regelmäßigkeit überlassen.
das aufbrechen längerer verse zu zeilenpaaren diskutieren wir, lieber HerbertH, ja im marmela. da wander ich jetzt rüber und trenne das um von der kehr. nochmal danke!
 

Monochrom

Mitglied
Hi Mondnein,

sorry dass ich erst jetzt antworte. Zunächst mal gibt es sehr wohl "unlyrische" Worte, genau dann, wenn sie entweder falsch gesetzt, oder zu wenig umspielt werden. "Punkt"und "Mitte" sind in diesem Text mMn zuwenig umspielt. Gerade die Ausreizung der "neutralen" BEgriffe erfolgt in einer dosierten Umgebung, die ich hier nicht finde, weil die beiden Wörter leider die einzige Attribution des Bildes sind. Abstraktion heilt einen Text nicht, wenn das Auslassen von Informationen ein Bild schwächen, und das Geheimnissvolle sich mit "leeren" Wörtern schmückt.
Die Gestelztheit entsteht mE gerade durch die von anderen gelobte Wahl der Metrik und Versmaßes. Ich sehe da zuwenig Wellenbewegung, ein feines Auf- und Abschwingen von Rhythmus
und Aussage. Freihin ist die Durcharbeitung sehr kunstvoll, passt sie aber nicht zur Bildersprache.
Dafür sind die Bilder zu tief. Wenn Du eine leichtere Metrik gewählt hättest, hätte ich gerne applaudiert... so bleibts bei meinem persönlichen Leseeindruck der Gestelztheit, dem Vermissen des leichten Wellenganges, den Amphibrachen und Daktylen im besten Falle bei mir erzeugen . Schade...
Bis denne,
Monochrom
 

Monochrom

Mitglied
Hmmmm,

"Das Reh befand sich in der Mitte, genau im Punkt..."

"Das Reh befand sich am Punkt, genau in der Mitte..."

"DAs REh befand sich in der Mitte der LICHTUNG, genau an dem Punkt, an dem LICHT aufs GRAS fiel"

Ich hoffe, dies macht es jetzt verständlich...

Punkt und Mitte sind nicht nur in der Lyrik Ortsbegriffe, die ohne SInnverweis keinen Wert haben. Aus Deinem Text ergibt sich lediglich ein philosophisches Kontrukt, dass aber deutungsleer bleibt. Punkt und Mitte finden bei Dir keine Umgebung, nichts, das sie einbettet.


Ciao,
Monochrom
 
G

Gelöschtes Mitglied 15780

Gast
alles ist relativ, aber das Koordinatensystem ist absolut

Tyl Ulenspiegel, 28. Histori, wie Ulenspiegel zu Prag in Behemen uff der Hohen Schul mit den Studenten konversiert und wohl bestohnt (3. Frage):

[ 4][ 4]Der Rektor sprach zu ihm:
[ 4]"Die dritte Frag, sag mir bald,
[ 4] wie oder woran sich das Mittel der Welt halt."
[ 4][ 4]Ulenspiegel antwort:
[ 4]"Das ist das hie, das stoht recht mitten in der Welt,
[ 4] und daß es wahr sei,
[ 4] so lont es messen mit einer Schnur,
[ 4] und wa es fehlt um ein Strohhalm,
[ 4] so will ich Unrecht hon."

(aus: Deutsche Volksbücher in drei Bänden, 2.Bd., Berlin und Weimar 1982, S.47)
 



 
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