sommerwinter/notiz I

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nisavi

Mitglied
Sie ist alt geworden, dachte es in mir.
Der Gedanke, eine seltsame Feststellung, ließ mich unberührt, wohl, weil die Berührung bedeutet hätte, meinem eigenen Mitaltern gegenüberzusitzen.
Ich hätte den Satz über die Tastatur in ein Handy eingeben und als sms an alle meine Freunde verschicken können oder ins Diktiergerät sprechen, nur, um ihn loszuwerden.
Ich würde ihn später aufschreiben: SIE IST ALT GEWORDEN.
Es gab den Satz. Es gab sie. Und es gab mich.
Ihr Haar, ihr schönes Haar, auf das sie immer so stolz gewesen war und das sie während der Therapie komplett verloren hatte, war erst nach Monaten kräuslig und schütter nachgewachsen. Sie hatte es jetzt eichhornrot gefärbt.
Die Gesichtshaut schimmerte in der Sonne fleckig und brüchig, um Augen und Mund zeichneten sich wie Risse in einer Häuserfassade feine Fältchen ab.
„Schenk mir keine Bücher mehr“, hatte sie sie mir vor einigen Monaten ernst mitgeteilt. „Ich kann sie nicht mehr lesen, nach wenigen Zeilen versinken die Buchstaben in den Zeilen.“
So lange ich mich erinnern konnte, lagen Stapel von Büchern und Zeitschriften neben ihrem Bett. Manchmal hatte ich heimlich darin gelesen.
„Es gibt Hörbücher“, hatte ich zu bedenken gegeben, aber genau gewusst, dass auch der Abschied von den Büchern ein Abschied für immer war.
Wir saßen auf der Terrasse, im Schatten eines Perückenstrauches, der jedes Frühjahr so tat, als sei er über den Winter erfroren. Wir tranken Tee statt Kaffee , wechselten wenige Worte und hingen nun schweigend unseren Gedanken nach. Ich tastete nach meinem Handy.
Aus der gegenüberliegenden Grundschule ertönte ein Pausenklingeln und Kinder liefen lärmend auf den Hof. Manche von ihnen wurden bereits von ihren Eltern erwartet, andere traten ohne Eile den Heimweg an.
 
E

eisblume

Gast
Hallo nisavi,

ein sehr berührender Text, wie ich finde.
Ich weiß nicht, woran es liegt, dass ich bei sehr vielen Texten immer ein Problem mit dem Schlusssatz oder auch Schlussabsatz habe. Vielleicht deswegen, weil ich mich damit bei eigenen Texte immer mit am schwerste tue und x-mal ändere.

Ich meine, dass der richtige Schlusspunkt hier wäre:
Ich tastete nach meinem Handy.
Die Schulkinder braucht es - zumindest an der Stelle - für mein Empfinden nicht.

Das hier:
Es gab den Satz. Es gab sie. Und es gab mich.
würde ich streichen.

Diesen Satz:
„Ich kann sie nicht mehr lesen[strike], nach wenigen Zeilen versinken die Buchstaben in den Zeilen[/strike].“
könntest du entsprechend verkürzen.

Lieben Gruß
eisblume
 

Cafard

Mitglied
Hallo nisavi, mit der Formulierung "dachte es in mir" tu ich mich sehr schwer, ansonsten aber gefällt mir diese poetisch atmende Miniatur sehr gut!

Gruß C.
 

Paloma

Mitglied
Guten Morgen nisavi,

ein wehmütiger Text, der mir gut gefällt.

„Ich kann sie nicht mehr lesen, nach wenigen Zeilen versinken die Buchstaben in den Zeilen.“
Die doppelten Zeilen würde ich ändern. Vielleicht nach wenigen Worten …?
Ich kann mir vorstellen, dass du mit den Schulkindern in das Alltägliche zurück möchtest – weil, dass was kommt, unabänderlich ist, dennoch meine ich, ist es ein bisschen zu viel.

Gerne gelesen, vielen Dank

Liebe Grüße
Paloma
 



 
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