subcutis2010

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Manche Geschichten lassen einen einfach nicht los (vor allem, wenn man ins Stöbern kommt). Man möchte sie am liebsten überarbeiten - wieder und wieder, und wenn man fertig ist und sagt, so muß sie sein, liest man sie drei Jahre später noch einmal und setzt sich wieder ran.
Subcutis ist so eine Geschichte. Sie ist in meinem Kopf - ich liebe sie, ich liebe Tommi. Und wer weiß, vielleicht bekommt er irgendwann mal mehr Platz auf dem Papier.

Jedenfalls, wenn er zurück kommen sollte,
von dort, wo er jetzt ist ...





Subcutis


Ich glaubte nie, dass ich Tommi jemals wieder sehen würde, sage ich. Und ich denke, das glaubte damals niemand.

Wie kann ich die Geschichte anders beginnen als mit dem ersten Satz, der sich mir bis heute eingeprägt hat. Dieser Satz, der meinem kindlichen Gemüt so fern lag, dass ich mich erst Jahre später zu ihm empor kämpfen konnte:

»Ich glaube, er frisst sich die Haut auf.«

Es mag wohl sein, dass ich lange vergessen habe, wer mir das, ranzenbepackt und mit Sportbeutel über der Schulter, zugeflüstert hatte. Wie so oft sind die Kindheitserinnerungen wie ein großes, weites Meer aus dem die Träume jener Tage wie schiffbrüchige Kähne aus der Versenkung emporsteigen und ihre zerrissenen Segel zeigen. Der Junge mit der schorfigen Haut aber ist ein Fels in dieser Brandung, den dieses Meer nur wenige Jahre verschluckt hielt, bis er schließlich wieder schrecklich schön von meinen Gedanken umspült wurde.

Alles an ihm war, soweit ich weiß, ein Geheimnis, das wir teilten und das sich umso einfacher miteinander teilen ließ, weil es ein Geheimnis blieb. Tommi redete nicht viel, Tommi kratzte sich nur und er warf den Kreisel so geschickt auf den Bürgersteig, dass unser kindliches Gelächter über die Schönheit dieses kleinen, tanzenden Dinges mehr Worte austauschte, als das mit dem begrenzten Wortschatz jener jungen Tage möglich gewesen wäre. Es war ein Dahingleiten im wortleeren Raum, ganz versenkt in das Spiel und ganz versenkt in den Traum einer unversehrten Kindheit. Wäre sie nicht von jenem verhängnisvollen Satz bedroht worden, der wie ein Echo aus der Düsternis der Dorfgassen heraufgellte.

„Er frisst sich die Haut auf.
Er frisst sich die Haut auf.“

Was diese schrecklichen Worte bedeuteten, sollte ich viel zu früh und nicht erst später in der apathischen Melancholie des Erwachsenseins herausfinden. Wir warfen wie immer den Kreisel. Ein kleines Stück gedrechselten Holzes, das vor unseren Augen um die eigene Achse wirbelte.
Auf dem Vorplatz der Polyklinik.
Dort, wo ich Tommi das letzte Mal sah.

»Mein Körper frisst meine Haut auf«, sagt Tommi plötzlich und unerwartet, während ich den Kreisel von den Stufen aufklaube.
„Das ist eine Lüge!“, protestiere ich.
„Es ist keine Lüge“, antwortet er seelenruhig, sich in Gedanken die Hautschuppen von den Oberarmen reibend. Und ich weiß, dass es keine Lüge ist, so wie es die Kinder aus der Nachbarschaft wissen, die uns manchmal mit Steinen bewaffnet verfolgt haben und im Dunkel gelauert. Wie Partisanen, die ihre Handgranaten in einem unbeobachteten Augenblick auf deutsche Panzer schleuderten.
»Musst du jetzt weggehen?«, frage ich. Tommi duckt sich. Fast genauso, wie unter den über uns hinweg pfeifenden Handgranaten der Partisanen. Aus Angst, denke ich. Aber dann sehe ich, wie er mit seinen Vorderzähnen an seinem Handgelenk schabt.

Ich habe das Bild bis heute nicht vergessen. Wie er sich die Haut ähnlich einer dünnen Plastikfolie von den Unterarmen zu nagen begann.
Bis tief in das Gewebe. Bis auf´s Blut.
Es verfolgt mich bis in meine Träume.

Es war der Plenarsaal der medizinischen Universität, in dem ich Tommi und den vergessenen Erinnerungen wieder begegnen sollte. Möglich, dass mich etwas, das tief in meiner Seele schwelte, dorthin drängte. Als ob ein Faden in mir sich danach sehnte, wieder mit seinem abgetrennten Ende verbunden zu werden. Eine Sehnsucht vielleicht, die so abgrundtief in mir verborgen war, dass sie bis heute nicht den Weg in mein Bewusstsein finden will. Als hätte sich ein Vorhang vor meine Gedanken gewälzt, hinter dem sich ein schreckliches Theater auf seine Premiere vorbereitete.


Die Vorlesung, durch die sich Tommi wieder in mein Leben drängen sollte, war eine jener pädagogischen Grundlagenveranstaltungen, in denen die jungen Studenten noch nicht ganz die Hoffnung auf ein mythisches Dahinter und ungeträumtes Morgen aufgegeben hatten. Und doch waren sie auf dem besten Wege, beschnitten und Stück für Stück ihrer Zuversicht und ihres Mutes beraubt zu werden, bis nur noch die leere trostlose Hülle zurück bleiben würde. Eine Hülle, die die Professoren eimerweise mit ihren stinkenden Formeln und Phrasen befüllten, bis sich kein Winkel mehr in dem Gemäuer aus gedrungenem Fleisch und eingepferchten Gedanken finden ließ. Wie das ungemolkene Euter einer unversehens zurück gelassenen Milchkuh. Dem fremdbestimmten Schicksal auf Gedeih und Verderb ausgeliefert.

Fast schien es ein dunkles Bekenntnis zu sein, dass der Professor für Neurobiologie nur die außergewöhnlichsten und düstersten Präzedenzfälle aus dem angeschlossenen Klinikum in die Vorlesung trug. In seinem Aktenkoffer residierten die kleinen Lichtbildträger wie Zeugnisse einer allgegenwärtigen Schattenwelt, einer krankhaften Welt, die sich hinter schweren Eisentüren und im Dämmerlicht der Antidepressiva verborgen hielt. Und mit jedem Aufflackern des Diaprojektors, mit jedem Lichtblitz, den das Bilderzeugungsgerät auf die kalkweiße, meterhohe Wand gegenüber den steil aufsteigenden Sitzreihen der Studenten abgab, wurde mehr von jener romantischen Hoffnung ausgelöscht, die sich noch irgendwo in einem fest verschlossenen Herzen verborgen gehalten haben mochte.

Inmitten dieses Grauens des Entmystifizierenden und des Ikonenlosen, fiel eines Tages jenes Bild, das mich mit einem Mal wie aus einem Traum aufwachen ließ.
Es war Tommi; degradiert zum Präzedenzfall und Ausstellungsstück im Horrorkabinett eiseskalter Wissenschaftlichkeit; nackt, illusionslos und weder mit Scham, noch mit Schrecken vorgestellt. Ein junger Mann mit einer besonderen Form der atopischen Dermatitis, bei der der Körper das eigene Hautgewebe förmlich auffraß.

Auf seine Weise war er einzigartig, ein Ausstellungsstück ähnlich dem Elefantenmenschen. Sein Gesicht bedeckte ein Atemgerät, sein Brustkorb war wie ein Ballon aufgeschwollen; die Lungen hatten um das dreifache vergrößert werden müssen, die Rippen gebrochen, damit der Sauerstoffverlust der Haut kompensiert werden konnte.

Und so zeigte sich mir das Grauen mit seiner ganzen ungeschminkten Maske. Tommi war jenseits all dessen, was Mensch war. Und ich glaube, ich wünschte ihn tot; hoffte darauf, als ich im immer noch elektrisierten Durcheinander nach Vorlesungsende zum Pult trat, wo eben noch Tommis Abbild über die Wand jenseits der Seitzreihen geflackert war.
„Der Junge“, sprach ich mit gleicher zitternder Stimme, „wissen Sie, was mit ihm geschehen ist?“
Der Professor ordnete seine Papiere und versuchte sich keine Miene anmerken zu lassen.
„Ist verschwunden“, sagte er, während sich seine Zähne bleckend zu einem freundlichen Grinsen aus dem offenen Maul herausstülpten.
„Verschwunden?“, fragte ich.
Über den schmalen Rand seiner Brillengläser hinweg sah ich, wie mich sein Blick einen Moment lang durchdringend und wie mit Röntgenstrahlen erforschend beäugten, als müsse er in meiner Frage ein tiefer gehendes psychologisches Problem ergründen, das es auf der Stelle zu ergründen galt.
„Seine Eltern haben vor einigen Jahren eine Unterlassungsklage erwirkt“, antwortete er trocken, nachdem er in meinen Augen offensichtlich nur jugendlichen Forscherdrang zu entdecken glaubte.
„Chaotische Zeiten waren das“, sagte er. Er griff einen Aktenordner und drängelte ihn in eine Ledertasche.
„Zum Glück ändert sich das gerade wieder. Wir müssen nach vorne schauen“, und er lugte über den Rand seiner Brille zu mir herüber.
„Was wir heute erforschen, junger Freund, kann morgen schon Ihr Leben retten.“ Sein Gesicht hatte den Ausdruck einer wilden Bestie angenommen, die im Begriff war, sich in meine Gedanken wie in einen lebendigen Magensack zu wühlen, und seine Augen funkelten unaufhörlich, als ob sich dahinter ein ewiges, unstillbar hungriges Feuer verberge. Ein Feuer, das jeden trockenen Halm und jedes Stück Holz verzehren würde, sobald es in seine Reichweite kam.
Ich nickte und zweifelte keinen Augenblick daran, dass sich hinter seinen Worten ein tragisches, wenn nicht sogar bestialisches Geheimnis verbarg. Ein Geheimnis, das nur der Junge auf den schrecklichen Diabildern bis in die abgründigsten Tiefen erfahren hatte.

Tommi aber war tot, aufgefressen und erstickt.
So dachte ich jedenfalls.
Das war ein Irrtum, wie ich feststellen sollte.
Erst aber einmal kamen die Träume zurück und sie waren schrecklicher als jemals zuvor.

Und so wurde Tommi zu meinem Begleiter, einem unfreiwilligen aber nicht herzlosen Freund meiner Träume. So oft ich auch schreiend erwachte, konnte ich mich an keinen Traum erinnern, in dem er mir je Böses gewollt hätte, Hand an mich gelegt oder Schlimmeres. Nein, er blieb ein Schreckensgespenst auf Distanz, mit kindlicher Nächstenliebe immerwährend einige Schritte entfernt stehend; in einem Schatten, mir zuflüsternd:
„Ich komme heut nicht raus zum Spielen.“

Komm doch!“, rief ich ihm zu.
Und er kam.
Und ich erwachte.

Bald packten mich wieder die längst vergessenen Allüren der Kindheit; ich hatte ein Tommi-Kissen, von dem ich immer wieder hoffnungsvoll annahm, wenn ich auf ihm schliefe, würde ich nicht von ihm träumen. Aber ähnlich wie ein Kind, schrieb ich diese Eigenschaft vielen verschiedenen Kissen zu und wechselte sie notgedrungen nach jeder nächtlichen Enttäuschung.


Heute glaube ich, ich wäre mit meinen Träumen und Tommi ziemlich glücklich geworden; auf eine gewisse Art. So wie eine Mutter glücklich werden kann bei dem Gedanken, dass ihr ungeborener Fötus zu keinem schwermütigen Gedanken fähig sein wird und kein Leid auf dieser Welt wird erfahren müssen. Tommis Allgegenwart aber hatte mein Leben beeinflusst, darüber war ich mir im Klaren. Ich hatte das Psychologiestudium abgebrochen, ohne mich ganz von Tommis Spezialgebiet zu entfernen. Ich hatte die allgemeine Medizin zu meinem persönlichen Feind erklärt und war dabei nicht allein. Auf einem Symposium für homöopathische Heilmethoden stieß ich auf ein Pärchen, das es sich in den Sinn gesetzt hatte, die Welt um eine Zeitschrift für alternative und ganzheitliche Medizin zu bereichern; ein buntes Pausenblatt für die Frau. Wir lachten darüber, weil sich die Zielgruppe tatsächlich ziemlich genau eingrenzen ließ.

Aber die Sache hatte Pfiff und nach ein paar ernsthafteren Gesprächen stießen wir auf die Idee für einen Monatsturnus, der sich im Speziellen mit jenen Menschen beschäftigen sollte, die ähnlich wie Tommi, die Grausamkeit der allgemeinen Medizin am eigenen Leib erfahren hatten.

Ob ich von Anfang an über Tommi schreiben wollte?

Ich glaube, ich schrieb immer über Tommi, ob ich an einem Grab stand und mir Notizen machte, einen anrüchigen Arzt fotografierte, wie er sich theatralisch von mir abwandte, oder ob es ein langer Nachmittag an einem Krankenbett war, in dem ein kleines Mädchen mit einem Kunststoffstift zwischen den Zähnen die Tastatur eines Labtops bediente. Tommi war allgegenwärtig. Tommi war in jedem Gesicht und jedem Wort, das ich schrieb.

Und schließlich fiel Tommis Bild ein zweites Mal in meine Hände. Es war eben jenes groteske Dia, das ich damals im Grundkurs für Neurobiologie zu Gesicht bekommen hatte; diesmal eine digitale Bearbeitung, ausgedruckt und noch feucht von der Druckerschwärze, ineinander gerollt wie eine Depesche aus der Vergangenheit.
Und sie führte mich eben zurück an jenen Ort, an dem ich Tommi zum ersten Mal begegnet war.


Als ich vor dem Haus in der Gasse meiner Kindheit stehe, überkommt mich ein Schauer und geradezu zwanghaft suche ich den Boden nach einem tanzenden Kreisel ab. Das Hoftor steht geschlossen da. Jemand hat mit einem spitzen Gegenstand versucht, das Namensschild über dem Briefschlitz zu entfernen. Mit der flachen Hand schirme ich das steil einfallende Sonnenlicht von meinen Augen ab. Ein schrilles Kinderlachen lässt mich erzittern und ich sehe mich um und vom Straßenende betrachten mich misstrauische Kinderaugen.
Die großen Schulranzen sitzen den Kindern hoch auf den Schultern und lassen die Gestalten kräftig und machtvoll erscheinen. Sie schleudern ihre Turnbeutel durch die Luft und die kleinen Säcke prallen wie zu runden Kugeln aufgeblasene Katzenleiber von den Masten der Laternen ab und wirbeln über ihre Köpfe. Dann sind sie hinter der Häuserecke verschwunden.

Als ich mich zurückdrehe, bestürmt mich das gähnend schwarze Maul des plötzlich offenen Hoftores. Kein Laut, kein leises Winseln von ungeölten, rostigen Scharnieren hat mich davor gewarnt – es stülpt sich mir mit seiner doppelt verschatteten Schwärze über.
„Sie sind von dieser Zeitung, nicht wahr?“, fragt Tommis Mutter und nimmt mich mit festem Griff beim Oberarm. So hat sie damals Tommi in die Poliklinik geführt, denke ich. Wir haben miteinander telefoniert, sage ich. Sie nickt. So schwermütig und mutlos, dass ich Angst habe, der Kopf könne ihr abknicken und auf dem Boden aufschlagen. Ich frage mich ob sie gelitten hat. Wie viel und wie oft. Ich denke tausend Mal. Tausend mal tausend Mal. Ich lese es in ihren Augen. Dann aber sind wir schon fort. Wir sind im Haus, steigen Treppen empor, kommen durch eine Küche, über eine Terrasse und sind bald tief in dem Backsteingemäuer, das trotz der Mittagshitze in kaltem Schatten vor sich hin träumt.
Wir sitzen um einen Tisch, auf dem sich Pappschachteln stapeln, aus denen Erinnerungen in Aqua-Color herausquellen. Die schiere Wucht von angehäufter Vergangenheit droht mich zu erschlagen. Ich schaffe es gerade noch, ein Aufnahmegerät in Gang zu bringen. Der Mechanismus leiert das Magnetband mit ungerührter Gleichgültigkeit von einer Seite zur anderen, während die Frau redet und durch meine Hände Hunderte von Schreckenerregenden Bildern wandern. Eines der Bilder bleibt mir für einen Augenblick in Erinnerung; darauf ist ein Junge ohne Haut zu sehen, dem ein Arzt eine Geburtstagskrone über den Kopf hält, außerdem Blumensträuße um ihn herum, wie an einem Grab. Ich sehe das Bild lange an, bis es mir entgleitet und ich gleich einen ganzen Satz von Photos nachgereicht bekomme.

Ich bin wie geschlagen. Ich stürze fast, habe das Gefühl mich in dem Haus zu verlaufen. Ich haste der Frau voraus, komme ans Tor, reiße es atemlos auf und stehe endlich wieder im Licht.
Es ist heiß, doch mich fröstelt noch.
„Ich kenne einen guten Psychologen“, stammele ich zum Abschied.
Sie starrt mich aus dem Schatten des Hauses geradewegs an.
„Sie werden ihn brauchen“, flüstert sie und schließt das Tor.

Da stehe ich; die Mittagshitze vernebelt meinen Verstand. Mir ist schwindelig.
Ich bin ein Kreisel. An meinem Wagen komme ich, alles in mir drehend, zum Stehen. Aus dem Handschuhfach klaube ich eine winzige Dose mit Pillen, versuche mit feuchtem Zeigefinger eine heraus zu fischen, um sie mir unter die Zunge zu legen.
Dann schütte ich mir den Inhalt der Dose in den Rachen…

Ich war der Überzeugung gewesen, dass Tommi tot war. Das war ich schon einige Male gewesen und jedes Mal hatte er sich mir in die Gegenwart entzogen. Das letzte greifbare Zeugnis seiner Existenz war eine Märzausgabe einer Monatszeitschrift für Dermatologie aus der Mitte der Neunziger. Es handelte sich dabei um einen Beitrag eben jenes Professors für Neurobiologie, der noch einmal einen Nachruf auf den Jungen ohne Haut verfasst hatte. Schwarz in schwarz thronte über dem Text ein Bild von Tommi, als ein in die Schattenwelt zurückgezogenes Monstrum, dessen Augen als weiße Punkte gerade noch zu erkennen waren.

Die Eiseskälte, mit der der Arzt den Zustand des Jungen beschrieb, ist für mich bis heute der Höhepunkt menschlicher Teilnahmslosigkeit. Ein Herz, eingemauert in Stein, so kam es mir vor, musste in seiner Brust geschlagen haben, als er diesen Text ohne jeden Ausdruck von Mitleid und Scham verfasst hatte.
Tommi war seinen Worten zufolge weniger als ein Mensch und doch ein Mensch um so vieles mehr. Die Krankheit hatte ihn nicht nur dem Anblick nach zu einem außergewöhnlichen Wesen gemacht, sondern auch tiefgreifend auf seine Hirn- und Körperfunktionen Einfluss genommen. Abgesehen davon, dass die keimfreie Absonderung des Patienten im eigentlichen Sinne unnötig war, hatte die erhöhte Produktion des Neurotransmitters Histamin, die bei normaler Neurodermitis weit weniger stark in Erscheinung tritt, Tommis Lernfähigkeit auf ein außergewöhnliches Niveau gesteigert. Die überdurchschnittliche Sauerstoffaufnahme machte eine ständige Körperfixierung und Sedierung erforderlich; die Menge der dabei verabreichten Beruhigungsmittel überstieg oft gängige für möglich gehaltene Dosen. Durch das Fehlen einer schützenden Pigmentschicht hatte Tommi jahrelang im Dunkeln leben müssen. Seine Augen hatten nachtaktive Eigenschaften angenommen. Allein das Fehlen jeglicher Schweißporen brachte Tommi immer wieder in lebensbedrohliche Zustände, wenn der Körper durch Bewegung oder Aufregung überhitzte und die inneren Organe, ähnlich wie bei einem Fieberanfall, zu verbrennen drohten.

Eines noch muss ich erwähnen. Die zersetzende Eigenschaft seines Körpers; eigentlich war es die Unterhaut, die Subcutis, die diesen schrecklichen Einfluss ausübte; blieb über all die Jahre, die er sich unter ärztlicher Aufsicht befand, erhalten.
Jede Transplantation erwies sich schon nach wenigen Wochen als Misserfolg.
Tommis Körper fraß.
Und nichts konnte diesen Hunger jemals stillen.

Ich bin unterwegs. Ich fliehe vor der Vergangenheit in die Gegenwart, die sich, nur eine Straßenbiegung entfernt, vor mir verborgen hält. Allein das Morgen ist Äonen entfernt und ich liege immer einen Schritt zurück, hinter dem Jetzt, dass mir vorauseilt. Wie schnell ich auch fahre, wie halsbrecherisch ich in jede Kurve, deren Dahinter mir der dichte Nachtwald verstellt, hinein stürze, ich kann der Vergangenheit nicht entkommen;
ich kann Tommi nicht entkommen.
Dann sehe ich ihn plötzlich, ganz ohne Haut, vor mir auf den Straßenbelag staksen und taumeln. Das Fernlicht erfasst ihn. Erstarrt bleibt er mitten auf der Landstraße stehen. Ich rase auf ihn zu; ich reiße am Lenkrad, schleudere. Mit dem Heck schlage ich in ihn und bin in Sekundenbruchteilen an ihm vorüber.

Ich wanke wie ein Betrunkener über die schwarzen Male meiner eigenen Bremsspuren. Das Auto selbst scheint zu kochen und Wolken von verbranntem Gummi steigen darüber auf.
„Tommi?“, flüstere ich und haste auf das hautlose Ding zu, das über den Asphalt kriecht.
Neben mir stürzt ein Mann mit einem Jagdgewehr auf die Straße. Er packt mich bei der Schulter.
„Sind Sie OK?“
Seine Augen zucken zwischen mir und dem kriechenden Ding hin und her.
„Das hab ich ja überhaupt noch nicht erlebt!“, stößt er atemlos hervor. „Ich hat´s schon tot, verstehen Sie? Saubere Sache; ein Schuss; liegt da und rührt sich nicht mehr und nachdem ich die Haut runter hab, geht mir das Vieh doch glatt wie ein Karpfen durch!“
„Geben Sie mir das Gewehr!“, sage ich. Das Tier schleppt sich, immer noch lautlos, zum Waldrand hin.
Ich renne hinzu;
sehe das Tier in seinem ständig fließenden Blut. Es kämpft…

Dann drücke ich ab, und das Schrot gräbt sich zu meinen Füßen in den schwarzen Untergrund. Der Schuss lässt mich für einen Augenblick taub zurück.
Eine Hand legt sich mir auf die Schulter:
„Mannomann“, höre ich aus wenigen Zentimetern weit entfernt,
„das haben Sie richtig gemacht; quält sich eh nur; dann lieber tot, gleich hier.“
„Seien Sie ruhig!“, sage ich angewidert. Ich wende mich ab und gehe zurück zum Wagen. Der Mann rennt mir nach und ruft mir etwas zu, aber ich bin schon zu weit vom Jetzt entfernt.
Erst Kilometer entfernt stelle ich fest, dass das Gewehr neben mir auf dem Beifahrersitz liegt.

Tommi lebt. Ich bin jetzt mehr davon überzeugt, als je zuvor. Entgegen aller Logik, entgegen allem, was sich meinem Gefühl entgegen stellen will. Er ist dort draußen im Dunkel und wie auf dem Bild in jener Monatszeitschrift für Dermatologie, starren mich seine weißen Augen aus diesem Dunkel heraus an.
„Ich kann heute nicht zum Spielen heraus kommen“, flüstert er mir zu.
„Komm doch!“, rufe ich und greife in das Dunkel hinein.

„Komm…“

Ich erwachte Schweißgebadet; das Gewehr auf den Knien. Ich war nun ganz in der Vergangenheit und hatte jeden Bezug zum Jetzt verloren. Nichts konnte mich aus dieser Gegenwart erreichen.
Ich war… hier.
Ich atmete… jetzt.
Und ich handelte…
in diesem Augenblick.

Langsam fuhr ich den Wagen an die Schranke zur medizinischen Fakultät heran, kurbelte das Fenster herunter und gab dem Sicherheitsmann meinen Presseausweis.
„Haben Sie einen Termin bei dem Professor?“, fragt mich der Mann in Uniform.
„Rufen Sie ihn an“, sagte ich, ganz überzeugt davon, dass es so sei.
Die Schranke hebt sich…
…und ich fuhr geradewegs an jenen Ort, an dem Tommis Vergangenheit allgegenwärtig war.

Hier würde ich ihm begegnen.
Die Tür zum Labor öffnete sich und ich stieg ein in einen Wald aus Plastikplanen, die von der Decke hingen und hinter denen es milchig schimmerte. Es roch nach nichts, nicht einmal der Gestank meiner eigenen Angst wollte diesen keimfreien und geschmacklosen Sumpf durchdringen. Die Separees der ineinander verschlungenen und aneinander geschweißten Plastikräume führten mich mit jedem Spalt, den ich durchschritt, tiefer und tiefer zu jener Vergangenheit zurück, in der ich so eng und unzertrennlich mit Tommi verbunden gewesen war.
Ich hatte einen Reißverschluss nach dem anderen aufgezogen…
Ich war noch tiefer und unmittelbarer von einer Vergangenheitsschicht in eine noch entlegenere vorgedrungen…


…und dann sah ich ihn dort sitzen, auf einem Stuhl, vor einem Spiegel, sich selbst mit Entsetzen anstarrend. Die Augen lidlos, die Zähne in einer Reihe ungeschönt aus dem blutroten Kiefer herausragend.
„Tommi“, flüsterte ich.
„Tommi…“
Und ich wusste, dass wenn ich ihn berührte, wenn ich ihm wieder so nah war, wie in meinen Träumen, so nah, wie vor dreißig Jahren, dann wäre ich wieder hier.
Dann bin ich hier.

Der Körper sackt leblos unter meiner Berührung zur Seite.
Ich will schreien; ich will ihn an den blutigen Schultern packen und hochreißen; wie eine schwere Flickenpuppe hängt er mir in den Armen.

»Tommi!«

»Er ist tot«, höre ich Tommis Stimme hinter mir und ich sehe in den Spiegel und sehe den Professor für Neurobiologie, der mit einem Skalpell in der Hand auf mich zu kommt und liebevoll lächelt.
»Du hast mich gefunden«, sagt er, den Kopf nachdenklich zur Seite gelegt.
„Hast du mich auch gesucht?“
Ich frage mich, was ich ihm antworten könnte. Hatte ich ihn tatsächlich gesucht? Oder hatte er nicht in Wahrheit mich gesucht. Und mich schlussendlich hier an diesem grauenvollen Ort gefunden. Das, was der Professor war, gleitet mir aus den Händen.
„Was hast du getan?“, frage ich atemlos.
Tommi scheint in Gedanken versunken.
„Was ich getan habe?“ Er schmeckt diese Frage, so wie man ein gutes Stück Fleisch schmeckt, kurz nachdem man es angeschnitten hat. Auch mir kommt die Frage angesichts seiner irrsinnigen Maskerade unsinnig, ja fast wahnsinnig vor.
„Du hattest Hunger…“, stelle ich fest. Mein Hals ist so trocken, dass ich kein weiteres Wort heraus bringe.
Tommis Lippen beginnen zu zittern.
„Du kannst dir nicht vorstellen, wie hungrig ich war“, flüstert er. „Ich wurde fast irrsinnig vor Hunger. Ich habe mich von Ratten ernährt. Unten in der Kanalisation. Ihnen die Haut abgezogen und sie mir einverleibt. So hungrig war ich.“
Er spuckt auf den Boden.
„Aber dann hatte ich genug davon“, zischt er.
„Ich wollte nie wieder hungrig sein!“
Ich stolpere auf ihn zu; da verrutscht ihm die Haut über dem Gesicht und ich starre auf einen Teil seinen dunkelroten Fleisches.
»Sie werden dich finden«, bricht es atemlos aus mir heraus. »Sie werden dich finden und dich ein Monster nennen.«
Tommis Gelächter ist kalt und schroff.
»Aber ich bin ein Monster«, sagt er, nicht ohne dabei stolz und wild zugleich zu klingen. »Wenn ich diese Haut in einigen Tagen verzehrt haben werde, dann werde ich wieder nur der Mann ohne Haut sein. Oder ein Monster, wie die Menschen sagen würden.«

»Aber du könntest mehr sein, als das«, sage ich laut.

»Was könnte ich noch mehr sein?!«, sagt er.

Und ich schweige. Was könnte ich sonst tun?

Tommi nickt.
„Jetzt schweigst du“, sagt er. „Und dabei kennst du die Wahrheit genau wie ich.“
Seine Augen beginnen zu funkeln.
„Als ich aus der Kanalisation an die Oberfläche kroch, da war mein Hunger so groß, dass ich alles gefressen hätte. Ich hätte selbst einem unschuldigen Kind mit diesen Fingernägeln die Haut abgerissen, um sie mir auf das Gesicht zu legen. Ich war verrückt vor Hunger.“ Er betrachtet seine Hände wie Mordwerkzeuge.
Und schaut mir grade und kalt ins Gesicht.
“Aber dann kam mir ein Gedanke“, sagt er. „Und ich dachte, mein Gott, wer um alles in der Welt hatte mir diesen makellosen Kristall an Wahrheit vorenthalten? Wie war es dazu gekommen, dass ich mit all dem Wissen, dass mir zur Verfügung stand, nicht in der Lage gewesen war, das Naheliegenste in Betracht zu ziehen? Nämlich dass die Welt in Wahrheit ein frisch gedeckter Tisch ist, an dem ich nur zuzugreifen brauchte, um mir das weiße zwischen dem dunklen Fleisch herauszupicken. Weshalb sollte ich mich dazu entscheiden, die Unschuldigen zum Opfer meines unstillbaren Hungers werden zu lassen? Was war mit jenen, die nicht Unschuldig waren? Was mit jenen, die sogar prahlerisch mit ihren Untaten die Öffentlichkeit aufsuchen, als wollten sie sich mir zum Geschenk machen? Meinst du, dass sie, wenn ich einmal quer durch ihren Reihen geschritten bin, um mich an ihnen satt zu essen, noch immer die Öffentlichkeit suchen werden, um mit ihren Verbrechen hausieren zu gehen?“

Ich schaute ihn an. Und ich sah in seinen Augen, dass nichts von dem, was er gesagt hatte, reine Hypothese oder unmögliche Phantasterei war. Urplötzlich überraschte ich mich dabei, dass ich zu glauben begann. Und ich sah ein Bild von der Welt vor meinem inneren Auge, das leer gefegt war von jenen, die ich in all den Jahren verfolgt und mehr schlecht als recht ihrer wahren Bestimmung zugeführt hatte. Tommi hingegen würde nicht an der Haustür stehen bleiben, so wie ich es getan hatte. Er würde die Tür aufbrechen, oder durch ein Rohr, das gerade dick genug war, dass er seinen Oberkörper hindurch zwängen konnte, aus der Kanalisation in das Innere gelangen und Gericht über diejenigen halten, die ich bisher nur mit Worten hatte erreichen können. Kein Gericht, keine bestochenen Zeugen würden das Urteil, das Tommi über sie aussprechen würde verwässern oder rückgängig machen können. Und mir kam ein Gedanke, der so wahnsinnig und verrückt war, dass ich vor ihm zurück schreckte, bis ich spürte, dass er eine Wahrheit beinhaltete, die ebenso kristallen und makellos war, wie die, von der Tommi gesprochen hatte.

War es nicht die Natur selbst, die dieses Monster in die Welt gesetzt hatte? Und war es nicht ein ganz gewöhnlicher evolutionärer Akt, dem ich rein zufällig beiwohnte, ohne mir bisher über die weitreichenden sozialen und genetischen Folgen im Klaren gewesen zu sein? Als ob Gott sich endlich entschlossen hätte, die Menschheit mit einem Gewissen auszustatten, war Tommi auf diese Welt gebracht worden und hatte seine eigenen, instinktiven Schlüsse aus seiner Existenz gezogen.
Wer also war ich, dass ich diesem Ersten seiner Art das Recht absprechen wollte, seine Bestimmung zu suchen?

„Wie erkennst du sie?“, fragte ich leise. Fast so leise, dass ich mich unwillkürlich fragte, ob er mich verstanden hatte.
Tommi wich zurück. Als ob es eine Frage gewesen wäre, auf die er gewartet hatte. Auf die er ewig gewartet hatte. Der Schatten, vor dem er hell und leuchtend wie ein Engel gestanden hatte, fing an, ihn zu verschlucken.
„Am Geruch“, flüsterte er, während er schemenhaft in das Dunkel eintauchte. Millimeter für Millimeter in dem Schatten verschwindend.
„Stell dir den schlimmsten Geruch vor, den du kennst“, raunte er.

„Wie in einer Fekaliengrube…“


Ich sah nur noch seine Augen, die in der Dunkelheit wie Sternenlichter funkelten.

„Oder wie ein Kadaver, der wochenlang in einem Schuppen vermodert …“
Dann sah ich auch seine Augen nicht mehr. Ich hörte nur noch seine Stimme, die aus den Lüftungsschächten über mir drang, als wäre Tommi schon hunderte Meter weit in dem riesigen Komplex verschwunden.

„Ich kann sie riechen“, hörte ich es leise flüstern.

„…sie riechen.“
„…sie riechen.“


Ich bin ganz still, als der Mann ohne Haut wie ein Echo seiner selbst in der Dunkelheit verschwunden ist. Die Gedanken, die ich hatte, haben sich in mir eingenistet wie ein Virus, der jetzt damit begonnen hat, mein Innerstes Zelle für Zelle umzugestalten, um aus mir einen anderen, einen besseren Menschen zu kreieren. Als hätte sich eine neue Zeit in mir den Inkubus gesucht, von dem aus sie sich jetzt in die Welt fortpflanzen wollte. Ein neues Zeitalter erschaffend.
Ein Zeitalter der inneren Reinigung.

Aber zuerst muß ich etwas anderes reinigen. Ich muß Ordnung schaffen an diesem Ort, den Tommi wie einen Saustall zurück gelassen hat. Er weiß nicht, wie wichtig Ordnung ist, wenn man ein so großes Tagwerk zu Ende bringen will, wie er es, oder wie es nun durch ihn begonnen wurde. Er ist der allmächtige Künstler, der mit seinen Farben und seinen Pinseln von Raum zu Raum und von Haus zu Haus schreitet, um seine riesigen, schattenhaften Gemälde auf den blanken Beton zu werfen. Ich hingegen bin nur ein unwürdiger Zeuge seines nachtwandlerischen Schaffens. Bild für Bild erweckt er das Grauen und ich verneige mich hiermit vor seiner weltenverändernden Allmacht.

Ich weiß, dass ich von nun an in seiner Nähe bleiben werde. Am Rande der Schattenstraßen lebend, auf denen er die Welt bereist und die sich überall verzweigen, wo Dunkelheit herrscht. Die sich jede Nacht neu über die Städte und Länder ausbreiten, wie Autobahnen, auf denen er rasend schnell an jeden Ort und jedes Versteck gelangt. Dreidemensional breitet sich dieses Geflecht aus Trassen und Bahnen über die Erde und jede Wand, die ein flackerndes Licht verstellt, erschafft einen neuen Weg, einen neuen Eingang in die Dunkelheit.
Ich aber wähle das Licht. Und ich bringe Ordnung in das Chaos, das er mir vorauseilend, hinterlässt. Und der Tag wird kommen, wo ich seine Opfer hoch an den Himmel nageln werde, damit alle Welt sie sehen kann. Als sein Zeichen, die abgezogenen Leiber derjenigen, die er für seinen Hunger als rechtmäßige Kost auserwählt hat.

Bis dahin aber hülle ich ihn in Schweigen und decke den Mantel des Vergessens über seine Opfer. Sie werden verschwinden, sich auflösen wie ein flüchtiges Gas, das von einem lauen Sommerwind davon getragen wird und sich in der Weite der Nacht verliert.
Sie werden sie nicht finden. So wie sie den Professor für Neurobiologie nicht finden werden, der als armseliger Haufen durch meine Hand in einen Behälter mit Schwefelsäure gleitet. Die Restnerven wehren sich gegen das Verschwinden. Die Beine und Arme trommeln gegen das Behältnis. Wie ein lautloser Schrei steigt ein schaumiges Gemisch aus der brodelnden Flüssigkeit herauf und schwängert die Luft zwischen den Plastikplanen, die aufgeregt zu knistern und zu flüstern beginnen. Als wären es die Stimmen der Unzähligen, die hinter ihren milchigen Rockschößen zu wispern begonnen hätten.
So als riefen sie ihn.
Flüsternd, wispernd.
Als hätten sie ihn erwartet.

***

Wenn ich heute höre, dass einer verschwunden ist und nicht mehr da ist, wenn einer weggegangen ist und keiner weiß wohin, wenn ich höre, dass er einer von diesen Ärzten war oder einer, der daran verdient hat, dass Kinder sich die Haut herunterkratzen, dass sie im Frühling nicht draußen spielen dürfen, weil sie ersticken, wenn ich höre, dass einer von denen Gift in die Flüsse geleitet hat, dass er experimentiert hat und Gewinne gemacht hat und Ruhm daraus gezogen hat
und dass er nun nicht mehr aufzufinden ist,
dann…

…dachte ich immer an Tommi und sah vor meinem inneren Auge einen Kreisel, der sich nicht aufhören wollte zu drehen.
Er war nur ein Schatten; nur eine Erinnerung…

…aber er ist da draußen…

…in der Dunkelheit…
 
Manche Geschichten lassen einen einfach nicht los (vor allem, wenn man ins Stöbern kommt). Man möchte sie am liebsten überarbeiten - wieder und wieder, und wenn man fertig ist und sagt, so muß sie sein, liest man sie drei Jahre später noch einmal und setzt sich wieder ran.
Subcutis ist so eine Geschichte. Sie ist in meinem Kopf - ich liebe sie, ich liebe Tommi. Und wer weiß, vielleicht bekommt er irgendwann mal mehr Platz auf dem Papier.

Jedenfalls, wenn er zurück kommen sollte,
von dort, wo er jetzt ist ...





Subcutis


Ich glaubte nie, dass ich Tommi jemals wieder sehen würde, sage ich. Und ich denke, das glaubte damals niemand.

Wie kann ich die Geschichte anders beginnen als mit dem ersten Satz, der sich mir bis heute eingeprägt hat. Dieser Satz, der meinem kindlichen Gemüt so fern lag, dass ich mich erst Jahre später zu ihm empor kämpfen konnte:

»Ich glaube, er frisst sich die Haut auf.«

Es mag wohl sein, dass ich lange vergessen habe, wer mir das, ranzenbepackt und mit Sportbeutel über der Schulter, zugeflüstert hatte. Wie so oft sind die Kindheitserinnerungen wie ein großes, weites Meer aus dem die Träume jener Tage wie schiffbrüchige Kähne aus der Versenkung emporsteigen und ihre zerrissenen Segel zeigen. Der Junge mit der schorfigen Haut aber ist ein Fels in dieser Brandung, den dieses Meer nur wenige Jahre verschluckt hielt, bis er schließlich wieder schrecklich schön von meinen Gedanken umspült wurde.

Alles an ihm war, soweit ich weiß, ein Geheimnis, das wir teilten und das sich umso einfacher miteinander teilen ließ, weil es ein Geheimnis blieb. Tommi redete nicht viel, Tommi kratzte sich nur und er warf den Kreisel so geschickt auf den Bürgersteig, dass unser kindliches Gelächter über die Schönheit dieses kleinen, tanzenden Dinges mehr Worte austauschte, als das mit dem begrenzten Wortschatz jener jungen Tage möglich gewesen wäre. Es war ein Dahingleiten im wortleeren Raum, ganz versenkt in das Spiel und ganz versenkt in den Traum einer unversehrten Kindheit. Wäre sie nicht von jenem verhängnisvollen Satz bedroht worden, der wie ein Echo aus der Düsternis der Dorfgassen heraufgellte.

„Er frisst sich die Haut auf.
Er frisst sich die Haut auf.“

Was diese schrecklichen Worte bedeuteten, sollte ich viel zu früh und nicht erst später in der apathischen Melancholie des Erwachsenseins herausfinden. Wir warfen wie immer den Kreisel. Ein kleines Stück gedrechselten Holzes, das vor unseren Augen um die eigene Achse wirbelte.
Auf dem Vorplatz der Polyklinik.
Dort, wo ich Tommi das letzte Mal sah.

»Mein Körper frisst meine Haut auf«, sagt Tommi plötzlich und unerwartet, während ich den Kreisel von den Stufen aufklaube.
„Das ist eine Lüge!“, protestiere ich.
„Es ist keine Lüge“, antwortet er seelenruhig, sich in Gedanken die Hautschuppen von den Oberarmen reibend. Und ich weiß, dass es keine Lüge ist, so wie es die Kinder aus der Nachbarschaft wissen, die uns manchmal mit Steinen bewaffnet verfolgt haben und im Dunkel gelauert. Wie Partisanen, die ihre Handgranaten in einem unbeobachteten Augenblick auf deutsche Panzer schleuderten.
»Musst du jetzt weggehen?«, frage ich. Tommi duckt sich. Fast genauso, wie unter den über uns hinweg pfeifenden Handgranaten der Partisanen. Aus Angst, denke ich. Aber dann sehe ich, wie er mit seinen Vorderzähnen an seinem Handgelenk schabt.

Ich habe das Bild bis heute nicht vergessen. Wie er sich die Haut ähnlich einer dünnen Plastikfolie von den Unterarmen zu nagen begann.
Bis tief in das Gewebe. Bis auf´s Blut.
Es verfolgt mich bis in meine Träume.

Es war der Plenarsaal der medizinischen Universität, in dem ich Tommi und den vergessenen Erinnerungen wieder begegnen sollte. Möglich, dass mich etwas, das tief in meiner Seele schwelte, dorthin drängte. Als ob ein Faden in mir sich danach sehnte, wieder mit seinem abgetrennten Ende verbunden zu werden. Eine Sehnsucht vielleicht, die so abgrundtief in mir verborgen war, dass sie bis heute nicht den Weg in mein Bewusstsein finden will. Als hätte sich ein Vorhang vor meine Gedanken gewälzt, hinter dem sich ein schreckliches Theater auf seine Premiere vorbereitete.


Die Vorlesung, durch die sich Tommi wieder in mein Leben drängen sollte, war eine jener pädagogischen Grundlagenveranstaltungen, in denen die jungen Studenten noch nicht ganz die Hoffnung auf ein mythisches Dahinter und ungeträumtes Morgen aufgegeben hatten. Und doch waren sie auf dem besten Wege, beschnitten und Stück für Stück ihrer Zuversicht und ihres Mutes beraubt zu werden, bis nur noch die leere trostlose Hülle zurück bleiben würde. Eine Hülle, die die Professoren eimerweise mit ihren stinkenden Formeln und Phrasen befüllten, bis sich kein Winkel mehr in dem Gemäuer aus gedrungenem Fleisch und eingepferchten Gedanken finden ließ. Wie das ungemolkene Euter einer unversehens zurück gelassenen Milchkuh. Dem fremdbestimmten Schicksal auf Gedeih und Verderb ausgeliefert.

Fast schien es ein dunkles Bekenntnis zu sein, dass der Professor für Neurobiologie nur die außergewöhnlichsten und düstersten Präzedenzfälle aus dem angeschlossenen Klinikum in die Vorlesung trug. In seinem Aktenkoffer residierten die kleinen Lichtbildträger wie Zeugnisse einer allgegenwärtigen Schattenwelt, einer krankhaften Welt, die sich hinter schweren Eisentüren und im Dämmerlicht der Antidepressiva verborgen hielt. Und mit jedem Aufflackern des Diaprojektors, mit jedem Lichtblitz, den das Bilderzeugungsgerät auf die kalkweiße, meterhohe Wand gegenüber den steil aufsteigenden Sitzreihen der Studenten abgab, wurde mehr von jener romantischen Hoffnung ausgelöscht, die sich noch irgendwo in einem fest verschlossenen Herzen verborgen gehalten haben mochte.

Inmitten dieses Grauens des Entmystifizierenden und des Ikonenlosen, fiel eines Tages jenes Bild, das mich mit einem Mal wie aus einem Traum aufwachen ließ.
Es war Tommi; degradiert zum Präzedenzfall und Ausstellungsstück im Horrorkabinett eiseskalter Wissenschaftlichkeit; nackt, illusionslos und weder mit Scham, noch mit Schrecken vorgestellt. Ein junger Mann mit einer besonderen Form der atopischen Dermatitis, bei der der Körper das eigene Hautgewebe förmlich auffraß.

Auf seine Weise war er einzigartig, ein Ausstellungsstück ähnlich dem Elefantenmenschen. Sein Gesicht bedeckte ein Atemgerät, sein Brustkorb war wie ein Ballon aufgeschwollen; die Lungen hatten um das dreifache vergrößert werden müssen, die Rippen gebrochen, damit der Sauerstoffverlust der Haut kompensiert werden konnte.

Und so zeigte sich mir das Grauen mit seiner ganzen ungeschminkten Maske. Tommi war jenseits all dessen, was Mensch war. Und ich glaube, ich wünschte ihn tot; hoffte darauf, als ich im immer noch elektrisierten Durcheinander nach Vorlesungsende zum Pult trat, wo eben noch Tommis Abbild über die Wand jenseits der Seitzreihen geflackert war.
„Der Junge“, sprach ich mit gleicher zitternder Stimme, „wissen Sie, was mit ihm geschehen ist?“
Der Professor ordnete seine Papiere und versuchte sich keine Miene anmerken zu lassen.
„Ist verschwunden“, sagte er, während sich seine Zähne bleckend zu einem freundlichen Grinsen aus dem offenen Maul herausstülpten.
„Verschwunden?“, fragte ich.
Über den schmalen Rand seiner Brillengläser hinweg sah ich, wie mich sein Blick einen Moment lang durchdringend und wie mit Röntgenstrahlen erforschend beäugten, als müsse er in meiner Frage ein tiefer gehendes psychologisches Problem ergründen, das es auf der Stelle zu untersuchen galt.
„Seine Eltern haben vor einigen Jahren eine Unterlassungsklage erwirkt“, antwortete er trocken, nachdem er in meinen Augen offensichtlich nur jugendlichen Forscherdrang zu entdecken glaubte.
„Chaotische Zeiten waren das“, sagte er. Er griff einen Aktenordner und drängelte ihn in eine Ledertasche.
„Zum Glück ändert sich das gerade wieder. Wir müssen nach vorne schauen“, und er lugte über den Rand seiner Brille zu mir herüber.
„Was wir heute erforschen, junger Freund, kann morgen schon Ihr Leben retten.“ Sein Gesicht hatte den Ausdruck einer wilden Bestie angenommen, die im Begriff war, sich in meine Gedanken wie in einen lebendigen Magensack zu wühlen, und seine Augen funkelten unaufhörlich, als ob sich dahinter ein ewiges, unstillbar hungriges Feuer verberge. Ein Feuer, das jeden trockenen Halm und jedes Stück Holz verzehren würde, sobald es in seine Reichweite kam.
Ich nickte und zweifelte keinen Augenblick daran, dass sich hinter seinen Worten ein tragisches, wenn nicht sogar bestialisches Geheimnis verbarg. Ein Geheimnis, das nur der Junge auf den schrecklichen Diabildern bis in die abgründigsten Tiefen erfahren hatte.

Tommi aber war tot, aufgefressen und erstickt.
So dachte ich jedenfalls.
Das war ein Irrtum, wie ich feststellen sollte.
Erst aber einmal kamen die Träume zurück und sie waren schrecklicher als jemals zuvor.

Und so wurde Tommi zu meinem Begleiter, einem unfreiwilligen aber nicht herzlosen Freund meiner Träume. So oft ich auch schreiend erwachte, konnte ich mich an keinen Traum erinnern, in dem er mir je Böses gewollt hätte, Hand an mich gelegt oder Schlimmeres. Nein, er blieb ein Schreckensgespenst auf Distanz, mit kindlicher Nächstenliebe immerwährend einige Schritte entfernt stehend; in einem Schatten, mir zuflüsternd:
„Ich komme heut nicht raus zum Spielen.“

Komm doch!“, rief ich ihm zu.
Und er kam.
Und ich erwachte.

Bald packten mich wieder die längst vergessenen Allüren der Kindheit; ich hatte ein Tommi-Kissen, von dem ich immer wieder hoffnungsvoll annahm, wenn ich auf ihm schliefe, würde ich nicht von ihm träumen. Aber ähnlich wie ein Kind, schrieb ich diese Eigenschaft vielen verschiedenen Kissen zu und wechselte sie notgedrungen nach jeder nächtlichen Enttäuschung.


Heute glaube ich, ich wäre mit meinen Träumen und Tommi ziemlich glücklich geworden; auf eine gewisse Art. So wie eine Mutter glücklich werden kann bei dem Gedanken, dass ihr ungeborener Fötus zu keinem schwermütigen Gedanken fähig sein wird und kein Leid auf dieser Welt wird erfahren müssen. Tommis Allgegenwart aber hatte mein Leben beeinflusst, darüber war ich mir im Klaren. Ich hatte das Psychologiestudium abgebrochen, ohne mich ganz von Tommis Spezialgebiet zu entfernen. Ich hatte die allgemeine Medizin zu meinem persönlichen Feind erklärt und war dabei nicht allein. Auf einem Symposium für homöopathische Heilmethoden stieß ich auf ein Pärchen, das es sich in den Sinn gesetzt hatte, die Welt um eine Zeitschrift für alternative und ganzheitliche Medizin zu bereichern; ein buntes Pausenblatt für die Frau. Wir lachten darüber, weil sich die Zielgruppe tatsächlich ziemlich genau eingrenzen ließ.

Aber die Sache hatte Pfiff und nach ein paar ernsthafteren Gesprächen stießen wir auf die Idee für einen Monatsturnus, der sich im Speziellen mit jenen Menschen beschäftigen sollte, die ähnlich wie Tommi, die Grausamkeit der allgemeinen Medizin am eigenen Leib erfahren hatten.

Ob ich von Anfang an über Tommi schreiben wollte?

Ich glaube, ich schrieb immer über Tommi, ob ich an einem Grab stand und mir Notizen machte, einen anrüchigen Arzt fotografierte, wie er sich theatralisch von mir abwandte, oder ob es ein langer Nachmittag an einem Krankenbett war, in dem ein kleines Mädchen mit einem Kunststoffstift zwischen den Zähnen die Tastatur eines Labtops bediente. Tommi war allgegenwärtig. Tommi war in jedem Gesicht und jedem Wort, das ich schrieb.

Und schließlich fiel Tommis Bild ein zweites Mal in meine Hände. Es war eben jenes groteske Dia, das ich damals im Grundkurs für Neurobiologie zu Gesicht bekommen hatte; diesmal eine digitale Bearbeitung, ausgedruckt und noch feucht von der Druckerschwärze, ineinander gerollt wie eine Depesche aus der Vergangenheit.
Und sie führte mich eben zurück an jenen Ort, an dem ich Tommi zum ersten Mal begegnet war.


Als ich vor dem Haus in der Gasse meiner Kindheit stehe, überkommt mich ein Schauer und geradezu zwanghaft suche ich den Boden nach einem tanzenden Kreisel ab. Das Hoftor steht geschlossen da. Jemand hat mit einem spitzen Gegenstand versucht, das Namensschild über dem Briefschlitz zu entfernen. Mit der flachen Hand schirme ich das steil einfallende Sonnenlicht von meinen Augen ab. Ein schrilles Kinderlachen lässt mich erzittern und ich sehe mich um und vom Straßenende betrachten mich misstrauische Kinderaugen.
Die großen Schulranzen sitzen den Kindern hoch auf den Schultern und lassen die Gestalten kräftig und machtvoll erscheinen. Sie schleudern ihre Turnbeutel durch die Luft und die kleinen Säcke prallen wie zu runden Kugeln aufgeblasene Katzenleiber von den Masten der Laternen ab und wirbeln über ihre Köpfe. Dann sind sie hinter der Häuserecke verschwunden.

Als ich mich zurückdrehe, bestürmt mich das gähnend schwarze Maul des plötzlich offenen Hoftores. Kein Laut, kein leises Winseln von ungeölten, rostigen Scharnieren hat mich davor gewarnt – es stülpt sich mir mit seiner doppelt verschatteten Schwärze über.
„Sie sind von dieser Zeitung, nicht wahr?“, fragt Tommis Mutter und nimmt mich mit festem Griff beim Oberarm. So hat sie damals Tommi in die Poliklinik geführt, denke ich. Wir haben miteinander telefoniert, sage ich. Sie nickt. So schwermütig und mutlos, dass ich Angst habe, der Kopf könne ihr abknicken und auf dem Boden aufschlagen. Ich frage mich ob sie gelitten hat. Wie viel und wie oft. Ich denke tausend Mal. Tausend mal tausend Mal. Ich lese es in ihren Augen. Dann aber sind wir schon fort. Wir sind im Haus, steigen Treppen empor, kommen durch eine Küche, über eine Terrasse und sind bald tief in dem Backsteingemäuer, das trotz der Mittagshitze in kaltem Schatten vor sich hin träumt.
Wir sitzen um einen Tisch, auf dem sich Pappschachteln stapeln, aus denen Erinnerungen in Aqua-Color herausquellen. Die schiere Wucht von angehäufter Vergangenheit droht mich zu erschlagen. Ich schaffe es gerade noch, ein Aufnahmegerät in Gang zu bringen. Der Mechanismus leiert das Magnetband mit ungerührter Gleichgültigkeit von einer Seite zur anderen, während die Frau redet und durch meine Hände Hunderte von Schreckenerregenden Bildern wandern. Eines der Bilder bleibt mir für einen Augenblick in Erinnerung; darauf ist ein Junge ohne Haut zu sehen, dem ein Arzt eine Geburtstagskrone über den Kopf hält, außerdem Blumensträuße um ihn herum, wie an einem Grab. Ich sehe das Bild lange an, bis es mir entgleitet und ich gleich einen ganzen Satz von Photos nachgereicht bekomme.

Ich bin wie geschlagen. Ich stürze fast, habe das Gefühl mich in dem Haus zu verlaufen. Ich haste der Frau voraus, komme ans Tor, reiße es atemlos auf und stehe endlich wieder im Licht.
Es ist heiß, doch mich fröstelt noch.
„Ich kenne einen guten Psychologen“, stammele ich zum Abschied.
Sie starrt mich aus dem Schatten des Hauses geradewegs an.
„Sie werden ihn brauchen“, flüstert sie und schließt das Tor.

Da stehe ich; die Mittagshitze vernebelt meinen Verstand. Mir ist schwindelig.
Ich bin ein Kreisel. An meinem Wagen komme ich, alles in mir drehend, zum Stehen. Aus dem Handschuhfach klaube ich eine winzige Dose mit Pillen, versuche mit feuchtem Zeigefinger eine heraus zu fischen, um sie mir unter die Zunge zu legen.
Dann schütte ich mir den Inhalt der Dose in den Rachen…

Ich war der Überzeugung gewesen, dass Tommi tot war. Das war ich schon einige Male gewesen und jedes Mal hatte er sich mir in die Gegenwart entzogen. Das letzte greifbare Zeugnis seiner Existenz war eine Märzausgabe einer Monatszeitschrift für Dermatologie aus der Mitte der Neunziger. Es handelte sich dabei um einen Beitrag eben jenes Professors für Neurobiologie, der noch einmal einen Nachruf auf den Jungen ohne Haut verfasst hatte. Schwarz in schwarz thronte über dem Text ein Bild von Tommi, als ein in die Schattenwelt zurückgezogenes Monstrum, dessen Augen als weiße Punkte gerade noch zu erkennen waren.

Die Eiseskälte, mit der der Arzt den Zustand des Jungen beschrieb, ist für mich bis heute der Höhepunkt menschlicher Teilnahmslosigkeit. Ein Herz, eingemauert in Stein, so kam es mir vor, musste in seiner Brust geschlagen haben, als er diesen Text ohne jeden Ausdruck von Mitleid und Scham verfasst hatte.
Tommi war seinen Worten zufolge weniger als ein Mensch und doch ein Mensch um so vieles mehr. Die Krankheit hatte ihn nicht nur dem Anblick nach zu einem außergewöhnlichen Wesen gemacht, sondern auch tiefgreifend auf seine Hirn- und Körperfunktionen Einfluss genommen. Abgesehen davon, dass die keimfreie Absonderung des Patienten im eigentlichen Sinne unnötig war, hatte die erhöhte Produktion des Neurotransmitters Histamin, die bei normaler Neurodermitis weit weniger stark in Erscheinung tritt, Tommis Lernfähigkeit auf ein außergewöhnliches Niveau gesteigert. Die überdurchschnittliche Sauerstoffaufnahme machte eine ständige Körperfixierung und Sedierung erforderlich; die Menge der dabei verabreichten Beruhigungsmittel überstieg oft gängige für möglich gehaltene Dosen. Durch das Fehlen einer schützenden Pigmentschicht hatte Tommi jahrelang im Dunkeln leben müssen. Seine Augen hatten nachtaktive Eigenschaften angenommen. Allein das Fehlen jeglicher Schweißporen brachte Tommi immer wieder in lebensbedrohliche Zustände, wenn der Körper durch Bewegung oder Aufregung überhitzte und die inneren Organe, ähnlich wie bei einem Fieberanfall, zu verbrennen drohten.

Eines noch muss ich erwähnen. Die zersetzende Eigenschaft seines Körpers; eigentlich war es die Unterhaut, die Subcutis, die diesen schrecklichen Einfluss ausübte; blieb über all die Jahre, die er sich unter ärztlicher Aufsicht befand, erhalten.
Jede Transplantation erwies sich schon nach wenigen Wochen als Misserfolg.
Tommis Körper fraß.
Und nichts konnte diesen Hunger jemals stillen.

Ich bin unterwegs. Ich fliehe vor der Vergangenheit in die Gegenwart, die sich, nur eine Straßenbiegung entfernt, vor mir verborgen hält. Allein das Morgen ist Äonen entfernt und ich liege immer einen Schritt zurück, hinter dem Jetzt, dass mir vorauseilt. Wie schnell ich auch fahre, wie halsbrecherisch ich in jede Kurve, deren Dahinter mir der dichte Nachtwald verstellt, hinein stürze, ich kann der Vergangenheit nicht entkommen;
ich kann Tommi nicht entkommen.
Dann sehe ich ihn plötzlich, ganz ohne Haut, vor mir auf den Straßenbelag staksen und taumeln. Das Fernlicht erfasst ihn. Erstarrt bleibt er mitten auf der Landstraße stehen. Ich rase auf ihn zu; ich reiße am Lenkrad, schleudere. Mit dem Heck schlage ich in ihn und bin in Sekundenbruchteilen an ihm vorüber.

Ich wanke wie ein Betrunkener über die schwarzen Male meiner eigenen Bremsspuren. Das Auto selbst scheint zu kochen und Wolken von verbranntem Gummi steigen darüber auf.
„Tommi?“, flüstere ich und haste auf das hautlose Ding zu, das über den Asphalt kriecht.
Neben mir stürzt ein Mann mit einem Jagdgewehr auf die Straße. Er packt mich bei der Schulter.
„Sind Sie OK?“
Seine Augen zucken zwischen mir und dem kriechenden Ding hin und her.
„Das hab ich ja überhaupt noch nicht erlebt!“, stößt er atemlos hervor. „Ich hat´s schon tot, verstehen Sie? Saubere Sache; ein Schuss; liegt da und rührt sich nicht mehr und nachdem ich die Haut runter hab, geht mir das Vieh doch glatt wie ein Karpfen durch!“
„Geben Sie mir das Gewehr!“, sage ich. Das Tier schleppt sich, immer noch lautlos, zum Waldrand hin.
Ich renne hinzu;
sehe das Tier in seinem ständig fließenden Blut. Es kämpft…

Dann drücke ich ab, und das Schrot gräbt sich zu meinen Füßen in den schwarzen Untergrund. Der Schuss lässt mich für einen Augenblick taub zurück.
Eine Hand legt sich mir auf die Schulter:
„Mannomann“, höre ich aus wenigen Zentimetern weit entfernt,
„das haben Sie richtig gemacht; quält sich eh nur; dann lieber tot, gleich hier.“
„Seien Sie ruhig!“, sage ich angewidert. Ich wende mich ab und gehe zurück zum Wagen. Der Mann rennt mir nach und ruft mir etwas zu, aber ich bin schon zu weit vom Jetzt entfernt.
Erst Kilometer entfernt stelle ich fest, dass das Gewehr neben mir auf dem Beifahrersitz liegt.

Tommi lebt. Ich bin jetzt mehr davon überzeugt, als je zuvor. Entgegen aller Logik, entgegen allem, was sich meinem Gefühl entgegen stellen will. Er ist dort draußen im Dunkel und wie auf dem Bild in jener Monatszeitschrift für Dermatologie, starren mich seine weißen Augen aus diesem Dunkel heraus an.
„Ich kann heute nicht zum Spielen heraus kommen“, flüstert er mir zu.
„Komm doch!“, rufe ich und greife in das Dunkel hinein.

„Komm…“

Ich erwachte Schweißgebadet; das Gewehr auf den Knien. Ich war nun ganz in der Vergangenheit und hatte jeden Bezug zum Jetzt verloren. Nichts konnte mich aus dieser Gegenwart erreichen.
Ich war… hier.
Ich atmete… jetzt.
Und ich handelte…
in diesem Augenblick.

Langsam fuhr ich den Wagen an die Schranke zur medizinischen Fakultät heran, kurbelte das Fenster herunter und gab dem Sicherheitsmann meinen Presseausweis.
„Haben Sie einen Termin bei dem Professor?“, fragt mich der Mann in Uniform.
„Rufen Sie ihn an“, sagte ich, ganz überzeugt davon, dass es so sei.
Die Schranke hebt sich…
…und ich fuhr geradewegs an jenen Ort, an dem Tommis Vergangenheit allgegenwärtig war.

Hier würde ich ihm begegnen.
Die Tür zum Labor öffnete sich und ich stieg ein in einen Wald aus Plastikplanen, die von der Decke hingen und hinter denen es milchig schimmerte. Es roch nach nichts, nicht einmal der Gestank meiner eigenen Angst wollte diesen keimfreien und geschmacklosen Sumpf durchdringen. Die Separees der ineinander verschlungenen und aneinander geschweißten Plastikräume führten mich mit jedem Spalt, den ich durchschritt, tiefer und tiefer zu jener Vergangenheit zurück, in der ich so eng und unzertrennlich mit Tommi verbunden gewesen war.
Ich hatte einen Reißverschluss nach dem anderen aufgezogen…
Ich war noch tiefer und unmittelbarer von einer Vergangenheitsschicht in eine noch entlegenere vorgedrungen…


…und dann sah ich ihn dort sitzen, auf einem Stuhl, vor einem Spiegel, sich selbst mit Entsetzen anstarrend. Die Augen lidlos, die Zähne in einer Reihe ungeschönt aus dem blutroten Kiefer herausragend.
„Tommi“, flüsterte ich.
„Tommi…“
Und ich wusste, dass wenn ich ihn berührte, wenn ich ihm wieder so nah war, wie in meinen Träumen, so nah, wie vor dreißig Jahren, dann wäre ich wieder hier.
Dann bin ich hier.

Der Körper sackt leblos unter meiner Berührung zur Seite.
Ich will schreien; ich will ihn an den blutigen Schultern packen und hochreißen; wie eine schwere Flickenpuppe hängt er mir in den Armen.

»Tommi!«

»Er ist tot«, höre ich Tommis Stimme hinter mir und ich sehe in den Spiegel und sehe den Professor für Neurobiologie, der mit einem Skalpell in der Hand auf mich zu kommt und liebevoll lächelt.
»Du hast mich gefunden«, sagt er, den Kopf nachdenklich zur Seite gelegt.
„Hast du mich auch gesucht?“
Ich frage mich, was ich ihm antworten könnte. Hatte ich ihn tatsächlich gesucht? Oder hatte er nicht in Wahrheit mich gesucht. Und mich schlussendlich hier an diesem grauenvollen Ort gefunden. Das, was der Professor war, gleitet mir aus den Händen.
„Was hast du getan?“, frage ich atemlos.
Tommi scheint in Gedanken versunken.
„Was ich getan habe?“ Er schmeckt diese Frage, so wie man ein gutes Stück Fleisch schmeckt, kurz nachdem man es angeschnitten hat. Auch mir kommt die Frage angesichts seiner irrsinnigen Maskerade unsinnig, ja fast wahnsinnig vor.
„Du hattest Hunger…“, stelle ich fest. Mein Hals ist so trocken, dass ich kein weiteres Wort heraus bringe.
Tommis Lippen beginnen zu zittern.
„Du kannst dir nicht vorstellen, wie hungrig ich war“, flüstert er. „Ich wurde fast irrsinnig vor Hunger. Ich habe mich von Ratten ernährt. Unten in der Kanalisation. Ihnen die Haut abgezogen und sie mir einverleibt. So hungrig war ich.“
Er spuckt auf den Boden.
„Aber dann hatte ich genug davon“, zischt er.
„Ich wollte nie wieder hungrig sein!“
Ich stolpere auf ihn zu; da verrutscht ihm die Haut über dem Gesicht und ich starre auf einen Teil seinen dunkelroten Fleisches.
»Sie werden dich finden«, bricht es atemlos aus mir heraus. »Sie werden dich finden und dich ein Monster nennen.«
Tommis Gelächter ist kalt und schroff.
»Aber ich bin ein Monster«, sagt er, nicht ohne dabei stolz und wild zugleich zu klingen. »Wenn ich diese Haut in einigen Tagen verzehrt haben werde, dann werde ich wieder nur der Mann ohne Haut sein. Oder ein Monster, wie die Menschen sagen würden.«

»Aber du könntest mehr sein, als das«, sage ich laut.

»Was könnte ich noch mehr sein?!«, sagt er.

Und ich schweige. Was könnte ich sonst tun?

Tommi nickt.
„Jetzt schweigst du“, sagt er. „Und dabei kennst du die Wahrheit genau wie ich.“
Seine Augen beginnen zu funkeln.
„Als ich aus der Kanalisation an die Oberfläche kroch, da war mein Hunger so groß, dass ich alles gefressen hätte. Ich hätte selbst einem unschuldigen Kind mit diesen Fingernägeln die Haut abgerissen, um sie mir auf das Gesicht zu legen. Ich war verrückt vor Hunger.“ Er betrachtet seine Hände wie Mordwerkzeuge.
Und schaut mir grade und kalt ins Gesicht.
“Aber dann kam mir ein Gedanke“, sagt er. „Und ich dachte, mein Gott, wer um alles in der Welt hatte mir diesen makellosen Kristall an Wahrheit vorenthalten? Wie war es dazu gekommen, dass ich mit all dem Wissen, dass mir zur Verfügung stand, nicht in der Lage gewesen war, das Naheliegenste in Betracht zu ziehen? Nämlich dass die Welt in Wahrheit ein frisch gedeckter Tisch ist, an dem ich nur zuzugreifen brauchte, um mir das weiße zwischen dem dunklen Fleisch herauszupicken. Weshalb sollte ich mich dazu entscheiden, die Unschuldigen zum Opfer meines unstillbaren Hungers werden zu lassen? Was war mit jenen, die nicht Unschuldig waren? Was mit jenen, die sogar prahlerisch mit ihren Untaten die Öffentlichkeit aufsuchen, als wollten sie sich mir zum Geschenk machen? Meinst du, dass sie, wenn ich einmal quer durch ihren Reihen geschritten bin, um mich an ihnen satt zu essen, noch immer die Öffentlichkeit suchen werden, um mit ihren Verbrechen hausieren zu gehen?“

Ich schaute ihn an. Und ich sah in seinen Augen, dass nichts von dem, was er gesagt hatte, reine Hypothese oder unmögliche Phantasterei war. Urplötzlich überraschte ich mich dabei, dass ich zu glauben begann. Und ich sah ein Bild von der Welt vor meinem inneren Auge, das leer gefegt war von jenen, die ich in all den Jahren verfolgt und mehr schlecht als recht ihrer wahren Bestimmung zugeführt hatte. Tommi hingegen würde nicht an der Haustür stehen bleiben, so wie ich es getan hatte. Er würde die Tür aufbrechen, oder durch ein Rohr, das gerade dick genug war, dass er seinen Oberkörper hindurch zwängen konnte, aus der Kanalisation in das Innere gelangen und Gericht über diejenigen halten, die ich bisher nur mit Worten hatte erreichen können. Kein Gericht, keine bestochenen Zeugen würden das Urteil, das Tommi über sie aussprechen würde verwässern oder rückgängig machen können. Und mir kam ein Gedanke, der so wahnsinnig und verrückt war, dass ich vor ihm zurück schreckte, bis ich spürte, dass er eine Wahrheit beinhaltete, die ebenso kristallen und makellos war, wie die, von der Tommi gesprochen hatte.

War es nicht die Natur selbst, die dieses Monster in die Welt gesetzt hatte? Und war es nicht ein ganz gewöhnlicher evolutionärer Akt, dem ich rein zufällig beiwohnte, ohne mir bisher über die weitreichenden sozialen und genetischen Folgen im Klaren gewesen zu sein? Als ob Gott sich endlich entschlossen hätte, die Menschheit mit einem Gewissen auszustatten, war Tommi auf diese Welt gebracht worden und hatte seine eigenen, instinktiven Schlüsse aus seiner Existenz gezogen.
Wer also war ich, dass ich diesem Ersten seiner Art das Recht absprechen wollte, seine Bestimmung zu suchen?

„Wie erkennst du sie?“, fragte ich leise. Fast so leise, dass ich mich unwillkürlich fragte, ob er mich verstanden hatte.
Tommi wich zurück. Als ob es eine Frage gewesen wäre, auf die er gewartet hatte. Auf die er ewig gewartet hatte. Der Schatten, vor dem er hell und leuchtend wie ein Engel gestanden hatte, fing an, ihn zu verschlucken.
„Am Geruch“, flüsterte er, während er schemenhaft in das Dunkel eintauchte. Millimeter für Millimeter in dem Schatten verschwindend.
„Stell dir den schlimmsten Geruch vor, den du kennst“, raunte er.

„Wie in einer Fekaliengrube…“


Ich sah nur noch seine Augen, die in der Dunkelheit wie Sternenlichter funkelten.

„Oder wie ein Kadaver, der wochenlang in einem Schuppen vermodert …“
Dann sah ich auch seine Augen nicht mehr. Ich hörte nur noch seine Stimme, die aus den Lüftungsschächten über mir drang, als wäre Tommi schon hunderte Meter weit in dem riesigen Komplex verschwunden.

„Ich kann sie riechen“, hörte ich es leise flüstern.

„…sie riechen.“
„…sie riechen.“


Ich bin ganz still, als der Mann ohne Haut wie ein Echo seiner selbst in der Dunkelheit verschwunden ist. Die Gedanken, die ich hatte, haben sich in mir eingenistet wie ein Virus, der jetzt damit begonnen hat, mein Innerstes Zelle für Zelle umzugestalten, um aus mir einen anderen, einen besseren Menschen zu kreieren. Als hätte sich eine neue Zeit in mir den Inkubus gesucht, von dem aus sie sich jetzt in die Welt fortpflanzen wollte. Ein neues Zeitalter erschaffend.
Ein Zeitalter der inneren Reinigung.

Aber zuerst muß ich etwas anderes reinigen. Ich muß Ordnung schaffen an diesem Ort, den Tommi wie einen Saustall zurück gelassen hat. Er weiß nicht, wie wichtig Ordnung ist, wenn man ein so großes Tagwerk zu Ende bringen will, wie er es, oder wie es nun durch ihn begonnen wurde. Er ist der allmächtige Künstler, der mit seinen Farben und seinen Pinseln von Raum zu Raum und von Haus zu Haus schreitet, um seine riesigen, schattenhaften Gemälde auf den blanken Beton zu werfen. Ich hingegen bin nur ein unwürdiger Zeuge seines nachtwandlerischen Schaffens. Bild für Bild erweckt er das Grauen und ich verneige mich hiermit vor seiner weltenverändernden Allmacht.

Ich weiß, dass ich von nun an in seiner Nähe bleiben werde. Am Rande der Schattenstraßen lebend, auf denen er die Welt bereist und die sich überall verzweigen, wo Dunkelheit herrscht. Die sich jede Nacht neu über die Städte und Länder ausbreiten, wie Autobahnen, auf denen er rasend schnell an jeden Ort und jedes Versteck gelangt. Dreidemensional breitet sich dieses Geflecht aus Trassen und Bahnen über die Erde und jede Wand, die ein flackerndes Licht verstellt, erschafft einen neuen Weg, einen neuen Eingang in die Dunkelheit.
Ich aber wähle das Licht. Und ich bringe Ordnung in das Chaos, das er mir vorauseilend, hinterlässt. Und der Tag wird kommen, wo ich seine Opfer hoch an den Himmel nageln werde, damit alle Welt sie sehen kann. Als sein Zeichen, die abgezogenen Leiber derjenigen, die er für seinen Hunger als rechtmäßige Kost auserwählt hat.

Bis dahin aber hülle ich ihn in Schweigen und decke den Mantel des Vergessens über seine Opfer. Sie werden verschwinden, sich auflösen wie ein flüchtiges Gas, das von einem lauen Sommerwind davon getragen wird und sich in der Weite der Nacht verliert.
Sie werden sie nicht finden. So wie sie den Professor für Neurobiologie nicht finden werden, der als armseliger Haufen durch meine Hand in einen Behälter mit Schwefelsäure gleitet. Die Restnerven wehren sich gegen das Verschwinden. Die Beine und Arme trommeln gegen das Behältnis. Wie ein lautloser Schrei steigt ein schaumiges Gemisch aus der brodelnden Flüssigkeit herauf und schwängert die Luft zwischen den Plastikplanen, die aufgeregt zu knistern und zu flüstern beginnen. Als wären es die Stimmen der Unzähligen, die hinter ihren milchigen Rockschößen zu wispern begonnen hätten.
So als riefen sie ihn.
Flüsternd, wispernd.
Als hätten sie ihn erwartet.

***

Wenn ich heute höre, dass einer verschwunden ist und nicht mehr da ist, wenn einer weggegangen ist und keiner weiß wohin, wenn ich höre, dass er einer von diesen Ärzten war oder einer, der daran verdient hat, dass Kinder sich die Haut herunterkratzen, dass sie im Frühling nicht draußen spielen dürfen, weil sie ersticken, wenn ich höre, dass einer von denen Gift in die Flüsse geleitet hat, dass er experimentiert hat und Gewinne gemacht hat und Ruhm daraus gezogen hat
und dass er nun nicht mehr aufzufinden ist,
dann…

…dachte ich immer an Tommi und sah vor meinem inneren Auge einen Kreisel, der sich nicht aufhören wollte zu drehen.
Er war nur ein Schatten; nur eine Erinnerung…

…aber er ist da draußen…

…in der Dunkelheit…
 
Na ich hoffe, der Schluss hat Dir am besten gefallen,
da hab ich noch mal einiges umgeworfen. In der Ursprungsfassung war da nämlich noch einiges schwammig. Jetzt ist mein Ich-Erzähler nicht so "hamlettisch", nicht mehr so passiv. Mich hat´s gefreut, dass er jetzt die Dinge selbst in die Hand nimmt und zu glauben beginnt.

Die Welt sehnt sich danach, eine allumfassende Veränderung zu erfahren.

Schön jedenfalls, dass die Geschichte dir gefallen hat. Sie ist eine der Geschichten, die mir am Herzen liegt und wohl noch einige Zeit dort ihr Zuhause hat.

Grüsse, Marcus
 

leon heltau

Mitglied
Hallo Marcus,

endlich kann ich antworten, da nun sichtbarer Punkt unter der Leselupe. Erinnerung: Wir saßen am selben Tisch im Dunstkreis von Elwood und Jake.

Subcutis erinnert mich an positive Erfahrungen mit diesem Genre, dem ich als Laie gegenüber stehe. Möglicherweise ist die Unschärfe hie&da etwas kräftig, der Fluss bleibt bis auf wenige Stolperer erhalten und haucht Deiner Geschichte schöne, dunkle Seelenadern ein. Auf Deine Frage an jenem Abend also: Langeweile hat sich mir nicht aufgedrängt. Sonst hätt ich's ja geschrieben, wie gewünscht.

Liebe Grüße,
lkh
 
Holla,

das freut mich aber heltau. Ja, ich weiß oder fühle, dass die Geschichte noch nicht ganz rund ist, aber das liegt am Stil der Ursprungsfassung. Schlecht ist sie jedenfalls nicht. Und der neue Schluss hat mir beim Schreiben viel Freude bereitet.

Naja, ist jedenfalls schön, wenn man mal quer übern Tisch nen literarischen Einwurf machen kann und nicht gleich für verrückt gehalten wird. Solltest du mal nen semiprofessionellen Blick auf einen deiner Texte benötigen, sag bescheid.

Grüsse und danke für deine Zeit,
Marcus
 

brain

Mitglied
"Naja, ist jedenfalls schön, wenn man mal quer übern Tisch nen literarischen Einwurf machen kann und nicht gleich für verrückt gehalten wird."

Ver-rückt sind wir doch alle ein bisschen:) Sonst würde es uns nicht eine solche Freude bereiten, Dinge zu beschreiben, vor denen wir uns fürchten.
 

Charmaine

Mitglied
Hallo Marcus,

habe am Anfang sehr an die reale Möglichkeit deiner Geschichte geglaubt. Sehr beklemmend und die Psyche deines Protas konnte ich absolut nachvollziehen. Solche Geschichten sind die besten.

Grüße von Charmaine
 
Hallo Charmaine,

schön, dass Dir die Geschichte so gut gefallen hat. Ich habe jetzt an der Geschichte schon eine ganze Weile gearbeitet. Und dabei immer versucht, ein wenig mehr von den Figuren herauszuarbeiten. Das macht sie zu einer der Geschichten, die mir selbst, ohne dass ich das zuerst beabsichtigt hätte, am meisten am Herzen liegen. Ich kann dir nicht mal sagen weshalb, schließlich sind es alles Fantasygestalten.
Aber manche bleiben einem eben im Gedächtnis.

Danke für deine gute Meinung,
Marcus



@ Brain,

ich glaube nicht, dass ich darüber schreibe, wovor ich mich fürchte - da müßte ich Gegenwartsliteratur schreiben, denn in der Wirklichkeit gibts viel schlimmere Sachen, vor denen man sich fürchten sollte. Und ich meine da nicht unbedingt Blut und Verderben. Horrorliterur ist für mich in erster Linie eine aufbereitete Form von düsterer Unterhaltung, die Urängste und Scheinängste in Schablone bringt. Eine so aufbereitete Angst ist etwas positives, weil verständlich und verstehbar. Die "wirkliche" Angst oder Furcht ist wie alles im Leben chaotisch und für das ICH nicht verstehbar - sonst wäre es eben keine Angst oder Furcht. Vorallem aber lässt sie sich nicht mit der Schablone und Einfachheit einer Geschichte beschreiben.
Mist, jetzt mach ich schon wieder den Klugscheißer, oder? Um es abzuschließen, ja, Horrorgeschichten schreiben macht Spass, und man möchte diesen Spass mit anderen teilen. Aber um dies zu können, müssen diese Geschichten vorgeben, real zu sein oder wenigstens ansatzweise. Damit widerspricht die Horrorgeschichte der oben genannten Tatsache und ist damit, genau wie die Liebesschmonzette a la Rosamunde Pilcher u.ä. nichts weiter als ein mehr oder weniger verzerrtes Spiegelbild der eingebildeten Realität des Autors und der Leser(wichtig: alle sind schuld!!!) Es wird eine Scheinrealität(hier die Scheinängste) geschaffen, in der sich der Verstand zurecht findet, eine Realität wird erschaffen, die überschau- und verstehbar ist.

Im Gegensatz zur Wirklichkeit - Punkt. Horrorgeschichten sind also ein positives Werkzeug zur Realitätsbewältigung. Sie helfen dem Bewußtsein(ähnlich wie der Traum), schwierige Ereignisse zu verarbeiten und einzuordnen. Also ein Hoch auf die Horrorliteratur, dass sie uns helfe, den "wirklichen" Ängsten "ohne Furcht" entgegen zu treten.

Freudsche Grüsse, Marcus
 

brain

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"Horrorliterur ist für mich in erster Linie eine aufbereitete Form von düsterer Unterhaltung, die Urängste und Scheinängste in Schablone bringt."

Genau diese Art von Angst meinte ich, die universelle, unverständliche Furcht, die auch rationale Menschen vor dem Dunkel haben, auch wenn sie eigentlich wissen, dass dort nichts lauert.

Angst ist ja erst einmal, ohne wertend zu werden, eine Emotion. Rosamunde Pilcher bedient da zwar ein anderes Bedürfnis, aber was nicht emotional nachvollziehbar ist, bleibt uninteressant, weil nicht abstrahierbar.

Demnach finde ich nicht, dass Du Dir widersprichst, wenn Du sagst, dass die Fantasiegestalten Deiner Geschichten realistisch sind. Sie können vielleicht nicht in der Realität existieren, aber sehr wohl realisitsch agieren, sodass man sich als Leser mit ihnen identifizieren und mit ihnen mitleiden kann.
 

Madeira

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Hua, das geht unter die...nee, doch lieber nicht!
Echt gruslig!
Lese zum 1.Mal in dieser Rubrik und bin jetzt angenehm überrascht, weil ich eher so Stephen-King-Artiges erwartete, und den hab ich nach einem Anlauf weg gelegt. Aber das hier - Inhalt und Sprache - erinnert eher an E.T.A.Hoffmann. Total gut! Aber in den Bildern schon Grenzbereich des Erträglichen. Das ist wohl die Kunst, diese Grenze zu finden.
LG
Madeira
 
Hallo Madeira,

also hui, danke, ich hätte nie davon geträumt, mit E.T.A.H. verglichen zu werden, der Mann ist Legende, und der Sandmann ist meine absolute Lieblingsnovelle. Mal abgesehen davon, dass ich über den Struwelpeter quasi schon als Kind zur Horrorgeschichte gekommen bin. Da hat mich der Mann vielleicht sogar geprägt. Über S.King kann man streiten, aber er kann schreiben. Ich selbst lese seit Jahren nichts mehr von ihm, weil ich das Gefühl hatte, dass er sich reproduziert. Trotzdem war es ausgerechnet er, der mit seinen Geschichten in mir den Wunsch geweckt hat, Horrorgeschichten zu schreiben. Hier schließt sich also der Kreis.

Jedenfalls schön, dass dir die Geschichte unter die Haut ging. Das war eine Intention.

Beste Grüsse, Marcus
 

Krom

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Hallo Marcus,

dass ich Deinen Text jetzt bewerte hat nichts mit Deiner Rezi für meinen Beitrag zu tun. Ich habe Subcutis schon am Wochenende gelesen, komme aber erst jetzt dazu die Rezi zu schreiben.

Vorweg, ich habe so gut wie überhaupt nichts an Deinem Text auszusetzen, weder inhaltlich noch sprachlich.

Manche Absätze erscheinen mir jedoch ein wenig überladen, so zum Beispiel hier "[blue][red]Als ob ein Faden in mir sich danach sehnte, wieder mit seinem abgetrennten Ende verbunden zu werden.[/red] Eine Sehnsucht vielleicht, die so abgrundtief in mir verborgen war, dass sie bis heute nicht den Weg in mein Bewusstsein finden will. [red]Als hätte sich ein Vorhang vor meine Gedanken gewälzt, hinter dem sich ein schreckliches Theater auf seine Premiere vorbereitete.[/red][/blue]

Der zweimalige Satzbeginn mit "Als.." ist meiner Ansicht nach doch zu viel des Guten. Ein Satz dieser Art hätte ausgereicht. Aber wie gesagt, der insgesamt sehr gute Eindruck wird dadurch nicht gemindert.

Zur Handlung kann ich sagen, dass ich mich sehr stark an Clive Barker's Hellraiser erinnert fühlte, wo auch ein Mann ohne Haut sich neue Haut verschafft und zwar auf die gleiche Weise wie Tommi. Auch dies ist für mich ein Pluspunkt des Textes, denn ich bin großer Fan von Barkers Frühwerken und mag auch den Film Hellraiser (aber nur den ersten Teil).

Deine Geschichte hat am Schluss einen sehr guten Schockmoment, nämlich dann, als der Erzähler Tommi endlich begegnet und ihm klar wird, was mit dem Arzt geschehen ist. Auch der vorangegangene Unfall auf der Straße ist ein schönes Irritationselement.

So hoffe ich auf weitere Geschichten von Dir und wünsche Dir noch viel Freude beim Schreiben unheimlicher Geschichten.


Viele Grüße,
Krom
 
Tja Krom, Gefälligkeitsillusionen sind uns bekanntlich fremd, darum kein Wort mehr darüber. Schön, dass dir die Geschichte so gefallen hat, wie sie jetzt ist. Die Überarbeitung hat mir damals schon einige Freude und Kopfzerbrechen bereitet. Mit deiner Anmerkung zwecks möglicher Überfrachtung magst du Recht haben. Falls ich die Geschichte nochmal in echt veröffentliche, denke ich dran.
Aber du sagst ja selbst, dass sie erst mal so stehen kann. Und kleine Fehler trainieren das Gehirn.

Ach, bezüglich Gefälligkeitsillusionen - hab deinen andern Text noch mal etwas genauer interpretiert. Hat sogar ein bisschen Spass gemacht,

Grüße Marcus
 



 
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