wie mein agent mich um die ecke bringt

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Paul Stoyan

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Heute habe ich meinen Agenten verpasst. Das war auf dem Plateau Höhe Ostsee, nachdem wir uns mehrere Tage sehr umeinander bemühten, sosehr, dass mich vor allem zwei Fragen interessierten, schon immer, erstens, wie kam er zu seinem Geld und zweitens, warum erinnerte er mich immer an meinen Schulfreund, wobei die zweite Frage klar hinter die erste zurücktrat.

Gesehen haben wir uns das erste Mal auf einem der unzähligen Literaturfestivals, und da ich wieder mehr unter die Leser gegangen war - meine Texte fanden ja nur insofern reißenden Absatz, als ich sie nacheinander vor den Augen meiner nahestehenden Verwandten und Freunde allesamt durchgerissen habe, und nur wer wollte, konnte sich ein paar der durchgerissenen Geschichten bemächtigen, soll ich sagen bemächtigen, oder soll ich einfach nur sagen ... etliche meiner Freunde haben jetzt zumindest halbe Geschichten ... von mir, während die andere Hälfte irgendwo zwischen meinen reißenden Fingern verschwanden, während ich wieder mehr unter die Leser gegangen war, und hier lief mir dann, ohne dass ich wusste, in welcher Funktion er nun vor mir stand, mein späterer Agent über den Weg, er wurde mir mit Mollenkamp vorgestellt, und besaß vor allem zwei Dinge. Einen Aktenordner und eine Brille ... aber wir trafen uns ja als Leser, und seit ich wieder Leser bin, habe ich wieder ein großes Vergnügen daran zu sagen, was mir durch den Kopf schießt, - und mich überhaupt wieder frei zu äußern ... meistens abschätzig, wie sich versteht, denn wer einmal all seine Geschichten durchgerissen hat, kann sich kaum mehr vorstellen, dass irgendjemand die Größe hat, seine Geschichten ohne weiteres zu veröffentlichen, ohne nicht auch daran zu denken, sie alle einmal durchzureißen und durch ganz andere zu ersetzen ... Und weil in der Mitte durchgerissene Seiten auf mich inzwischen eine größere Faszination ausüben, als vollgeschriebene Seiten, kommt all das, was ich sage und vor allem mit Mollenkamp austauschte immer mehr dem nahe, was man allgemein als allegorische Fingerübung bezeichnet, und solange wir nur vollgeschriebene Seiten zu Gesicht bekommen, können wir davon ausgehen, dass es immer noch genug schreibende Leute gibt, die der Illusion folgen, man könnte mit vollgeschriebenen Seiten den Halbwahrheiten entkommen, Halbwahrheiten, die mir nun, da alles durchgerissen ist, zu Tage treten wie eigentliche Wahrheiten. Indem ich all meine Sachen sozusagen in der Mitte durchgerissen habe, bin ich einer der ehrlichsten, wenn nicht sogar wahrhaftigsten Autoren, sagte ich eines Tages meinem Mollenkamp, denn ich gebe wenigstens zu, dass ich nur noch Halbwahrheiten verkünde, während die anderen ja noch immer glauben, die Wahrheit an sich zu veräußern ... Und weil in dieser Tatsache - den mitten durchgerissenen Geschichten - auch eine Portion Witz und Selbstironie steckt, sagte ich weiter, werde ich Ihnen nur noch halbe Geschichten präsentieren, nur noch Halbwahrheiten, nur noch halbe Seiten ... und Sie müssen sich den Rest dann selbst zusammenbauen ...

Keine schlechte Idee. Sagte Mollenkamp, von dem ich immer noch nicht wusste, wie er zu seinem Geld kam, wo er doch offensichtlich nur von einem Literaturfestival zum nächsten fuhr, und von den vier oder fünf Autoren, die er bisher auf den Markt gebracht hatte, kann er doch beim besten Willen nicht leben ..., dachte ich, und schon bin ich bei der zweiten Hälfte meiner Geschichte, in der es - quasi als Herleitung einer allegorischen Fingerübung - nur darum geht, wie ich meinen Agenten schon wieder verpasste, und diesmal sogar, - wahrscheinlich - für immer verlor.

Denn ungefähr zu der Zeit, da ich mich häufiger mit Mollenkamp auf verschiedenen Literaturfestifals herumtrieb, hatte ich vor allem auch einen mehr oder weniger freundschaftlichen Kontakt zu einer etwas vermögenderen Apothekersfamilie ... - die hatten ja das mehr oder weniger unglaubliche Glück, gerade immer dort eine Apotheke zu eröffnen, wo Wochen oder Monate später ein Kaufhaus errichtet wurde, oder ein Ärztehaus, und dieses Apothekerpärchen ... eine etwas längere Geschichte wäre das jetzt, den Hergang unserer Beziehung, oder wie es zu unserem Kontakt kam, zu erläutern, und getreu des Mottos, dass ich die Geschichten eh im Anschluss ihrer Niederschrift mittendurchreißen werde, habe ich es mir auch abgewöhnt alles bis ins Detail zu treiben, alles zu beschreiben, von dem man sich bei nochmaligem Durchlesen ohnehin trennt ... man trennt sich ja von allem, wenn man mal die Zeitachsen miteinander vergleicht ... die Zeitachse Kindheit oder die Zeitachse Jugend oder die Zeitachse Universität ... vielleicht reicht diesmal die Andeutung: Die Frau in dem Apothekerverhältnis war auch einmal meine Freundin ... und dann hat sie sich aber für den Apotheker Rolf entschieden ... dieser Apotheker hat nun schon seit mehreren Jahren das Glück, immer dort eine Apotheke zu eröffnen, wo nach Wochen oder Monaten dann ein Kaufhaus oder ein Ärztehaus ... etcetera. Nungut, und diese beiden, ja ... vermögend durch Apothekerleistung und glückliche Familie mit zwei Kindern, ein Mädchen mit dem Knopf im Ohr ... diesen Titel habe ich ihr einmal verliehen, nachdem ich ihr einen Bären aufbrummte mit einem Knopf im Ohr ... später liest man ja dann ganz andere Dinge, dass sich Kinder zum Beispiel allesmögliche in alle möglichen Öffnungen stecken, wie Nasenloch, Mund, Ohr ... und so kam der kleine Junge zu seinem Namen: du bist die andere Hälfte von Jim Knopf im Ohr ... das war auch schon die erste Hälfte der Geschichte. Die zweite Hälfte, die man sich jetzt weggerissen vorstellen muss, beziehungsweise ... wir können davon ausgehen, dass Mollenkamp die zweite Hälfte eh für sich nimmt, also einkassieren wird, oder auch schon einkassiert hat, denn glauben Sie nur nicht, ich hätte noch den Überblick über all meine halbierten Geschichten, die ja nichts anders sind als eine allegorische Fingerübung über die Halbwahrheiten ... jedenfalls sitze ich eines Tages mit meinem Apothekerpärchen in ihrem komfortablen Automobil und wir haben sage und schreibe eins koma fünf Millionen in einer mehr oder weniger großzügigen Aktentasche und wollen dieses Geld jetzt an den Eingang zum Fahrstuhl Höhe Frankfurt übergeben an den Entführer ihrer beiden Kleinen, Jim Knopf und seine bessere Schwesterhälfte. Am Fahrstuhl Höhe Frankfurt also ich damit beauftragt, eins komma fünf millionen zu übergeben an den Entführer ihrer beiden Kindhälften ... und als ich dann endlich den Fahrstuhl höhe Frankfurt heranfahren sehe, sich die Fahrstuhltür öffnet, und ich den Geldkoffer da reinstellen will, erkenne ich niemanden anderes als Mollenkamp, der mit schwarzen Handschuhen und wie AlCapone mit Hut und im Schatten ruhender Gesichtshälfte den Geldkoffer entgegennimmt und schon schließt sich die Fahrstuhltür und nimmt ihre Fahrt Richtung Ostsee auf. Ich rief noch schnell schnell, ihr beiden, raus da, ich kenne den ... aber sie waren ja vielzu glücklich, ihre beiden kleinen Kindhälften in Empfang zu nehmen, als dass sie mir folgten ... weswegen ich dann allein die Verfolgung aufnahmn, denn immerhin war es ja mein Agent, der nun auch drohte, mit meiner Geschichte davonzuziehen, das war immerhin meine Geschichte, mit der er hier sein Geld verdiente, und da wäre es doch nur Rechtens, wenn ich nun auch endlich etwas verdiente mit meiner Geschichte, zumal dieser Fahrstuhl von Frankfurt nach Rostock ..., gewiss ... hm, ich also ... und nun beginnt jenes Chaos, an das ich mich immer nur erinnere, wenn ich den Fernsehabend um einen weiteren Krimi verlängere ... also, man stelle sich das alles ein bisschen in grün vor ... dunkelgrün ... viele Schattenbereiche ... umherirrendes Personal, keiner fühlt sich bemächtigt ... und die Polizei weiß natürlich auch nicht so recht ... und überall blinkt es ... es blinkt vor allem, weil es so schnell geht, es geht in nullkommanichts von Frankfurt nach Rostock ... auf das Ostseeplateau ... und hier stürmischer Wind ... die rauschende See, Helikopter zum Abflug bereit, überall Absperrungen und Zollbeamte ... und ich sage noch in so ein Wärterfenster hinein, hören Sie mal, haben Sie nicht eben noch einen Alcapone gesehen mit Koffer und schwarzem Hut und Halbschattengesicht, und klar haben sie den gesehen ... sagt der Kommisar der Zollfahndungsbehörde zu mir in seinem rotweiß karierten Hemd, das ist doch nur ein Literat. Nur Literat. Rufe ich, Unsinn, Unsinn, er ist vielmehr, haben Sie denn nicht gehört von der Kindesentführung, von dem Lösegeld, von dem Fluchtposten ... der und kein anderer ist es, rufe ich ... Lacht der Mann in seinem rotweißen Hemd ... ich also auf diesem Plateau mit den stürmisch eisigen Winden, und den aufsteigenden Helikoptern, und dann sehe ich Mollenkamp in einem der Hubschrauber sitzen, mit seinem Koffer mir zuwinken, und ich kann gerade noch denken, da fliegt er davon mit meiner Geschichte, während man mich vom Ordnungspersonal in einen abwärtsführenden Fahrstuhl schiebt, und es wieder mit rasender Fahrt Richtung Keller geht, von wo ich aufgebrochen bin, diese halbfertige Geschichte zu retten.
 

GabiSils

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Lieber Paul,

diese Werk erschlägt mich ein wenig ... ich finde keinen konstruktiven Ansatz. Daher nur: hat mir sehr gut gefallen!

Gruß,
Gabi
 

Paul Stoyan

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freut mich!

der eitle junge in mir wollte die geschichte schon wieder löschen, weil sie keinen zu interessieren schien, aber der große junge in mir hat gesagt, lass sie noch hier stehen, sie ist ja eh schon vom agenten zu gewinn gemacht :), und das zeigt ja auch die mär vom agenten. Er ist sowieso unsichtbar, so wie viele leser auch.

gruss
 

Zefira

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Einfach Klasse, Paul, bei mir bist Du schon mindestens Two-Hit-Wonder-Autor.

Kann es sein, daß Du die gleiche Gerichtsshow geguckt hast wie ich?

Ich bin jedenfalls hell begeistert.

Nur habe ich das Gefühl, daß Du mehr als einmal zur zweiten Hälfte Deiner Geschichte kommst, als könne diese Geschichte mehr als eine zweite Hälfte haben, aber nach dem Lesen dieses Textes bin ich bereit, auch drei, vier und mehr Hälften hinzunehmen.

lG, Zefira (sah Mollenkamp auch schon von weitem)
 

Paul Stoyan

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Gerichtshow?

Nein, gerichtsshow... nachtmittags etwa... manchmal gucke ich da hin, wenn ich denn oll genug im kopf bin... und denke sogar, mensch, tape-rekorder... her damit, das sind echte romane, die da ablaufen... nein, diese kleine episode entstand sozusagen als wärmepuffer in meinem kopf neben dem heizkissen, der meine freundin war, und als ich erwachte, dachte ich, ich reiß alles durch, meine geschichten, meine ideen, und vor allem, was all die lektoren und agenten jemals von mir zu gesicht bekamen.

Und dann dachte ich, nachdem ich diese kleine story geschrieben hatte, wieso eigentlich muss ich das kind zur mutter bringen, wenn die mutter doch immer zum kind kommt.

also beschloss ich, den agenten mit seinem kofferkuli nach nebraska, oder besser translantik abfliegen zu sehen, als mich weiterhin zu fragen, warum mir all meine geschichten abhanden kommen. der (alp)traum vom vollendeten leben.

Ach ja das mit den Geschichts- oder Gesichtshälften... die bessere Hälfte ist immer woanders. Manchmal muss man nur hinter sich greifen. :)
 



 
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