zwergnase

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monday

Mitglied
Keine gute Idee, die Wohnung zu verlassen, das habe ich schon an der Ampel gemerkt, deren rotes Licht einfach zu grell war für diesen Tag, an dem Nebel wie Trockeneis die Luft erfüllt, und es hätte mir auch schon im Treppenhaus auffallen können, an meiner Erleichterung, niemanden zu begegnen, sich ein simples „Guten Morgen“ ersparen zu können, aber ich hatte keinen Kaffee mehr und vielleicht auch Hunger, aber dann habe ich mich nicht getraut, beim Bäcker im Kaisers ein Brötchen zu kaufen, und als ich aus dem Supermarkt komme, kann ich mich nicht erinnern, ob mir an der Kasse ein „Danke“ gelungen ist.
Keine gute Idee, die Wohnung zu verlassen, aber jetzt traue ich mich nicht mehr zurück, und auf den Stufen vor dem Kaisers steht die winzige bucklige Frau von dem Blumenstand an der Ecke, an dem ich nur einmal etwas gekauft habe, weil ihre Blumen kümmerlich und sie unfreundlich war, und sie unterhält sich mit dem riesigen Bettler, der irgendwie immer hier ist, der hier zu wohnen scheint auf diesen Stufen mit seinem alten, wie von Motten zerfressenen Hund, also tue ich so, als wüsste ich wohin, und überquere die Straße, um gegenüber in den Park zu gehen, vielleicht in der Hoffnung, dass hier niemand sein wird, doch am Eingang steht die dicke vietnamesische Zigarettendealerin, tritt von einem Fuß auf den anderen, während ihr Atem in der Kälte dampft.
In meiner Eile, an ihr vorbeizukommen, nehme ich den schmalen Pfad mitten über die graue Wiese, obwohl ich lieber unter den Bäumen geblieben wäre, obgleich sie kahl sind und ich an den mit Bänken ausgestatteten Séparées vorbeigemusst hätte, in denen sonst die Alkis sitzen, aber jetzt ist es wahrscheinlich zu kalt und alles menschenleer und ich bin dankbar deswegen.
Der Weg teilt sich in drei verschiedene Richtungen und plötzlich weiß ich nicht mehr, wo ich hinsoll. Wie die Beine eines unendlich großen Tieres türmen sich ein paar gewaltige Birken über einen kleinen Spielplatz und irgendwie hilflos bleibe ich an seinem Rand stehen. Niemals habe ich ein Kind hier spielen sehen, die farbigen Spielgeräte schimmern verlogen durch den Nebel und die bunten Wände des verbarrikadierten Platzhäuschens dahinter sind zerfressen von Sprayertags. Ringsherum ist das Gestrüpp schwarz und dicht, und wer würde es schon hören, das Geschrei der verschleppten Kinder, die 10 Jahre später bleich und abgemagert aus ihren Kellern und Hinterhöfen herauskriechen und nicht einmal von ihren eigenen Müttern erkannt werden?
Ich flüchte mich auf eine Bank, die etwas abseits unter einem der verfrorenen Bäume steht. Vor mir im Sand hockt ein verrottetes Krokodil, das einmal grün gewesen ist, und beäugt mich mit aufgesperrtem Maul. Mannshohe Holzpfähle bemalt mit geisterhaften Fratzen ragen wie trunken in den Nebel und dann sehe ich das Kind. Es hat die Kapuze seiner roten Jacke über den gesenkten Kopf gezogen und sitzt alleine auf einer hölzernen Wippe, die gestaltet ist wie ein schlangenartiger Drache mit zwei Köpfen: gespaltene Zungen ringeln sich zwischen den spitzen Zähnen und das Kind sitzt auf einem dieser Köpfe und rührt sich nicht. Aber dann bin ich mir plötzlich nicht mehr sicher, weil ich sein Gesicht nicht sehen kann, und was macht es da, allein auf einer Wippe, regungslos, und ich versuche zu erkennen, wie seine Hände aussehen, die es vor sich auf das Holz gelegt hat, ob es überhaupt Kinderhände sind, menschlich, und wenn es plötzlich zu mir herübersieht und seine Augen schwarz sind, vollkommen schwarz, auch das Weiße, ohne Pupillen, tot, und ich stehe auf und versuche, nicht zu rennen, nicht auf mich aufmerksam zu machen, während ich mache, dass ich wegkomme.
Am Nachmittag erscheint die Sonne wie ein bleiches Gespenst am weißen Himmel und später in der Straßenbahn ist es mir egal, was die Leute um mich herum denken. Der mit gelbem Kunststoff überzogene Haltegriff, hinter dem ich versuche, mich zu verstecken, fühlt sich irgendwie vergrößert an in meinen verkrampften Händen, irgendwie klebrig. Niemand scheint mich zu beachten und vielleicht bin ich niemals hier gewesen und ich fahre immer weiter und hoffe, dass wir niemals anhalten werden, aber an der Endstation steige ich aus und stehe eine Weile am Ende der Gleise, während der Himmel über mir langsam eine blassblaue Farbe annimmt.
 

Lakritze

Mitglied
Brrrr. Nach der Lektüre muß ich mich schütteln. Schöner Einblick in einen Kopf, der sich von Ängsten umzingelt sieht und dem der Bezug zur Welt verloren gegangen ist. Mir gefallen solche Momentaufnahmen ohne Entwicklung oder gar Erklärung, endlose innere Monologe. Und ich mag es, wie ich hier gleich anfange zu spekulieren: was hat der Protagonist? Ist er/sie krank, hat vielleicht üble Erfahrungen gemacht ...? Wie geht es weiter?

[...] schon im Treppenhaus auffallen können, an meiner Erleichterung, niemande[red]m[/red] zu begegnen, sich ein simples „Guten Morgen“ ersparen zu können, aber ich hatte keinen Kaffee mehr und vielleicht auch Hunger, [strike]aber[/strike] [blue]doch[/blue] dann habe ich mich nicht getraut, beim Bäcker [...]

[...] etwas gekauft habe, weil ihre Blumen kümmerlich [red]waren[/red] und sie unfreundlich [strike]war[/strike], und sie unterhält sich mit dem riesigen Bettler [...]

In meiner Eile, an ihr vorbeizukommen, nehme ich den schmalen Pfad mitten über die graue Wiese, obwohl ich lieber unter den Bäumen geblieben wäre, [strike]obgleich[/strike] [blue]auch wenn[/blue] sie kahl sind [...]

[...] türmen sich ein paar gewaltige Birken über einen [blue]einem?[/blue] kleinen Spielplatz[red],[/red] und irgendwie hilflos bleibe ich an seinem Rand stehen.

[...] und wer würde es schon hören, das Geschrei der verschleppten Kinder, die 10 Jahre später bleich und abgemagert aus ihren Kellern und Hinterhöfen herauskriechen und nicht einmal von ihren eigenen Müttern erkannt werden? [blue][»ihren« -- aus wessen Kellern?][/blue]

Mannshohe Holzpfähle bemalt mit geisterhaften Fratzen ragen wie trunken in den Nebel[red],[/red] und dann sehe ich das Kind.
[...] ringeln sich zwischen den spitzen Zähnen[red],[/red] und das Kind sitzt auf einem dieser Köpfe und rührt sich nicht.

[...] ich versuche zu erkennen, wie seine Hände aussehen, die es vor sich auf das Holz gelegt hat, ob es überhaupt Kinderhände sind, menschlich, und wenn es plötzlich zu mir herübersieht und seine Augen schwarz sind, vollkommen schwarz, auch das Weiße, ohne Pupillen, tot, und ich stehe auf und versuche, nicht zu rennen, nicht auf mich aufmerksam zu machen, während ich mache, dass ich wegkomme.
[blue]... »und wenn es plötzlich zu mir herübersieht«: da steht nicht, daß es herübersieht; es könnte nur sein, daß -- das ist der einzige Moment in der Geschichte, an dem der innere Monolog Panik erkennen läßt. Klasse. [/blue]

[...] wie ein bleiches Gespenst am weißen Himmel[red],[/red] und später in der Straßenbahn ist es mir egal, was die Leute um mich herum denken.

Niemand scheint mich zu beachten[red],[/red] und vielleicht bin ich niemals hier gewesen[red],[/red] und ich fahre immer weiter und hoffe, dass wir niemals anhalten werden, aber an der Endstation steige ich aus und stehe eine Weile am Ende der Gleise, während der Himmel über mir langsam eine blassblaue Farbe annimmt.

[blue]Brrr: weil er ja jetzt draußen steht, unter dem Himmel, aber einer Erleichterung oder gar Lösung seiner Ängste näher ist er immer noch nicht ... [/blue]
 

monday

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Keine gute Idee, die Wohnung zu verlassen, das habe ich schon an der Ampel gemerkt, deren rotes Licht einfach zu grell war für diesen Tag, an dem Nebel wie Trockeneis die Luft erfüllt, und es hätte mir auch schon im Treppenhaus auffallen können, an meiner Erleichterung, niemandem zu begegnen, sich ein simples „Guten Morgen“ ersparen zu können, aber ich hatte keinen Kaffee mehr und vielleicht auch Hunger, doch dann habe ich mich nicht getraut, beim Bäcker im Kaisers ein Brötchen zu kaufen, und als ich aus dem Supermarkt komme, kann ich mich nicht erinnern, ob mir an der Kasse ein „Danke“ gelungen ist.
Keine gute Idee, die Wohnung zu verlassen, aber jetzt traue ich mich nicht mehr zurück, und auf den Stufen vor dem Kaisers steht die winzige bucklige Frau von dem Blumenstand an der Ecke, an dem ich nur einmal etwas gekauft habe, weil ihre Blumen kümmerlich waren und sie unfreundlich, und sie unterhält sich mit dem riesigen Bettler, der irgendwie immer hier ist, der hier zu wohnen scheint auf diesen Stufen mit seinem alten, wie von Motten zerfressenen Hund, also tue ich so, als wüsste ich wohin, und überquere die Straße, um gegenüber in den Park zu gehen, vielleicht in der Hoffnung, dass hier niemand sein wird, doch am Eingang steht die dicke vietnamesische Zigarettendealerin, tritt von einem Fuß auf den anderen, während ihr Atem in der Kälte dampft.
In meiner Eile, an ihr vorbeizukommen, nehme ich den schmalen Pfad mitten über die graue Wiese, obwohl ich lieber unter den Bäumen geblieben wäre, auch wenn sie kahl sind und ich an den mit Bänken ausgestatteten Séparées vorbeigemusst hätte, in denen sonst die Alkis sitzen, aber jetzt ist es wahrscheinlich zu kalt und alles menschenleer und ich bin dankbar deswegen.
Der Weg teilt sich in drei verschiedene Richtungen und plötzlich weiß ich nicht mehr, wo ich hinsoll. Wie die Beine eines unendlich großen Tieres türmen sich ein paar gewaltige Birken über einen kleinen Spielplatz und irgendwie hilflos bleibe ich an seinem Rand stehen. Niemals habe ich ein Kind hier spielen sehen, die farbigen Spielgeräte schimmern verlogen durch den Nebel und die bunten Wände des verbarrikadierten Platzhäuschens dahinter sind zerfressen von Sprayertags. Ringsherum ist das Gestrüpp schwarz und dicht, und wer würde es schon hören, das Geschrei der verschleppten Kinder, die 10 Jahre später bleich und abgemagert aus Kellern und Hinterhöfen herauskriechen und nicht einmal von ihren eigenen Müttern erkannt werden?
Ich flüchte mich auf eine Bank, die etwas abseits unter einem der verfrorenen Bäume steht. Vor mir im Sand hockt ein verrottetes Krokodil, das einmal grün gewesen ist, und beäugt mich mit aufgesperrtem Maul. Mannshohe Holzpfähle bemalt mit geisterhaften Fratzen ragen wie trunken in den Nebel und dann sehe ich das Kind. Es hat die Kapuze seiner roten Jacke über den gesenkten Kopf gezogen und sitzt alleine auf einer hölzernen Wippe, die gestaltet ist wie ein schlangenartiger Drache mit zwei Köpfen: gespaltene Zungen ringeln sich zwischen den spitzen Zähnen und das Kind sitzt auf einem dieser Köpfe und rührt sich nicht. Aber dann bin ich mir plötzlich nicht mehr sicher, weil ich sein Gesicht nicht sehen kann, und was macht es da, allein auf einer Wippe, regungslos, und ich versuche zu erkennen, wie seine Hände aussehen, die es vor sich auf das Holz gelegt hat, ob es überhaupt Kinderhände sind, menschlich, und wenn es plötzlich zu mir herübersieht und seine Augen schwarz sind, vollkommen schwarz, auch das Weiße, ohne Pupillen, tot, und ich stehe auf und versuche, nicht zu rennen, nicht auf mich aufmerksam zu machen, während ich mache, dass ich wegkomme.
Am Nachmittag erscheint die Sonne wie ein bleiches Gespenst am weißen Himmel und später in der Straßenbahn ist es mir egal, was die Leute um mich herum denken. Der mit gelbem Kunststoff überzogene Haltegriff, hinter dem ich versuche, mich zu verstecken, fühlt sich irgendwie vergrößert an in meinen verkrampften Händen, irgendwie klebrig. Niemand scheint mich zu beachten und vielleicht bin ich niemals hier gewesen und ich fahre immer weiter und hoffe, dass wir niemals anhalten werden, aber an der Endstation steige ich aus und stehe eine Weile am Ende der Gleise, während der Himmel über mir langsam eine blassblaue Farbe annimmt.
 

monday

Mitglied
Ich möchte mich bedanken für Euer positives Feedback und auch für Deine Mühe, Lakritze, Verbesserungen zu posten!
LG monday
 



 
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