Nacht-ohne-Morgen
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Es donnert und Augenblicke später entladen sich Blitze. Das Unwetter tobt jetzt über mir und taucht die Ansammlung aus maroden Blockbauten und architektonischen Missgeburten, die gemeinsam beschlossen haben, Stadt zu spielen, in eine launige Dusche aus Wind und Regen. Die Wischblätter bewegen sich auf höchster Stufe, ihr frenetischer Tanz bleibt aber weitgehend wirkungslos im Kampf gegen die Wassermassen, die mir die Sicht rauben. Was sich auch immer vor mir auf der Straße abspielt, ich kann es lediglich erahnen. Mehr denn je fühlt es sich falsch an, meiner Arbeit nachzugehen. Bei Tageslicht sind meine Fahrkünste mit denen von Stevie Wonder zu vergleichen. In Momenten wie diesen kann ich nur noch Erdoğan-Fans dazu raten, mit mir zu reisen. Allerdings sind diese heute anderweitig unterwegs und auch Vertreter anderer Gruppen, deren gesellschaftlicher Nutzen eine eher unterordnete Rolle spielt, halten sich fern von mir.
Stattdessen steht sie am Straßenrand. Erst als ich an ihr vorbeifahre, erkenne ich in ihr den auf mich wartenden Fahrgast. In den Augenblicken, in denen Blitze die Finsternis durchzucken und die Geschehnisse um mich herum beleuchten, sieht sie einem Baum zum Verwechseln ähnlich. Als sie mich in ihrem bestellten Fahrzeug erblickt, winkt mir einer ihrer knorrigen Äste.
Ich halte den Wagen mitten auf der Straße und springe raus, um der alten Frau beim Einsteigen behilflich zu sein. Was wie eine Geste der Freundlichkeit wirkt, ist im Grunde purer Eigennutz. Ich möchte nicht, dass der Sturm sie von den Beinen reißt und mir eine Fahrt entgeht.
„Das hat aber lange gedauert“, plärrt sie, nachdem ich sie auf den Beifahrersitz gehievt habe. „Ich bin ja ganz nass!“
„Warum haben Sie nicht drinnen auf mich gewartet?“
„Hätte ich geahnt, dass das so lange dauert, hätte ich das getan.“
Schachmatt.
„Bringen Sie mich zum Einkaufszentrum in die Stadt, ich habe noch Besorgungen zu erledigen.“
„Davon werden Sie aber nicht trocken“, wende ich ein.
„Das ist mir nun auch gleich.“
Um mich besser auf den Verkehr konzentrieren zu können, habe ich das Radio abgestellt. Jetzt hören wir nur den Regen, wie er auf das Autodach prasselt. Es ist so laut, dass ich vom Motor nichts mehr hören kann.
Aus dem Fenster blickend, murmelt sie: „Hach, da tobt es aber im Himmel. Man will fast meinen, der liebe Herrgott könnte endlich genug haben von Salzgitter.“
Ich mag die Vorstellung, wie eine Sintflut über diesen Moloch aus Verkommenheit und Schande zieht.
„Wenn er klug ist, hat er es.“
„Oh, Sie sind wohl nicht aus Salzgitter, junger Mann?“
„Doch. Ich bin hier geboren. Und ich fürchte, hier werde ich auch sterben.“
Sie lacht. Es ist herzlich und ansteckend. Unerwartet muss ich lächeln.
„Das kann ich sagen. Bei mir dauert es gewiss nicht mehr so lang, aber Sie sollten wirklich nicht so sprechen.“
Ihre Worte und das Schweigen im Anschluss verbreiten stille Melancholie. In diesem Moment der Ablenkung bemerke ich ein entgegenkommendes Auto auf meiner Fahrspur. Fernlicht blendet zur Warnung auf. Ein Fluch liegt auf meinen Lippen, als mir klar wird, dass nicht der andere, sondern ich mich bedenklich weit auf der Gegenfahrbahn befinde. Eine schnelle Korrektur rettet unser aller Leben.
„Das macht aber nichts, ich bin ja auch ziemlich in die Jahre gekommen.“ Von dem Zwischenfall hat sie nichts mitbekommen, sonst würde sie mich nicht so angrinsen. „Los, schätzen Sie mal, wie alt ich bin.“
120, denke ich und frage: „70?“
„85!“, lacht sie, sichtlich stolz.
Weil ihre Art ungeahnt sympathisch auf mich wirkt, gebe ich der Versuchung nach, mehr über sie erfahren zu wollen.
„Haben Sie immer in Salzgitter gelebt?“
„Nein, nein. Ich bin zugezogen.“
„Woher?“
„Hamburg.“
„Gute Frau. Sie haben Hamburg verlassen für… das hier?“
„Wenn man so will…“
„Warum macht man so etwas? Jetzt sagen Sie bitte nicht ‚die Liebe‘.“
Wir stehen an einer roten Ampel, was mir Gelegenheit bietet, sie anzusehen, sodass sich unsere Blicke begegnen.
„Die Liebe“, seufzt sie schließlich. Sie klingt verträumt und ihre Augen füllen sich mit Feuchtigkeit. Ob es sich dabei um altersbedingten Eiter oder Tränen handelt, kann ich nicht genau sagen.
„Hat es sich wenigstens gelohnt?“
„Sagen Sie es mir. Ich habe drei Töchter, fünf Enkel und eine Urenkelin.“
Ich denke nach, offenbar zu lange für sie, denn sie fragt, nachdem sie mich einen Moment beäugt hat:
„Haben Sie schon Kinder?“
„Ich vermute nicht, nein.“
„Ach. Sie sind ja auch noch jung und haben das ganze Leben vor sich. Sind Sie wenigstens verheiratet?“
Ich schüttele den Kopf.
„Grundgütiger. Sind Sie etwa schwul?“
Ich hebe die Augenbrauen.
„Oh, seien Sie mir nicht böse, wenn ich zu direkt bin. Aber normal ist das nicht, oder?“
Ich überlege lange, wie ich drauf reagieren soll. Ich störe mich an der Vorstellung, dass sie Homosexualität als etwas Verwerfliches in Betracht zieht. Auch die Relevanz, die sie dem Heiraten beimisst, kollidiert im höchsten Maße mit meinem Wertekonzept. Ich halte ihr aber zugute, dass sie wohl mehr als doppelt so viel Lebenszeit in Salzgitter zugebracht hat als ich. Das hinterlässt Spuren. Abgesehen davon erinnert sie mich sehr an eine Tante, die ähnlich desaströse Vorstellungen hat, aber dafür ausgesprochen gut kochen kann. Aus diesem Grund gebe ich ihr nicht das Kontra, das mir auf der Zunge liegt. Außerdem deute ich ihren letzten Satz als Versuch einer Entschuldigung.
„Schon in Ordnung. Nein. Ich bin nicht schwul.“
„Das finde ich gut. Eine Frau stünde Ihnen auch viel besser zu Gesicht. Sie sind so schön braun.“
Ich sehe zwar den Zusammenhang nicht unbedingt, vermute aber, dass die Aussage positiv gemeint ist.
„Danke, ich nehme schnell Sonnenlicht an.“
Ich bringe den Wagen in einer Parkbucht zum Stehen.
“Ist es recht, wenn ich Sie hier rauslasse?“
Sie bezahlt mich, dann helfe ich ihr aus dem Fahrzeug. Der Wind peitscht uns um die Ohren und ich beschließe, sie noch bis zum Eingang zu begleiten. Das stellt für mich keinen großen Aufwand dar, außerdem kann ich dann dafür sorgen, dass sie nicht durch eine Böe umgerissen wird. Wie selbstverständlich hakt sie sich bei mir ein und wir gehen im gemächlichen Tempo die fünf oder sechs Meter zum Eingang. Als sich die Schiebetüren des Einkaufszentrums leise murrend öffnen, lässt sie mich los.
„Für einen wie Sie wäre ich auch nach Salzgitter gezogen. Auch wenn Sie ein miserabler Autofahrer sind“, sagt sie zum Abschied und schlurft dann alleine weiter.
Stattdessen steht sie am Straßenrand. Erst als ich an ihr vorbeifahre, erkenne ich in ihr den auf mich wartenden Fahrgast. In den Augenblicken, in denen Blitze die Finsternis durchzucken und die Geschehnisse um mich herum beleuchten, sieht sie einem Baum zum Verwechseln ähnlich. Als sie mich in ihrem bestellten Fahrzeug erblickt, winkt mir einer ihrer knorrigen Äste.
Ich halte den Wagen mitten auf der Straße und springe raus, um der alten Frau beim Einsteigen behilflich zu sein. Was wie eine Geste der Freundlichkeit wirkt, ist im Grunde purer Eigennutz. Ich möchte nicht, dass der Sturm sie von den Beinen reißt und mir eine Fahrt entgeht.
„Das hat aber lange gedauert“, plärrt sie, nachdem ich sie auf den Beifahrersitz gehievt habe. „Ich bin ja ganz nass!“
„Warum haben Sie nicht drinnen auf mich gewartet?“
„Hätte ich geahnt, dass das so lange dauert, hätte ich das getan.“
Schachmatt.
„Bringen Sie mich zum Einkaufszentrum in die Stadt, ich habe noch Besorgungen zu erledigen.“
„Davon werden Sie aber nicht trocken“, wende ich ein.
„Das ist mir nun auch gleich.“
Um mich besser auf den Verkehr konzentrieren zu können, habe ich das Radio abgestellt. Jetzt hören wir nur den Regen, wie er auf das Autodach prasselt. Es ist so laut, dass ich vom Motor nichts mehr hören kann.
Aus dem Fenster blickend, murmelt sie: „Hach, da tobt es aber im Himmel. Man will fast meinen, der liebe Herrgott könnte endlich genug haben von Salzgitter.“
Ich mag die Vorstellung, wie eine Sintflut über diesen Moloch aus Verkommenheit und Schande zieht.
„Wenn er klug ist, hat er es.“
„Oh, Sie sind wohl nicht aus Salzgitter, junger Mann?“
„Doch. Ich bin hier geboren. Und ich fürchte, hier werde ich auch sterben.“
Sie lacht. Es ist herzlich und ansteckend. Unerwartet muss ich lächeln.
„Das kann ich sagen. Bei mir dauert es gewiss nicht mehr so lang, aber Sie sollten wirklich nicht so sprechen.“
Ihre Worte und das Schweigen im Anschluss verbreiten stille Melancholie. In diesem Moment der Ablenkung bemerke ich ein entgegenkommendes Auto auf meiner Fahrspur. Fernlicht blendet zur Warnung auf. Ein Fluch liegt auf meinen Lippen, als mir klar wird, dass nicht der andere, sondern ich mich bedenklich weit auf der Gegenfahrbahn befinde. Eine schnelle Korrektur rettet unser aller Leben.
„Das macht aber nichts, ich bin ja auch ziemlich in die Jahre gekommen.“ Von dem Zwischenfall hat sie nichts mitbekommen, sonst würde sie mich nicht so angrinsen. „Los, schätzen Sie mal, wie alt ich bin.“
120, denke ich und frage: „70?“
„85!“, lacht sie, sichtlich stolz.
Weil ihre Art ungeahnt sympathisch auf mich wirkt, gebe ich der Versuchung nach, mehr über sie erfahren zu wollen.
„Haben Sie immer in Salzgitter gelebt?“
„Nein, nein. Ich bin zugezogen.“
„Woher?“
„Hamburg.“
„Gute Frau. Sie haben Hamburg verlassen für… das hier?“
„Wenn man so will…“
„Warum macht man so etwas? Jetzt sagen Sie bitte nicht ‚die Liebe‘.“
Wir stehen an einer roten Ampel, was mir Gelegenheit bietet, sie anzusehen, sodass sich unsere Blicke begegnen.
„Die Liebe“, seufzt sie schließlich. Sie klingt verträumt und ihre Augen füllen sich mit Feuchtigkeit. Ob es sich dabei um altersbedingten Eiter oder Tränen handelt, kann ich nicht genau sagen.
„Hat es sich wenigstens gelohnt?“
„Sagen Sie es mir. Ich habe drei Töchter, fünf Enkel und eine Urenkelin.“
Ich denke nach, offenbar zu lange für sie, denn sie fragt, nachdem sie mich einen Moment beäugt hat:
„Haben Sie schon Kinder?“
„Ich vermute nicht, nein.“
„Ach. Sie sind ja auch noch jung und haben das ganze Leben vor sich. Sind Sie wenigstens verheiratet?“
Ich schüttele den Kopf.
„Grundgütiger. Sind Sie etwa schwul?“
Ich hebe die Augenbrauen.
„Oh, seien Sie mir nicht böse, wenn ich zu direkt bin. Aber normal ist das nicht, oder?“
Ich überlege lange, wie ich drauf reagieren soll. Ich störe mich an der Vorstellung, dass sie Homosexualität als etwas Verwerfliches in Betracht zieht. Auch die Relevanz, die sie dem Heiraten beimisst, kollidiert im höchsten Maße mit meinem Wertekonzept. Ich halte ihr aber zugute, dass sie wohl mehr als doppelt so viel Lebenszeit in Salzgitter zugebracht hat als ich. Das hinterlässt Spuren. Abgesehen davon erinnert sie mich sehr an eine Tante, die ähnlich desaströse Vorstellungen hat, aber dafür ausgesprochen gut kochen kann. Aus diesem Grund gebe ich ihr nicht das Kontra, das mir auf der Zunge liegt. Außerdem deute ich ihren letzten Satz als Versuch einer Entschuldigung.
„Schon in Ordnung. Nein. Ich bin nicht schwul.“
„Das finde ich gut. Eine Frau stünde Ihnen auch viel besser zu Gesicht. Sie sind so schön braun.“
Ich sehe zwar den Zusammenhang nicht unbedingt, vermute aber, dass die Aussage positiv gemeint ist.
„Danke, ich nehme schnell Sonnenlicht an.“
Ich bringe den Wagen in einer Parkbucht zum Stehen.
“Ist es recht, wenn ich Sie hier rauslasse?“
Sie bezahlt mich, dann helfe ich ihr aus dem Fahrzeug. Der Wind peitscht uns um die Ohren und ich beschließe, sie noch bis zum Eingang zu begleiten. Das stellt für mich keinen großen Aufwand dar, außerdem kann ich dann dafür sorgen, dass sie nicht durch eine Böe umgerissen wird. Wie selbstverständlich hakt sie sich bei mir ein und wir gehen im gemächlichen Tempo die fünf oder sechs Meter zum Eingang. Als sich die Schiebetüren des Einkaufszentrums leise murrend öffnen, lässt sie mich los.
„Für einen wie Sie wäre ich auch nach Salzgitter gezogen. Auch wenn Sie ein miserabler Autofahrer sind“, sagt sie zum Abschied und schlurft dann alleine weiter.
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