03. Nacht ohne Morgen - Geschwisterliebe (Geschichten aus dem Taxi)

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Der Pool an brauchbaren Fahrgästen ist in Salzgitter limitiert. Das Tagesgeschäft wird dominiert von alten Menschen, die unter dem Vorwand des Arztbesuchs soziale Nähe im Taxi suchen. Die Gesprächsthemen sind in diesem Zusammenhang Krankheiten, Todesfälle und das Wetter. Ab und an wird auch ein wenig Erinnerungskultur betrieben, indem die Errungenschaften von Adolf Hitler thematisiert werden. Alles in allem also Inhalte, denen ich nicht viel abgewinnen kann. Des Nachts ernähren wir uns von jenen, die schon sehr lange in dieser Stadt leben und sich als letztes Mittel des Vergessens ihren Süchten hingeben. Weil es in Salzgitter sehr viel zu vergessen gibt, ist die Pro-Kopf-Dichte an Spielotheken und der Verbrauch an Alkohol im bundesweiten Vergleich am Höchsten.

Eine echte Abwechslung stellen daher Schulfahrten für mich dar. Bei diesen gilt es, schulpflichtige Kinder zu ihren staatlichen Lernstätten zu bringen. Das Privileg, von einem Personenbeförderungsunternehmen zur Bildungseinrichtung transportiert zu werden, ist nur wenigen Schülern vorbehalten. Oft liegt es daran, weil sich die entsprechende Strecke vom Wohnort zur Schule für die Stadt nicht rentiert, um einen ganzen Busbetrieb am Laufen zu halten oder die Beförderten nennen Eigenschaften die ihre, welche eine besondere Aufsichtspflicht erfordern. Diese Aufträge werden von der Stadt Salzgitter ausgeschrieben und die zahlreichen Taxiunternehmen unterbieten sich gegenseitig bei einer Auktion. Besonders gute Angebote erfolgen dabei auf Kosten von Löhnen und Sicherheitsaspekten. Da ich meinen Dienst in einer besonders skrupellosen Firma verrichte, landen die meisten Fahrten dieser Art in unserer Obhut. Es ist dabei ein besonderes Anliegen der Geschäftsführung, dass den Eltern gegenüber nicht erwähnt wird, was wir als Fahrer an Bezahlung erhalten. Hintergrund dieser Überlegung ist, dass jemand, der diese Arbeit trotz der schlechten Vergütung verrichtet, offenbar besonders angewiesen und dementsprechend verzweifelt sein muss. Und die Vorstellung, dass ein kummerbeladener Mensch am Steuer des Fahrzeugs sitzt, das die geliebten Wonneproppen über die alleenreichen Straßen befördert, könnte Zweifel bezüglich unserer Eignung wecken und zur Folge haben, dass Aufträge verloren gehen. Da ich eine regelrechte Frohnatur bin, drängt sich niemandem die Frage auf, zu welch lächerlichen Konditionen ich Kinder von A nach B fahre.

Hugo (9) und Lisa (11) sind Geschwister. Sie sind der Nachwuchs einer Unternehmerin, die ein ansehnliches Hausmädchen in ihren Diensten hat. Die Dame, die sich in der Blüte ihres Lebens befindet und diese Begebenheit mittels geeigneter Kleiderwahl gern mit der Welt teilt, bringt die Kinder morgens zu meinem Auto. Der Augenblick, in welchem wir beide jeweils eines der Kinder anschnallen, gehört zu den Höhepunkten meines Alltags.

Die Schule von Hugo und Lisa liegt eine ganze Ecke von ihrem Wohnort entfernt, sodass ich mit ihnen etwa eine halbe Stunde pro Fahrt unterwegs bin. Da wir drei uns ziemlich gut verstehen, hole ich die Kinder am Nachmittag meistens auch wieder ab. Während wir drei morgens etwas weggetreten sind, aufgrund der frühen Uhrzeit, beschränken sich jegliche Interaktion auf ein Minimum (meine Schützlinge hängen die ganze Zeit nur in ihren Gurten und harren teilnahmslos aus, bis wir an der Schule sind und ich mache das gleiche, während ich versuche, das Fahrzeug sicher zum Bestimmungsort zu bringen). Am Nachmittag sind wir alle etwas aufgedrehter.

Weil beide das Down-Syndrom ihr Eigen nennen, sprechen sie etwas langsamer und verwenden ein eher eingeschränktes Vokabular. Mit dieser Eigenschaft unterscheiden sie sich so gut wie gar nicht von meinen Kollegen, welche mich den ganzen Tag über das Funkgerät begleiten. Auf selbiges, das auf dem Armaturenbrett zwischen uns angebracht ist, zeigt Hugo, der auf dem Beifahrersitz sitzt und breit grinst.

„Teeelefon!“ ruft er freudig.

Ich: „Möchtest du telefonieren?“

Hugo: „Ja!“

Ich finde, es wird Zeit für eine gute Filmreferenz und fordere Hugo auf, mir nachzusprechen:

Ich: „Hugo…“

Hugo: „Hugo…“

Ich: „…nach…“

Hugo : „…nach…“

Ich: „…Hause…“

Hugo: „…Hause…“

Ich: „…telefonieren.“

Hugo: „…telefonieren.“

Enthusiastisch wie ein Cockerspaniel klatsche ich in die Hände und bitte ihn, das Ganze nochmal vollständig zu wiederholen.

„Hugo nach Hause telefonieren!“ sagt er etwas unsicher, aber fehlerfrei und wartet mit leicht zusammengekniffenen Mandelaugen meine Reaktion ab.

Ich bin so begeistert, dass ich ihm das Mikrofon des Funkapparats in die rundliche Hand drücke. Von meiner Freude angesteckt, betätigt er lachend den Auslöseknopf und sendet seinen gelernten Satz in den offenen Kanal meines Unternehmens. Als die Zentrale den Funkspruch keinem der Fahrer zuordnen kann und um Wiederholung bittet, schalte ich das Gerät sicherheitshalber ab. Das stört Hugo aber nicht, er ruft den Satz noch einige Male ins Mikrofon und feiert die Situation, während ich vor mich hin grinse und den Wagen in die Straße der Kinder lenke. Als ich in den Innenspiegel blicke, sehe ich, dass mich Lisa ziemlich böse ansieht. Offenbar ist ihr nicht entgangen, dass ich mit ihrem Bruder Spaß habe. Möglicherweise, schießt es mir in den Kopf, könnte sie der Annahme verfallen sein, dass ich mich sogar auf seine Kosten lustig mache. Voller Unbehagen fällt mir auf, dass sie die letzten Meter zum Haus ihren Blick nicht mehr von mir wendet.

Als wir angekommen sind, steige ich aus und schnalle die Kinder ab. Zunächst Hugo, der das Handgerät achtlos fallenlässt und zu seinem Hausmädchen stürmt. Ich beobachte verstohlen, wie er seinen riesigen Kopf in das prachtvolle Dekolleté des Hausmädchens drückt. Ein bisschen neidisch wende ich mich Lisa zu. Anders als Hugo läuft sie nicht davon, nachdem ich sie von ihrem Gurt befreit habe. Stattdessen bleibt sie neben mir stehen und macht eine Geste, die mir bedeutet, dass ich mich zu ihr herunterbegeben soll. Ich knie nieder, sodass wir uns auf Augenhöhe befinden. Sie hebt die Hand und deutet auf den Ärmel meines Hemds. „Kacka.“

Ich hatte heute mehrfach Schokolade und habe die Befürchtung, dass ich mich unbemerkt vollgeschmiert haben könnte. Voller Eifer suche ich den Stoff meiner Kleidung nach Spuren ab, kann aber nichts finden.

„Wo?“ frage ich.

„Kacka!“ ruft Lisa.

Ich suche in großer Verzweiflung weiter, kann aber keine bräunliche Verfärbung auf meinem schwarzen Hemd finden.

„Ja, wo denn?“ frage ich erneut genervt.

„Kacka!“ ruft sie wieder.

Dieser Ablauf spielt sich noch einige Male so ab, bis ich irgendwann am Ende meiner Geduld im Begriff bin aufzustehen. Lisa verhindert dies aber, indem sie mich an meinem Arm greift. Ich verharre und warte, wie sie den Ärmel meines Hemds hochschiebt, auf meine stark pigmentierte Haut zeigt und erneut feststellt: „Kacka!“

Sie verhöhnt mich ein paar Augenblicke mit ihrem schrillen Lachen. Nachdem sie der Auffassung ist, dass die Ehre ihres Bruders wiederhergestellt ist, greift sie ihren Ranzen und zieht ohne ein weiteres Wort von dannen.
 
G

Gelöschtes Mitglied 14278

Gast
Hallo Nacht-ohne-Morgen,

Du schreibst ohne Zweifel in einem unterhaltsamen Stil und dazu auch noch überwiegend fehlerfrei. Das gefällt mir schon mal. Und lernen konnte ich dabei auch noch etwas: Dass man heutzutage auch mit dem Taxi in die Schule fahren kann. Wow! Wir mussten dazu immer das Fahrrad nehmen.

Nicht ganz so gut gefällt mir Deine Einschätzung der alten Leute im ersten Absatz: Ich glaube nicht, dass jemand „unter dem Vorwand des Arztbesuchs soziale Nähe sucht“. Die meisten Alten könnten sich wohl ein Taxi von ihrer spärlichen Rente kaum leisten, und wenn sie einen Beförderungsschein erhalten, ist der Arztbesuch auch wirklich notwendig. Vielleicht denkst Du noch einmal über diese Formulierung nach.

Gruß, Ciconia
 
Hallo Ciconia und danke für dein ausführliches Feedback! Ich finde es immer schön, wenn Menschen sich diese Zeit nehmen.

Es freut mich, dass es mir in der mühsamen Selbstkontrolle gelungen ist, den überwiegenden Teil meiner Textfehler aus dem Verkehr zu ziehen. Es fällt mir unheimlich schwer, in meinen eigenen Werken vernünftig zu korrigieren, irgendwann übernimmt das Gehirn im Autopilot das Lesen und sämtliche Fehler fallen mir nicht mehr auf.

Als jemand, der 15 Jahre in der Personenbeförderung tätig war, kann ich dir sagen. Du hast Recht, das Geld alter Leute ist wirklich knapp. Sollten meine bewusst zugespitzten Zeilen den Eindruck erweckt haben, dass dem anders ist, sieh es mir bitte nicht nach.

Meine Texte unterliegen natürlich einer gewissen stilistischer Ausprägung, die eher Richtung Sarkasmus oder schwarzer Humor geht. Der Satz, den du ankreidest, fällt unter diese Kategorie. Ich überspitze den Umstand und blähe das Ganze im Sinne der Dramatik etwas auf. Dennoch ist es ein trauriger Fakt, dass der Taxifahrer eine der wenigen wiederkehrenden Menschen im Leben vieler Senioren ist. Viele alte Leute haben keine Familie und Freunde mehr. Es geschieht dann sehr oft, dass sie im Großstadtdschungel ein sehr einsames Dasein fristen. Es ist schlicht und ergreifend das Ergebnis einer kontinuierlichen Prozesses, der bei vielen einsetzt, die kein so großes soziales Umfeld haben. Ich weiß nicht, wie es bei dir im Umfeld ist, aber ich höre immer wieder die Geschichte, dass ein betagter alter Mensch wochenlang tot in seiner Wohnung lag, ohne dass das wem aufgefallen ist. Und diese Thematik versuche ich anzuschneiden. Dies natürlich aus der extrem subjektiven Perspektive des Erzählers, der schon ziemlich absonderliche Situationen mit alten Menschen erlebt hat und der festen Überzeugung ist, dass alte Leute nur mit dem Taxi unterwegs sind, um ihn zu ärgern.

Ich hoffe, du kannst mir das aus einem literarisch wohlfälligen Blickwinkel doch noch verzeihen. Herzlichen Dank auf jeden Fall dafür, dass du es mir gegenüber dein Unbehagen zu Wort gebracht hast! :)
 
G

Gelöschtes Mitglied 14278

Gast
Hallo Nacht-ohne-Morgen,

danke für die aufschlussreichen Erläuterungen.

Natürlich ist klar, dass man in einer solchen Geschichte ein wenig übertreiben muss. Ich wollte Dich auch in keiner Weise angreifen, es war nur, wie Du richtig sagtest: ein leichtes Unbehagen.

Ich selbst bin glücklicherweise bei Arztbesuchen noch nicht auf ein Taxi angewiesen … und nach Salzgitter komme ich auch eher selten bis gar nicht. Dennoch sehe ich weiteren Deiner heiteren Erlebnisberichte gern entgegen. ;)

Gruß, Ciconia
 



 
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