Nacht-ohne-Morgen
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Der Pool an brauchbaren Fahrgästen ist in Salzgitter limitiert. Das Tagesgeschäft wird dominiert von alten Menschen, die unter dem Vorwand des Arztbesuchs soziale Nähe im Taxi suchen. Die Gesprächsthemen sind in diesem Zusammenhang Krankheiten, Todesfälle und das Wetter. Ab und an wird auch ein wenig Erinnerungskultur betrieben, indem die Errungenschaften von Adolf Hitler thematisiert werden. Alles in allem also Inhalte, denen ich nicht viel abgewinnen kann. Des Nachts ernähren wir uns von jenen, die schon sehr lange in dieser Stadt leben und sich als letztes Mittel des Vergessens ihren Süchten hingeben. Weil es in Salzgitter sehr viel zu vergessen gibt, ist die Pro-Kopf-Dichte an Spielotheken und der Verbrauch an Alkohol im bundesweiten Vergleich am Höchsten.
Eine echte Abwechslung stellen daher Schulfahrten für mich dar. Bei diesen gilt es, schulpflichtige Kinder zu ihren staatlichen Lernstätten zu bringen. Das Privileg, von einem Personenbeförderungsunternehmen zur Bildungseinrichtung transportiert zu werden, ist nur wenigen Schülern vorbehalten. Oft liegt es daran, weil sich die entsprechende Strecke vom Wohnort zur Schule für die Stadt nicht rentiert, um einen ganzen Busbetrieb am Laufen zu halten oder die Beförderten nennen Eigenschaften die ihre, welche eine besondere Aufsichtspflicht erfordern. Diese Aufträge werden von der Stadt Salzgitter ausgeschrieben und die zahlreichen Taxiunternehmen unterbieten sich gegenseitig bei einer Auktion. Besonders gute Angebote erfolgen dabei auf Kosten von Löhnen und Sicherheitsaspekten. Da ich meinen Dienst in einer besonders skrupellosen Firma verrichte, landen die meisten Fahrten dieser Art in unserer Obhut. Es ist dabei ein besonderes Anliegen der Geschäftsführung, dass den Eltern gegenüber nicht erwähnt wird, was wir als Fahrer an Bezahlung erhalten. Hintergrund dieser Überlegung ist, dass jemand, der diese Arbeit trotz der schlechten Vergütung verrichtet, offenbar besonders angewiesen und dementsprechend verzweifelt sein muss. Und die Vorstellung, dass ein kummerbeladener Mensch am Steuer des Fahrzeugs sitzt, das die geliebten Wonneproppen über die alleenreichen Straßen befördert, könnte Zweifel bezüglich unserer Eignung wecken und zur Folge haben, dass Aufträge verloren gehen. Da ich eine regelrechte Frohnatur bin, drängt sich niemandem die Frage auf, zu welch lächerlichen Konditionen ich Kinder von A nach B fahre.
Hugo (9) und Lisa (11) sind Geschwister. Sie sind der Nachwuchs einer Unternehmerin, die ein ansehnliches Hausmädchen in ihren Diensten hat. Die Dame, die sich in der Blüte ihres Lebens befindet und diese Begebenheit mittels geeigneter Kleiderwahl gern mit der Welt teilt, bringt die Kinder morgens zu meinem Auto. Der Augenblick, in welchem wir beide jeweils eines der Kinder anschnallen, gehört zu den Höhepunkten meines Alltags.
Die Schule von Hugo und Lisa liegt eine ganze Ecke von ihrem Wohnort entfernt, sodass ich mit ihnen etwa eine halbe Stunde pro Fahrt unterwegs bin. Da wir drei uns ziemlich gut verstehen, hole ich die Kinder am Nachmittag meistens auch wieder ab. Während wir drei morgens etwas weggetreten sind, aufgrund der frühen Uhrzeit, beschränken sich jegliche Interaktion auf ein Minimum (meine Schützlinge hängen die ganze Zeit nur in ihren Gurten und harren teilnahmslos aus, bis wir an der Schule sind und ich mache das gleiche, während ich versuche, das Fahrzeug sicher zum Bestimmungsort zu bringen). Am Nachmittag sind wir alle etwas aufgedrehter.
Weil beide das Down-Syndrom ihr Eigen nennen, sprechen sie etwas langsamer und verwenden ein eher eingeschränktes Vokabular. Mit dieser Eigenschaft unterscheiden sie sich so gut wie gar nicht von meinen Kollegen, welche mich den ganzen Tag über das Funkgerät begleiten. Auf selbiges, das auf dem Armaturenbrett zwischen uns angebracht ist, zeigt Hugo, der auf dem Beifahrersitz sitzt und breit grinst.
„Teeelefon!“ ruft er freudig.
Ich: „Möchtest du telefonieren?“
Hugo: „Ja!“
Ich finde, es wird Zeit für eine gute Filmreferenz und fordere Hugo auf, mir nachzusprechen:
Ich: „Hugo…“
Hugo: „Hugo…“
Ich: „…nach…“
Hugo : „…nach…“
Ich: „…Hause…“
Hugo: „…Hause…“
Ich: „…telefonieren.“
Hugo: „…telefonieren.“
Enthusiastisch wie ein Cockerspaniel klatsche ich in die Hände und bitte ihn, das Ganze nochmal vollständig zu wiederholen.
„Hugo nach Hause telefonieren!“ sagt er etwas unsicher, aber fehlerfrei und wartet mit leicht zusammengekniffenen Mandelaugen meine Reaktion ab.
Ich bin so begeistert, dass ich ihm das Mikrofon des Funkapparats in die rundliche Hand drücke. Von meiner Freude angesteckt, betätigt er lachend den Auslöseknopf und sendet seinen gelernten Satz in den offenen Kanal meines Unternehmens. Als die Zentrale den Funkspruch keinem der Fahrer zuordnen kann und um Wiederholung bittet, schalte ich das Gerät sicherheitshalber ab. Das stört Hugo aber nicht, er ruft den Satz noch einige Male ins Mikrofon und feiert die Situation, während ich vor mich hin grinse und den Wagen in die Straße der Kinder lenke. Als ich in den Innenspiegel blicke, sehe ich, dass mich Lisa ziemlich böse ansieht. Offenbar ist ihr nicht entgangen, dass ich mit ihrem Bruder Spaß habe. Möglicherweise, schießt es mir in den Kopf, könnte sie der Annahme verfallen sein, dass ich mich sogar auf seine Kosten lustig mache. Voller Unbehagen fällt mir auf, dass sie die letzten Meter zum Haus ihren Blick nicht mehr von mir wendet.
Als wir angekommen sind, steige ich aus und schnalle die Kinder ab. Zunächst Hugo, der das Handgerät achtlos fallenlässt und zu seinem Hausmädchen stürmt. Ich beobachte verstohlen, wie er seinen riesigen Kopf in das prachtvolle Dekolleté des Hausmädchens drückt. Ein bisschen neidisch wende ich mich Lisa zu. Anders als Hugo läuft sie nicht davon, nachdem ich sie von ihrem Gurt befreit habe. Stattdessen bleibt sie neben mir stehen und macht eine Geste, die mir bedeutet, dass ich mich zu ihr herunterbegeben soll. Ich knie nieder, sodass wir uns auf Augenhöhe befinden. Sie hebt die Hand und deutet auf den Ärmel meines Hemds. „Kacka.“
Ich hatte heute mehrfach Schokolade und habe die Befürchtung, dass ich mich unbemerkt vollgeschmiert haben könnte. Voller Eifer suche ich den Stoff meiner Kleidung nach Spuren ab, kann aber nichts finden.
„Wo?“ frage ich.
„Kacka!“ ruft Lisa.
Ich suche in großer Verzweiflung weiter, kann aber keine bräunliche Verfärbung auf meinem schwarzen Hemd finden.
„Ja, wo denn?“ frage ich erneut genervt.
„Kacka!“ ruft sie wieder.
Dieser Ablauf spielt sich noch einige Male so ab, bis ich irgendwann am Ende meiner Geduld im Begriff bin aufzustehen. Lisa verhindert dies aber, indem sie mich an meinem Arm greift. Ich verharre und warte, wie sie den Ärmel meines Hemds hochschiebt, auf meine stark pigmentierte Haut zeigt und erneut feststellt: „Kacka!“
Sie verhöhnt mich ein paar Augenblicke mit ihrem schrillen Lachen. Nachdem sie der Auffassung ist, dass die Ehre ihres Bruders wiederhergestellt ist, greift sie ihren Ranzen und zieht ohne ein weiteres Wort von dannen.
Eine echte Abwechslung stellen daher Schulfahrten für mich dar. Bei diesen gilt es, schulpflichtige Kinder zu ihren staatlichen Lernstätten zu bringen. Das Privileg, von einem Personenbeförderungsunternehmen zur Bildungseinrichtung transportiert zu werden, ist nur wenigen Schülern vorbehalten. Oft liegt es daran, weil sich die entsprechende Strecke vom Wohnort zur Schule für die Stadt nicht rentiert, um einen ganzen Busbetrieb am Laufen zu halten oder die Beförderten nennen Eigenschaften die ihre, welche eine besondere Aufsichtspflicht erfordern. Diese Aufträge werden von der Stadt Salzgitter ausgeschrieben und die zahlreichen Taxiunternehmen unterbieten sich gegenseitig bei einer Auktion. Besonders gute Angebote erfolgen dabei auf Kosten von Löhnen und Sicherheitsaspekten. Da ich meinen Dienst in einer besonders skrupellosen Firma verrichte, landen die meisten Fahrten dieser Art in unserer Obhut. Es ist dabei ein besonderes Anliegen der Geschäftsführung, dass den Eltern gegenüber nicht erwähnt wird, was wir als Fahrer an Bezahlung erhalten. Hintergrund dieser Überlegung ist, dass jemand, der diese Arbeit trotz der schlechten Vergütung verrichtet, offenbar besonders angewiesen und dementsprechend verzweifelt sein muss. Und die Vorstellung, dass ein kummerbeladener Mensch am Steuer des Fahrzeugs sitzt, das die geliebten Wonneproppen über die alleenreichen Straßen befördert, könnte Zweifel bezüglich unserer Eignung wecken und zur Folge haben, dass Aufträge verloren gehen. Da ich eine regelrechte Frohnatur bin, drängt sich niemandem die Frage auf, zu welch lächerlichen Konditionen ich Kinder von A nach B fahre.
Hugo (9) und Lisa (11) sind Geschwister. Sie sind der Nachwuchs einer Unternehmerin, die ein ansehnliches Hausmädchen in ihren Diensten hat. Die Dame, die sich in der Blüte ihres Lebens befindet und diese Begebenheit mittels geeigneter Kleiderwahl gern mit der Welt teilt, bringt die Kinder morgens zu meinem Auto. Der Augenblick, in welchem wir beide jeweils eines der Kinder anschnallen, gehört zu den Höhepunkten meines Alltags.
Die Schule von Hugo und Lisa liegt eine ganze Ecke von ihrem Wohnort entfernt, sodass ich mit ihnen etwa eine halbe Stunde pro Fahrt unterwegs bin. Da wir drei uns ziemlich gut verstehen, hole ich die Kinder am Nachmittag meistens auch wieder ab. Während wir drei morgens etwas weggetreten sind, aufgrund der frühen Uhrzeit, beschränken sich jegliche Interaktion auf ein Minimum (meine Schützlinge hängen die ganze Zeit nur in ihren Gurten und harren teilnahmslos aus, bis wir an der Schule sind und ich mache das gleiche, während ich versuche, das Fahrzeug sicher zum Bestimmungsort zu bringen). Am Nachmittag sind wir alle etwas aufgedrehter.
Weil beide das Down-Syndrom ihr Eigen nennen, sprechen sie etwas langsamer und verwenden ein eher eingeschränktes Vokabular. Mit dieser Eigenschaft unterscheiden sie sich so gut wie gar nicht von meinen Kollegen, welche mich den ganzen Tag über das Funkgerät begleiten. Auf selbiges, das auf dem Armaturenbrett zwischen uns angebracht ist, zeigt Hugo, der auf dem Beifahrersitz sitzt und breit grinst.
„Teeelefon!“ ruft er freudig.
Ich: „Möchtest du telefonieren?“
Hugo: „Ja!“
Ich finde, es wird Zeit für eine gute Filmreferenz und fordere Hugo auf, mir nachzusprechen:
Ich: „Hugo…“
Hugo: „Hugo…“
Ich: „…nach…“
Hugo : „…nach…“
Ich: „…Hause…“
Hugo: „…Hause…“
Ich: „…telefonieren.“
Hugo: „…telefonieren.“
Enthusiastisch wie ein Cockerspaniel klatsche ich in die Hände und bitte ihn, das Ganze nochmal vollständig zu wiederholen.
„Hugo nach Hause telefonieren!“ sagt er etwas unsicher, aber fehlerfrei und wartet mit leicht zusammengekniffenen Mandelaugen meine Reaktion ab.
Ich bin so begeistert, dass ich ihm das Mikrofon des Funkapparats in die rundliche Hand drücke. Von meiner Freude angesteckt, betätigt er lachend den Auslöseknopf und sendet seinen gelernten Satz in den offenen Kanal meines Unternehmens. Als die Zentrale den Funkspruch keinem der Fahrer zuordnen kann und um Wiederholung bittet, schalte ich das Gerät sicherheitshalber ab. Das stört Hugo aber nicht, er ruft den Satz noch einige Male ins Mikrofon und feiert die Situation, während ich vor mich hin grinse und den Wagen in die Straße der Kinder lenke. Als ich in den Innenspiegel blicke, sehe ich, dass mich Lisa ziemlich böse ansieht. Offenbar ist ihr nicht entgangen, dass ich mit ihrem Bruder Spaß habe. Möglicherweise, schießt es mir in den Kopf, könnte sie der Annahme verfallen sein, dass ich mich sogar auf seine Kosten lustig mache. Voller Unbehagen fällt mir auf, dass sie die letzten Meter zum Haus ihren Blick nicht mehr von mir wendet.
Als wir angekommen sind, steige ich aus und schnalle die Kinder ab. Zunächst Hugo, der das Handgerät achtlos fallenlässt und zu seinem Hausmädchen stürmt. Ich beobachte verstohlen, wie er seinen riesigen Kopf in das prachtvolle Dekolleté des Hausmädchens drückt. Ein bisschen neidisch wende ich mich Lisa zu. Anders als Hugo läuft sie nicht davon, nachdem ich sie von ihrem Gurt befreit habe. Stattdessen bleibt sie neben mir stehen und macht eine Geste, die mir bedeutet, dass ich mich zu ihr herunterbegeben soll. Ich knie nieder, sodass wir uns auf Augenhöhe befinden. Sie hebt die Hand und deutet auf den Ärmel meines Hemds. „Kacka.“
Ich hatte heute mehrfach Schokolade und habe die Befürchtung, dass ich mich unbemerkt vollgeschmiert haben könnte. Voller Eifer suche ich den Stoff meiner Kleidung nach Spuren ab, kann aber nichts finden.
„Wo?“ frage ich.
„Kacka!“ ruft Lisa.
Ich suche in großer Verzweiflung weiter, kann aber keine bräunliche Verfärbung auf meinem schwarzen Hemd finden.
„Ja, wo denn?“ frage ich erneut genervt.
„Kacka!“ ruft sie wieder.
Dieser Ablauf spielt sich noch einige Male so ab, bis ich irgendwann am Ende meiner Geduld im Begriff bin aufzustehen. Lisa verhindert dies aber, indem sie mich an meinem Arm greift. Ich verharre und warte, wie sie den Ärmel meines Hemds hochschiebt, auf meine stark pigmentierte Haut zeigt und erneut feststellt: „Kacka!“
Sie verhöhnt mich ein paar Augenblicke mit ihrem schrillen Lachen. Nachdem sie der Auffassung ist, dass die Ehre ihres Bruders wiederhergestellt ist, greift sie ihren Ranzen und zieht ohne ein weiteres Wort von dannen.