beginn der neuzeit

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G

Gelöschtes Mitglied 24777

Gast
Hallo mondnein,

es ist etwas traurig, dass dieses Gedicht noch keinen Kommentar erhalten hat, denn meiner Meinung nach ist es ein überragendes Werk! Meine Aussage mag grotesk anmuten, denn ich will nicht behaupten, dass ich für dieses Gedicht eine Interpretation schreiben könnte, der man ansähe, ich hätte deinen Text verstanden. Er scheint voll von Anspielungen und intellektuellen Bezügen, denen ich nicht ohne Weiteres Herr werden kann. Dennoch habe ich da Gefühl, dein Gedicht intuitiv für mich einordnen zu können. Deshalb möchte ich ein paar kleine Gedanken dazu da lassen:

Wir sind, wie der Titel verrät, am Beginn der Neuzeit, wahrscheinlich am Beginn des 16 Jahrhunderts. Das Mittelalter mit seiner enormen Fixierung auf die christliche Religion hat sich, ausgehend von Italien, zunehmend überlebt und neue Ansichten, die bereits naturwissenschaftlichen Charakter hatten, tauchten im abendländischen Denken auf. Vielleicht erzählt dein Gedicht in Strophe 1 davon:

hinausgeschrieben ausgedacht
entworfen und verloren
erscheint natur als schrift gedanke plan
Und vielleicht erzählt dein Gedicht des Weiteren von Pan, dem griechischen Gott der Natur, welcher aber in der christlichen Symbolik seine positive Konnotation verlor und mit dem Aufstieg dieser Religion in Europa zunehmend als wolllüstiger Teufel dargestellt wurde. In deinem Text aber scheint auch diese Zuschreibung bereits eine historische zu sein, sodass ich darin einen weiteren Bezug auf den Beginn der Neuzeit und das Ende der mittelalterlichen Ikonografie sehe:

gestorben in materien der grosze pan
sein blökendes gefolge ist schon längst geschoren
die hörner abgefeilt gestutzt die ohren
die lust der zeugungskraft vertan
Hm, Strophe 2 und 3 wiederrum, und es ist wohl paradox und für den Leser meiner Gedanken unverständlich - verstehe ich nicht und finde sie dennoch grandios! Ich bin geneigt, sie als eine Erkenntnis darüber zu interpretieren, welche Auswirkungen die Verwissenschaftlichung der Zivilisationen hatte und sehe dort eine Gegenüberstellung dieser mit dem einstmals noch unbefangen erlebbaren Instinktiven. Doch die Distanz, welche durch den gelehrten Blick auf dieses Ursprüngliche entsteht, führt nun zu einem Mangel an Erfahrung zugunsten des Intellekts:

kein maskenkleid verbildete den toren
er wäre fürchterlich gesund
Auch wenn ich mit meiner Interpretation wohl vollkommen falsch liege - diese beiden Zeilen sind in meinen Augen genial!

Strophe 4 schließt dann mit allerhand Bezügen, die dem Bildungsbürgertum zugänglich sind - und mir deshalb größtenteils verborgen bleiben ;)
Richard Wagner, Hans Sachs, Rebalais. Aufgegriffen wird zudem der Charakter der neuen Welt: Der aufkommende Kapitalismus in den italienischen Städten (der handel nahm das maskenkleid), das zunehmende Interesse an der Empirie (die wissenschaft gab ihren kleinen finger) - und sollte damit nicht die Kirche gemeint sein, dann wird die Kombination von Wissenschaft und Kapital äußerst negativ konnotiert:

davon entfernt die wirklichkeit der weltverschlinger
Nur die Kunst und der Genius des Künstlers bildet einen Gegenpol in dieser sich entwickelnden Zeit, welche in der Lage ist, das Lebendige von der Welt zu nehmen bzw. es zu verschlingen:

wer kennt herrn wagners grübler nicht –
den schuster-meistersinger?
"es ist der alte wahn" – die neue zeit
gargantua pantagruel
Mein Fazit: Ich mag deine Intention vielleicht verkannt haben, aber dies schmälert nicht den Genuss, den mir das Lesen deines Gedichtes bereitet hat. In meinen Augen handelt es sich hier um ein Meisterwerk sondergleichen!

Liebe Grüße
Frodomir
 



 
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