Bloem (Teil 1)

4,00 Stern(e) 1 Stimme
Viktoria, eine junge Deutsche, lebt und studiert in Nimwegen/Niederlande, finanziert durch das kleine Erbe ihres Vaters, für dessen Tod sie sich schuldig fühlt.
Während eines Ferienjobs lernt sie van Houten kennen, einen vornehmen und nachdenklichen Witwer, der sie an ihren Vater erinnert. Ihn umgibt ein schreckliches Geheimnis. Immer enger zieht er Viktoria in seine Kreise.
Und dann ist da noch Ruben, der auf der Suche nach seiner vermissten Schwester ist.

  • Arbeitstitel: Bloem
  • Genre: Kriminalgeschichte
  • Form: Roman
  • Umfang: 50.000 - 60.000 Wörter, > 200 Normseiten, ca. 50 Kapitel
  • Thema: Schuld, Vergeltung
  • Motiv: Familiengeheimnis, Besitzgier, Schiffbruch
  • Erzählperspektive: Multiperspektive. Überwiegend aus der Sicht von Viktoria.
  • Altersempfehlung: Ab 14 Jahren
  • Bearbeitungsstand: noch nicht fertig

Personen:

Viktoria Lehmann
  • 20-jährige Studentin aus Deutschland.
  • Studiert und lebt in Nijmegen/NL, finanziert von dem kleinen Erbe und der Hinterbliebenenrente ihres verstorbenen Vaters.
  • Ihre Mutter hat die Familie verlassen, als ihr Mann erkrankte.
Pieter van Houten
  • Wertpapierhändler, Mitte 50, Witwer.
  • Hat sich bei Geschäften verzockt und eine Million Euro Schulden. Verbirgt ein tragisches Geheimnis.
Ruben van Houten
  • Arbeitssuchender Schiffsmechaniker, 24.
  • Lebt vorübergehend bei seinem Vater Pieter. Ist auf der Suche nach seiner vermissten Schwester.
Bloem van Houten
  • 18-jährige Schwester von Ruben, die als vermisst gilt.
Luschinski
  • Freund von Pieter. Mitte 40. Aus Breslau/Polen stammender Krimineller. (Auch "Lulu" genannt.)
Maaike
  • Freundin von Viktoria. 20 Jahre alt.
Koenraad, Gerrit
  • Freunde von Ruben. a) Arbeitslos, ca. 30 Jahre alt. Kiffer. Bzw. b) Betreiber des Billardclubs.
Ursula
  • Schwester von Viktorias Vater.
  • Lebt in Deutschland mit ihrem Mann Heinz, der eine Werkstatt betreibt.
“De Kapitaen“
  • Alter, ehemaliger Schifffahrtskapitän, der heute bei der Rundfahrtschiffsflotte arbeitet.


1 – Zomer​

Loungemusik und das Gemurmel von Dutzenden Stimmen mischten sich zu einem Klangmix. Staubkörnchen tanzten in den letzten Sonnenstrahlen des Tages, die schräg durch das Glasdach des Wintergartens fielen. Es roch nach frisch gemahlenem Kaffee.

Viktoria stellte ihr Tablett auf die Theke, zog die Kellnerinnenschürze glatt und beobachtete, wie ein Gast das Café betrat. Der Herr im maßgeschneiderten Einreiher, mit Hut und Lederschuhen, kam öfter vorbei. Jetzt fingerte er zögernd am Einstecktuch und blickte sich um, anstatt wie sonst nach hinten durchzugehen, um sich an seinen Lieblingsplatz zu setzen.
Einer von Viktorias Tischen wurde frei und sie begann, das Geschirr abzuräumen. Kurz schaute sie noch einmal zum Eingang. Wo war der Herr? Plötzlich vernahm sie ein Räuspern. Sie fuhr zusammen, sodass die Tassen auf ihrem Tablett klimperten und ein Löffel von diesem fiel. Als sie sich umdrehte, stand der Herr hinter ihr, nickte freundlich und setzte sich an den Tisch.
Viktoria stellte das Tablett ab, hob den Löffel auf. Sie pustete leise aus, sagte „Goedenavond“ und prüfte den Sitz des Blusenkragens, bevor sie ihren Kellnerblock zückte.
Der Herr schnippte einen Krümel beiseite, fuhr mehrmals mit der Hand über eine Falte im Tischtuch, bevor er die Handschuhe auszog. Er nahm seinen schwarzen Fedora vom Kopf, legte ihn vor sich. Sein weißer Haarkranz kam zum Vorschein, der wie sein akkurat gestutzter Oberlippenbart Seriosität ausstrahlte. „Schönen guten Abend. Einen Cappuccino, bitte.“ Seine Stimme hatte für sie einen rauen Bass und einen starken, niederländischen Akzent.
„Gerne. Sie sprechen gut Deutsch. Woher wussten Sie, dass ich Deutsche bin?“
„Ich habe einen Blick dafür.“

Sie ging hinter die Bar, betätigte den Kaffeeautomaten. Abwechselnd spähte sie dabei auf die Wanduhr und den Gast, atmete dabei schwer aus.
Als sie gestern Kerzen aus dem Lager geholt hatte, starrte der Herr völlig geistesabwesend aus dem Fenster; sein Blick wanderte über die belebte Promenade, die im Sand spielenden Kinder und die im Wasser herumalbernden Jugendliche hinaus – in die Ferne oder auf das, was dahinter liegen mochte. Ein anderes Mal hatte sie gesehen, wie er mit zusammengepressten Lippen und nachdenklichem, traurigen Blick in einem kleinen Fotoalbum blätterte.
Während der Automat das Heißgetränk vervollständigte, hatte der Gast die Tageszeitung vom Haken genommen und las darin.
Kurz darauf brachte sie den Cappuccino zum Tisch. „Vielen Dank“, sagte der Herr und schlug die Zeitung zu. Als sie zurückging und sich wieder hinter die Theke stellte, schrieb er etwas in sein Notizbuch.

Den Gelderlander hatte sie in der Mittagspause überflogen. Die Seite, die der Herr zugeschlagen hatte, war ihr in Erinnerung geblieben. Unterhalb der großformatigen Werbung für ein neues Einkaufscenter stand der Artikel über die vermisste, junge Frau aus dem Osten der Stadt. Die Meldungen über den Fall waren zuletzt immer dürftiger und unregelmäßiger erschienen, immer weiter ans Ende der Zeitung gerutscht.
In der vorigen Woche hatte Viktoria während der Busfahrt noch die Steckbriefe der Frau an Laternenmasten gesehen und dabei gedacht, welch schrecklichen Sorgen sich Familie und Freunde machen müssten.
Sie schaute sich um. Mittlerweile war fast jeder Platz besetzt. Am Eingang wartete eine Gruppe auf einen freien Tisch. Nicht mehr lange, und sie würde ihre Schürze, Börse und ihren Block abgeben. Die langen Schichten in den letzten Wochen hatten ihr sie Kraft gekostet. Es blieb kaum Zeit zu lernen. Aber sie brauchte das Geld.
Der Herr stellte die leere Tasse zurück auf den Tisch und sie fragte ihn, ob er einen weiteren Wunsch habe.
„Die Rechnung, bitte.“ Er griff in die Innentasche, holte eine goldene Geldscheinklammer hervor und drehte sie in seinen dünnen Fingern hin und her. Viktoria musste an die alten Schwarzweiß-Filme denken, in denen Spieler geschickt mit Jetons hantierten, während sich der Roulettekessel drehte.
„Das wären dann sechs Euro, Meneer.“
„Stimmt so, Mevrouw“, sagte er und hielt ihr eine Zwanzig-Euro-Note hin.
„Oh, … Das kann ich nicht annehmen“, stammelte sie.
„Nein, nein, nehmen Sie es bitte. Ist in Ordnung.“
Widerwillig steckte sie den Schein in ihre Börse. Ach, was soll’s. Heute Abend, wenn sie mit ihrer Freundin vor dem Fernseher säße, um Grays Anatomy zu schauen, würde sie eine große Pizza bestellen und sie extra dick belegen lassen. Und, bevor sie am nächsten Morgen wieder der Ernst des Lebens einholte – das neue Semester – sogar zwei Flaschen Lambrusco bestellen.
Sie nahm die Tasse und sah aus den Augenwinkeln eine Blumengravur, die auf der Vorderseite der Geldklammer angebracht war.
„Moment, bitte.“ Er steckte die Klammer weg, nahm seinen Hut und strich mit dem Daumen wiederholt über die kleine, rote Stofftulpe am Hutband. „Wünschen Sie sich manchmal auch, wieder ganz von vorne anfangen zu können? Eine zweite Chance zu bekommen? Wie eine Blume, die neu aufblüht?“
Sie zupfte an der Schürze und überlegte. In den ruhigeren Momenten ihres Ferienjobs, wenn sie mal einen Blick nach draußen auf den Fluss riskiert hatte, musste sie oft an einen Neuanfang denken. Viel schlimmer waren die Gedanken daran, keine zweite Chance zu haben, die Uhr nicht zurückdrehen zu können. „Ja, manchmal schon“, murmelte sie.
Er schmunzelte, stand auf und verbeugte sich. „Van Houten, Pieter van Houten.”
Sie zögerte einen Augenblick, schüttelte schließlich seine warme Hand. „Viktoria Lehmann.“ Sein Händedruck war sanft; in seinen Augen meinte sie, etwas Träumerisches, fast Vergessenes zu sehen.
„Entschuldigen Sie, wenn ich zu direkt bin, aber haben Sie nach Feierabend schon etwas vor? Ich würde Sie gerne zum Essen einladen.“
Mehrmals griff sie in ihre langen, blonden Locken, zog eine hinter den Ohren nach unten. „Normalerweise gehe ich nicht mit … Gästen aus.“ Sollte sie? Neugierig war sie schon. Außerdem hatte er etwas Vertrautes an sich. Und es gab noch etwas Anderes im Leben außer Pizzataxi, Fernsehen und Lernen.
Van Houten blickte kurz zu Boden. „Kann ich verstehen.“ Dann breitete er seine Arme aus und lächelte. „Aber jongedame, ich könnte Ihr Vater sein und habe nichts Böses im Sinn. Ich würde mich über ihre Gesellschaft freuen.“ Er setzte den Hut auf und zwinkerte einmal mit dem Auge. „Sie haben doch gleich Feierabend, oder? Ich kenne da ein hervorragendes Restaurant in der Altstadt. Wie wäre es mit zwanzig Uhr?“


2 – Überkritzelt​

An den Häuserfassaden der Nachtbars und Clubs entlang der Promenade funkelten bereits die Lichter; Nobelkarossen rollten über den Casinoparkplatz und entluden Gäste in feinster Garderobe. Viktoria spürte eine unerträgliche Schwüle, die ihr wie ein Netz auf den Schultern lag. Die Zeit schien stillzustehen.
Sie schlängelte sich an den Spaziergängern vorbei, die über die Waalkade flanierten, überquerte eilig die Straße und wich einem Skateboarder aus, der ihr etwas Unfeines hinterherrief.
An der Bushaltestelle blieb sie stehen, atmete heftig aus und steckte die Hände in die Hosentaschen. Ein Kohlefrachter schipperte unter der rotbeleuchteten, bogenförmigen Waalbrug hindurch. Am Landungssteg wartete eine Menschentraube auf das herantuckernde Rundfahrtschiff, das reich mit bunten Fähnchen beflaggt war.
Vor ein paar Monaten hatte sie noch, zusammen mit ihrem Freund, das Wendemanöver des Schiffes beobachtet. Sie standen auf einer Dünnenkuppe, leerten eine Flasche Rotwein, ihre nackten Füße versanken im Sand, die Möwen kreischten und sie spürte den sachten Wind an ihrer Wange.
Ihr Freund küsste sie auf die Wange, flüsterte ihr schöne Dinge ins Ohr.
Das war, bevor er sie verließ, um eine Anstellung in Hamburg anzunehmen. Seitdem konnte sie sich nicht mehr für romantische Abende begeistern. Erst recht nicht für deutsche Studenten.

Der Bus hielt an, sie stieg ein, blieb jedoch in der Nähe der Tür stehen. Sie vernahm Stimmen, abgerissene Gesprächsfetzen drangen in ihr Ohr, jemand lachte. Ihr Kopf brummte, sie dachte an den Mann mit dem Hut, Pieter van Houten. Wie er die Geldklammer mit der Blumengravur durch die Finger gleiten ließ, die Tulpe am Hutband streichelte. Wie er vom Neuanfang, einer zweiten Chance sprach. Vertraute Worte. Der gleiche Wunsch.
Vier Stationen weiter stieg sie aus, eilte die Straße entlang. Vorbei an der Eckkneipe mit den graffitibeschmierten Rollläden, dem Kiosk, in dessen Schaufenster Shishas aufgetürmt waren, bis sie ihr Zuhause erreichte. Sie lief die zwei Stockwerke des Altbaus hinauf, stürzte in ihre Wohnung, legte die Kette an und wischte sich Schweiß von der Stirn.
Während sie Schuhe und Jacke auszog, schaute sie wie gewohnt auf das Foto an der Wand. Es war aus dem letzten Jahr, kurz bevor sie ihr Abitur bestanden hatte. Das Jahr, das so vieles in ihrem Leben verändert hatte.
Auf dem Schnappschuss trug sie einen Strohhut, unter dem blonde Locken hervorquollen. Links ihr vor Freude strahlender Vater, der damals nichts von seiner Krankheit ahnte, rechts die Mutter, deren Augen Viktoria später mit Kugelschreiber überkritzelt hatte. Im Hintergrund der See, der so unbeteiligt ruhig und unschuldig dalag, wie die Kulisse einer unrealistischen Romanze – und das Motorboot. Unzählige, unbändige Pferdestärken.
Viktoria wünschte sich oft, sie könnte die Uhr zurückdrehen, die Zeit mit ihrem Vater erneut erleben. Immer und immer wieder, bis die Ärzte endlich eine Heilungschance gefunden hätten.
Sie öffnete ihren Kleiderschrank, durchwühlte Pullis, Hosen, Blusen nach etwas Passendem. Während sie die Kleidungsstücke auf ihrem Bett ausbreitete, war aus der Ferne das langgezogene Tuten des Passagierschiffes zu hören. Sie schaute auf ihre Uhr. Knapp eineinhalb Stunden Zeit hatte sie noch.


3 – Das höchste Gut im Leben​

„Es freut mich wirklich sehr, dass Sie es haben einrichten können, jongedame“, sagte Pieter van Houten und legte die Serviette über seinen Schoß, die er vom Tisch genommen hatte.
„Ich hatte nichts anderes vor.“ Viktoria lächelte zaghaft, während sie an ihrem Rock zupfte.
Mehrmals hatte sie sich umgezogen, letztlich feine Sachen ausgewählt. Schließlich konnte und wollte sie den Herrn nicht in Jeans und T-Shirt begleiten, so wie er gekleidet war. Außerdem hatte sie eine Spur Rouge aufgetragen und ein Parfüm benutzt, das nach Sandelholz duftete.

Der Kellner trat an den Tisch. „Eine Vase für die Blumen und der Wein, Herr van Houten“, sagte er und schenkte zwei Gläser ein.
Van Houten nahm den Lilienstrauß vom Tisch, roch an den Blüten. Ein langgezogenes, genüssliches Einatmen, die Augen dabei geschlossen. Er stellte den Strauß in die Vase, nickte Viktoria zu, nahm sein Glas und stieß mit ihr an.
„Danke für die Blumen“, sagte sie, probierte einen Schluck vom Bordeaux und verzog das Gesicht. Puh, herb. Was bestellt man denn hier am besten?“ Die letzten Besuche in einem nicht ganz so edlen Restaurant waren schon lange her. Das erste Mal war es, als ihr Vater die Wassersportschule eröffnet hatte, und zum zweiten und letzten Mal in der Phase, während der es ihm zwischenzeitlich besser ging.
Van Houten grinste. „Ich hoffe, Sie sind keine Vegetarierin oder gar Veganerin.“

Nachdem der Kellner die Bestellung aufgenommen hatte, begann van Houten: „Ich sollte mich kurz vorstellen. Ich bin hier in Nijmegen geboren, wohne drüben am Oostkanaalhaven.“ Er räusperte sich. „Ich bin verwitwet und viel unterwegs. Wenn es mir die Zeit erlaubt, trinke ich Kaffee oder Cappuccino in einem der schönsten Cafés auf der Promenade. Aber das wissen Sie ja.“ Lächelnd rutschte er auf dem Stuhl näher an den Tisch und flüsterte: „Ich hätte vollstes Verständnis gehabt, wenn Sie an diesem schönen Sommerabend etwas anderes vorgehabt hätten, als mit mir, einem fremden, alten …“
„Nein, nein, ich habe mich wirklich gefreut“, sagte sie. „Darf ich fragen, was Sie beruflich machen, Herr van Houten?“
„Ich handle mit Wertpapieren. Mal mehr, mal weniger erfolgreich. Aber es reicht zum Überleben.“ Er kratzte sich am Kinn. „Von wo genau aus Deutschland kommen Sie? Sie studieren auf der Radboud, richtig?“
„Ich bin im Ruhrgebiet aufgewachsen und für mein Psychologiestudium hierher gezogen. Ja, Radboud. Für die Uni in Deutschland reichten meine Noten nicht.“ Viktoria probierte von dem rohen, in hauchdünne Scheiben geschnittenen Rindfleisch, das der Kellner gebracht hatte. „Ich habe keine Ahnung, ob ich überhaupt den Bachelor bestehe.“ Mit dem Finger wischte sie sich Mayonnaise aus den Mundwinkeln.
Van Houten reichte ihr seine Serviette. „Aber warum sollten Sie das Studium nicht abschließen?“
„Manchmal denke ich, ich hätte besser etwas anderes angefangen.“
„Nur Mut. Haben Sie Geschwister? Sehen Sie Ihre Familie oft?“
„Nein, … ich meine, ich bin quasi allein.“ Sie wusste nicht, ob sie sich mehr für ihre Manieren schämen sollte oder dafür, nichts als ein Gestammel hervorzubringen.
„Familie“, sinnierte van Houten und strich Viktoria kurz über die Hand. „Die Familie ist das höchste Gut im Leben.“ Er schob die Blumenvase ein wenig näher zu Viktoria. „Haben Sie noch andere Aushilfsjobs, außer dem im Café?“

Eine Stunde später waren sie mit dem Essen fertig und van Houten bezahlte die Rechnung. Er hatte weiter über den Wertpapierhandel berichtet, während er sein Rumpsteak aß, das er mit der gleichen, scharfen Barbecuesauce mit Preiselbeerkompott und Meerrettich würzte, wie ihr Vater früher, und sie wiederum hatte von ihren Studienfächern und ihrem Aushilfsjob bei der Tankstelle erzählt.
An der Garderobe half van Houten ihr in die Jacke. Während er seinen Mantel anzog, erhaschte sie einen Blick auf ihr Handy und sah das Symbol für einen entgangenen Anruf. Sie schluckte kurz. Das hatte sie völlig vergessen.
Vor der Tür sagte er: „Ich habe noch einen Termin. Soll ich Ihnen ein Taxi rufen?“ und kramte seine Geldklammer hervor.
„Vielen Dank, ich nehme den Bus. Sind nur ein paar Haltestellen.“
„Darf ich Sie vielleicht noch mal einladen? Ich melde mich bei Ihnen, hm? Wann sagten Sie, arbeiten Sie bei ESSO?“
„Donnerstags abends.“
Van Houten umschloss ihre Hand und drückte sie so vorsichtig, als wäre sie aus Porzellan. „Die Geschäfte warten. Kommen Sie gut nach Hause.“ Er ließ ihre Hand los, zog sich Handschuhe an, richtete seinen Hut und ging davon.
Mehrmals drehte sie sich auf dem Weg noch um, bis er in einem schwarzen Mercedes verschwand, dann hielt sie sich die Blumen unter die Nase und schnupperte. Mmmh. Was für ein köstlicher Duft. Sie hatte sich von ihm nicht behandelt gefühlt wie eine Frau, die er zum ersten Mal getroffen hatte, der er imponieren wollte, sondern als wäre sie die Freundin einer Freundin – oder noch mehr. Außerdem war er edel, schien nett und unterhaltsam zu sein und vertrat eine simple, aber aufrichtige Lebensweisheit.
Es konnte doch nicht falsch sein?


4 – Psycho​

Der Geruch von Fett und Panade stieg Viktoria in die Nase. Im Hintergrund hörte sie Geschirr klappern. Studenten balancierten Plastiktabletts durch die Reihen, vom Nebentisch drang Getuschel herüber.
Sie blickte durch den Saal und stocherte in den Erbsen und Möhren herum. Schließlich schulterte sie ihren Rucksack und schlenderte zur Geschirrrückgabe. Als sie das Tablett auf das Abräumband stellte, drang ein heller Ruf durch die Mensa. „Vicky!“ Es war Maaike, die auf sie zugeeilt kam. „Wo hast du gestern gesteckt?“
Viktoria fühlte sich ertappt, stopfte die Hände tief in die Hosentaschen. „Hi, Maaike.“ Sie versuchte zu lächeln, aber sie wusste, dass ihr schlechtes Gewissen ihr ins Gesicht geschrieben stand.
„Ich hab gestern um Punkt acht bei dir geschellt. Und? Wer war nicht da?“ Mit ihrem lauten Organ zog Maaike die Blicke von einigen Studenten auf sich. Was sie zu sehen bekamen, war eine aufgetakelte Rothaarige mit einem viel zu kurzen Rock, die wild mit den Armen herumfuchtelte.
„Tut mir leid. Es kam was dazwischen.“ Mehrmals fuhr sie sich durch die Haare. „Können wir das nicht nachholen?“
„Wo warst du denn? Hattest du kein Handy dabei?“
„Ich nach Feierabend … noch mal zurück. Das Handy habe ich nicht gehört.“ Sie umfasste die Träger des Rucksacks und schaute an Maaike vorbei auf den Flur, der zu den den Sälen und Arbeitsräumen führte. Wie würde Maaike reagieren, wenn sie erführe, weswegen ihre Freundin sie vergessen hatte? Wegen eines älteren Herrn, der oft geistesabwesend im Café durch die Scheibe gestarrt, und der einen Tick mit Hüten, Handschuhen und Blumen hatte. Handschuhe. Bei der Hitze! Was würde Maaike denken, wenn sie ihr alle Einzelheiten erzählen würde?
Sie beobachtete die auf den Gang hin und her eilenden Studenten. Einige blieben vor Türen stehen, um die Saalnummern mit den Angaben auf ihren Laufzetteln zu vergleichen. Neue Studenten. Damals, nach ihrer Ankunft, führte sie Maaike herum. Maaike war es, die ihr alles gezeigt hatte und ihr bei der Sprache half, wenn sie etwas nicht verstand oder ihr Wörter fehlten.

Am Morgen ihres ersten Tags hatte Viktoria unsicher den riesigen Glaskomplex der Radboud umrundet, dabei Maaike in der Parkanlage auf einer Bank sitzen gesehen. Abseits, hinter Büschen, deren Blätter der Herbstwind mitgenommen hatte – allein und mit geröteten Augen.
Maaike hatte sie mit einer Hand weggescheucht, versuchte, ihre Tränen zu verbergen. Trotzdem setzte sich Viktoria neben sie. Oder gerade deswegen.
Zunächst saßen sie nur stumm da. Zögerlich nahm Maaike das Taschentuch entgegen, das Viktoria ihr reichte. Am Tag zuvor hatte Maaike mit ihrem Freund Schluss gemacht, wie sie verriet, nachdem sie ihre Nase geputzt und das verlaufene Make-up abgetupft hatte.
Plötzlich nahm sie einen Schatten vor ihrem Gesicht wahr. Eine winkende Hand, eine lauter werdende Stimme.
„Hallo! Maaike an Vicky! Hörst du mich?“
Sie blinzelte und erwachte aus ihrem Tagtraum.
„Ich seh doch, was los ist.“ Maaike stieß ihr mit dem Ellenbogen in die Seite. „Wurde auch bald Zeit. Wie heißt der Kerl?“
„Nicht, was du denkst.“
„Raus mit der Sprache!“
Stockend sprach Viktoria weiter. „Es war ein … ein älterer, feiner Herr, ein Stammgast aus dem Zomer. Er hat mich zum Essen eingeladen. Irgendwie hat er mir leidgetan.“ Das war die einfachste Antwort auf die Frage, die sie sich selbst gestellt hatte.
„Ein älterer Herr?“ Maaike beugte sich vor und zog eine Grimasse, als lauerte sie in der dunklen Ecke eines Gruselkabinetts, um Leute zu erschrecken. „Hoffentlich kein Psycho.“ Dann grinste sie und bewegte die Hände auffordernd. „Los, erzähl schon! Wie alt genau? Sieht er gut aus? Hat er Kohle? Ist er verheiratet?“
Psycho, so ein Unsinn, dachte Viktoria und senkte den Blick. „Ach, ich weiß doch auch nicht“, nuschelte sie. „Ich denke, er braucht nur jemanden zum Reden …“ Sie wusste nicht, ob das, was sie erzählen konnte, nach einem Salonlöwen klang, der die Kunst des gehobenen Small-Talks übte oder nach einem unglücklichen Mann mit schmerzlichen Gefühlen. Vielleicht war er nur ein Spieler, der sein Geld im Casino verspielt hatte und sich nun bei ihr ausheulen wollte.
Sie schwankte. So oder so – Maaike würde ihr wahrscheinlich raten, sie solle zum Arzt gehen oder ihre Psychologiekenntnisse nutzen und sich selbst therapieren. Womit sie wahrscheinlich gar nicht so falsch lag.
„Ach, vergiss den Alten, meine Süße. Was erwartest du von solchen Typen?“
„Ich … er war wirklich nicht aufdringlich. Er war nett …“
„Und wahrscheinlich war es ein piekfeines Sterne-Restaurant, in dem dich der Macker eingeladen hat, richtig?“, fragte Maaike kopfschüttelnd. „So’ne Spinner laufen doch ständig hier herum. Du musst doch nur gucken, wer am Casino Halt macht. Dicke Karossen mit dunklen Scheiben, aus Belgien, Deutschland und sonst wo her. Die Harmlosen gaffen den Frauen am Strand hinterher und holen sich anschließend in ihrer Suite einen runter. Die Fetten schaffen es gar nicht mehr durch den Sand, schon gar nicht über die Dünen. Sie beobachten die Frauen mit Ferngläsern oder fotografieren sie, getarnt hinter der Gardine. Andere angeln sich junge Frauen, spielen den Mann von Welt. Kaufen ihnen was Schickes, schleppen sie mit zum Black Jack oder Roulette und geben ihnen ein paar Hundert-Euro-Jetons zum Spielen. Diese Kerle versprechen ihnen das Blaue vom Himmel, während sie sich im Hotel von den armen Seelen einen blasen lassen. Am nächsten Morgen schnappen sie sich die Nächste. Wenn sie nicht was ganz anderes mit ihnen vorhaben.“
Viktoria entfleuchte ein „Puh“. Maaike war in ihrem Element. Das alles konnte sie sich bei van Houten unmöglich vorstellen.
Oft fragte sie sich, warum Maaike überhaupt mit ihr befreundet war. Vielleicht brauchte sie fernab ihrer Partys einen ruhigen Gegenpol, einen Ort, an dem sie auf der Couch herumlümmeln konnte, brauchte jemanden, der sie nicht auslachte, wenn sie bei romantischen Filmen heulte. Oder sie sah in ihr die kleine Schwester, die sie nicht hatte.
Erneut stieß Maaike sie in die Seite. „Komm mal auf andere Gedanken, Süße. Es soll heute wieder achtundzwanzig Grad werden. Ich hab mit den Mädels gesprochen, wir treffen uns um vier am Strand.“ Sie grinste. „Zwei Studis aus dem Bio-Kurs kommen auch mit.“ Sie legte einen Arm um ihre Hüfte und zog sie zum Ausgang. „Keine Ausrede. Und jetzt komm!“
Auf dem Flur sah sich Maaike um und wartete, bis sie alleine waren. „Weißt du, was du brauchst? Einen anständigen Fick von ’nem Typ in deinem Alter!“ Dann lachte sie laut. „Mit dem Alten quatschen kannst du immer noch. Oder ihn für deine Studien therapieren.“


5 – Eine weitere Vermisstenmeldung​

Der Poolpalais war einer der wenigen Billardhallen in Nijmegen, der seine Pforten schon morgens öffnete. Aus den Lautsprechern wummerte Amy Winehouses kratzige Stimme und verschmolz mit dem Durcheinander aus Gemurmel, Bierdunst und süßlichem Duft.
Ruben, der in einer Ecke saß, blickte zur Bar, an der sich bierbäuchige Männer Amstel aus Dosen hinunterkippten.
Er stellte seine leere Kaffeetasse zurück auf den Tisch und schaute teilnahmslos den Leuten zu, die vorne ihre Billardkugeln stießen. Koenraad, der Ruben gegenüber saß, kramte in seinem Portemonnaie nach einigen Münzen für das nächste Spiel und legte sie nebeneinander, bevor er sich eine Zigarette aus Feintabak drehte, in die er etwas Gras streute.
Ruben lehnte sich vor, starrte angestrengt auf den Fernseher, der an der Wand hing. Er betrachtete ein Foto einer Brünetten und studierte den Ticker am unteren Rand, während der Sprecher die Nachrichten verlas.
Er ballte die Hände zu Fäusten. Ein anderer Ort. Ein ähnlicher Frauentyp. „Hast du das gesehen, Koenraad? Eine weitere Vermisstenmeldung!“
Die Wetterkarte erschien auf dem Bildschirm. Temperaturen bis zu dreißig Grad, kein Niederschlag, erklärte eine monoton klingende Stimme. Ruben starrte weiterhin auf den Bildschirm. Ein Kameraschwenk über die Promenade zeigte eisschleckende Kinder in kurzen Hosen und Radler, die ihre Bikes über die Waalkade schoben. Dann ein Zoom auf den Steg am Ufer, heran an einen alten Bärtigen, den die Einheimischen ehrfürchtig nur „de Kapitein“ nannten.
Bereits aus Kindertagen kannte Ruben den Kapitän. Oft hatte er sich neben ihn auf die Bank am Steg gesetzt und den alten Seemann über alles Mögliche ausgefragt, sofern er nicht gerade seine Mütze tief ins Gesicht gezogen hatte und eingenickt war. Gebannt hing Ruben an den Lippen des Alten, der von der Seefahrt schilderte, Piratengeschichten erzählte oder von Seeungeheuern sprach. Er wolle auch zur See, beschloss Ruben irgendwann.
Der Alte war schon lange nicht mehr fernab der Waal gewesen, trug weiterhin voller Stolz seine Kapitänsmütze. Jetzt stand er da, lächelte verschmitzt in die Kamera des örtlichen Fernsehteams und kritzelte mit Kreide die Abfahrtszeiten des Bummelschiffes auf eine Tafel. Viel mehr war ihm nicht geblieben, als das medientaugliche Maskottchen für die Touristen zu sein.
Ruben wusste, dass „de Kapitein“, sobald die Kameras aus waren, wieder an Bord ging. Aber nicht, um an den Steuerstand zu gehen, sondern um Geschirr zu spülen oder Schnittchen für die nächste Fahrt zu schmieren.

Der aufregendste Moment für den Kapitän musste es gewesen sein, als Ruben vor einiger Zeit mit dem Steckbrief und den Flyern bei ihm erschien. Der Alte konnte sich noch gut an Ruben erinnern, erkannte ihn aber kaum wieder. „Du bist aber groß geworden, jonge Man“, hatte er gesagt und ihn mit seinen matten Augen angestarrt. „Bist du denn Seemann geworden?“, wollte der Kapitän wissen, schnüffelte an Rubens Jacke, als roch er den Duft des Meeres, und strich über den Stoff, als ertastete er irgendwelche Hinweise auf eine Uniform.
„Ja“, hatte er mit einem Schlucken im Hals geantwortet, „doch ich habe so viel verloren, während ich zur See war.“

Ruben schaute genauer auf den Fernsehbildschirm. Der Wind musste wohl den Steckbrief, der zuletzt noch an dem Holzpflock am Steg gehangen hatte, weggeweht haben. Die Flyer, die aufeinandergestapelt und mit einem Stein beschwert auf dem Tisch vor dem Schiff gelegen hatten, waren mittlerweile alle verschwunden.
Er schnappte sich seine Jacke. „Ich muss weg.“
„Eine Runde noch“, sagte Koenraad.
„Ich muss um zwei da sein.“ Er zog den Reißverschluss herauf und versuchte, sein borstiges, rotblondes Haar zu glätten.
„Kommst du wieder?“, fragte Koenraad und zündete sich den Joint an.
„Kommt drauf an, ob die eine Stelle für mich haben und was mein Vater heute noch vorhat.“
Koenraad inhalierte genüsslich und zog eine Augenbraue hinauf. „Seit du wieder an Land bist und bei deinem Alten wohnst, höre ich immer nur Vater hier und Papa da.“
„Was soll ich denn tun? Ich brauche ihn … und er braucht mich. Es ist schwer für ihn. Er leidet.“
Er leidet? Du etwa nicht? Du liebst Bloem! Wir lieben sie alle.“ Er packte seinen Freund am Oberarm, blickte ihn scharf an. „Denk jetzt nicht an deinen Alten. Denk an das, was du im Herzen trägst.“ Er ließ los. „Manchmal glaube ich, du, die Jungs und ich suchen sie mehr als dein Alter, der bloß diesen Typen beauftragt hat und ansonsten so weiterarbeitet und weiterlebt, als sei nichts geschehen!“
„Vater ist schwach. Letzte Woche habe ich eine halbvolle Flasche Tullamore Dew im Handschuhfach gefunden. Auch der Barschrank wird immer leerer. Es ist wie damals, als meine Mutter …“ Er atmete schwer aus, deutete mit dem Kopf zum Fernseher und fuhr fort. „Meinst du, das hängt alles irgendwie zusammen? Jemand, der jungen Frauen etwas Böses, Schreckliches antut?“
„Denk doch nicht sofort daran! Und, wäre sie entführt worden, hätte doch längst jemand ein Lösegeld gefordert. Ist bei deinem Alten denn viel zu holen?“
„Und wenn sie sich gewehrt hat?“ Weitere Gedanken kreisten ihm im Kopf herum.
„Ruben, jetzt ist gut! Darüber haben wir schon tausend Mal gesprochen. Wir wissen es nicht!“
„Vielleicht findet Vaters Kumpel ja etwas heraus. Ich mag ihn nicht, aber er kommt viel herum, hat seine Augen und Ohren überall.“
„Der Fettsack? Ich traue dem Kerl nicht.“ Koenraad nahm einen festen Zug. „Ich hab gehört, er soll gesessen haben.“ Er hielt Ruben den Joint hin. „Hier, nimm!“
Ruben winkte ab.
„Hör zu“, sagte Koenraad, „es gibt bisher keine Spur. Keine einzige. Warum wohl?“ Er legte eine Hand auf Rubens Schulter, wischte eine Fluse ab und wandte sich dem langhaarigen Mann in Lederjacke zu, der plötzlich neben ihm stand und mit dem Kopf zum Billardtisch deutete.
„Entschuldigung“, nuschelte der Mann. „Ich störe euch nur ungern, aber ist der Tisch frei?“
„Verpiss dich! Der ist reserviert.“ Koenraad hielt sein Queue hoch. „Du kannst froh sein, dass ich nicht auf Hippies stehe, sonst würde ich dir den Stock darein stecken, wo du es am liebsten hast!“
„Koenraad, ist gut, beruhig dich.“ Ruben lächelte den Mann an. „Er macht Spaß. Ihr könnt spielen. Wir sind fertig.“
Kopfschüttelnd kehrte der Mann um.

„Du hast doch selber gesagt, dass ihre Klamotten auch weg sind, ihre Papiere …“, fuhr Koenraad fort. „Vielleicht war sie nicht das liebe Mädchen, für das wir alle sie gehalten haben.“
„Was willst du damit sagen?“
„Ist denn Geld weg oder was Wertvolles? Hast du das mittlerweile herausgefunden?“
Er schüttelte den Kopf. „Vater hat gesagt, ein paar große Scheine hätten in seinem Portemonnaie gefehlt. Aber sonst … weiß nicht. An Vaters Safe kamen wir schon als Kinder nicht dran.“
„Was ist mit der goldenen Kette, die du ihr geschenkt hast?“
„Die Kette? Niemals würde sie die ablegen!“ Die Wut, die in ihm aufkeimte, legte sich auf sein Gesicht, verzog es. Er schrie: „Niemals! Niemals!“


6 – Der rotbraune Koloss​

Pieter van Houten bummelte den Bürgersteig hinauf, weiter dem rotbraunen Koloss aus Beton, Stahl und Marmor entgegen, der ihn nahezu anzog. Er spürte, dass dort oben auf dem Hügel etwas auf ihn wartete.
Vor der Treppe am Haupteingang, die sich über die halbe Fassade des mehrgeschossigen Gebäudes erstreckte und wegen der Hanglage unterschiedlich hoch war, blieb er stehen. Ein vier bis fünf Meter breiter Treppenabsatz bot ähnlich einer Rampe Zugang für Kinderwagen, Rollstühle und Einkaufstrolleys.
Er wedelte sich mit dem Hut frische Luft zu und wischte den Schweiß von der Stirn, schaute zum wolkenlosen Himmel, genoss die Musik, die in der Luft lag. Besucher strömten die Stufen empor, nahmen Flyer entgegen, drängelten sich durch die Glastüren ins Innere, in den ihnen Angestellte Luftballons in die Hände drückten.
Am Rande der imposanten Treppe standen Leute und fotografierten die bunt geschmückte Front oder waren schlichtweg schaulustig ob dieses neueröffneten Fünf-Sterne-Einkauftempels am Niederrhein, von dessen Eröffnung Pieter in der Gelderlander erfahren hatte.

Einst thronte das Theater auf diesem Hügel. Er ballte die Faust. Das verdammte Theater, das Pieter mehrmals mit seiner Frau besucht hatte. In dem sie einen Infarkt bekam – während des zweiten Aufzugs von Lohengrin. Er wusste, seine Frau konnte er nicht wieder lebendig machen.
Er putzte sich die Nase und schaute sich um. Alles kam ihm fremd vor. Das ehemalige Schauspielhaus war dem riesigen, mit Marmor umhüllten Komplex gewichen; alle Nachbargeschäfte waren mit ihm verschmolzen.
Die einst viel befahrene Straße wirkte verschmälert, breit genug für Omnibusse, die sich den Hang hinaufbewegten. Eine Tiefgarage unter dem Komplex war von der Hauptstraße, die hinter dem Komplex vorbeiführte, zu erreichen. Rotweiße Klapp-Pfosten versperrten die Zufahrt für Autos zur Fußgängerzone. Die Polizei würde einige Zeit benötigen, um die Sperrbügel zu lösen und die Pfosten umzulegen. Dies würde ihm wertvolle Sekunden bescheren.
Auch gegenüber des Centers war alles verkehrsberuhigt. Die einstige Zugangsstraße war einem kleinen Platz mit Skulpturen, Sitzbänken und Blumenbeeten gewichen.
Pieter ging ein paar Schritte zurück, griff nach seinem Smartphone und schoss Fotos. Jedes Detail zählte.

Ein paar Mal trottete er um das Einkaufscenter herum, warf neugierige Blicke in die Seitenstraßen und ging durch sämtliche Nebeneingänge ein und aus. Je nachdem, auf welcher Höhe des Hangs er ins Gebäude eintrat, fand er sich in einer der drei Etagen wieder – zwischen Boutiquen, Cafés, Restaurants und Juwelieren, wo es nach Leder roch, nach Kaffeebohnen und Steaks, wo es funkelte und glitzerte.
Während seines Rundgangs hielt er Ausschau nach Kameras und Türen, die zu Verwaltungsräumen führten. An Bühnen gesellte er sich zu anderen Besuchern, die eine Modenschau begafften oder eifrig den Auftritt eines Nachwuchssängers beklatschten. Immer wieder stellte er sich an den Rand und fotografierte aus verschiedenen Positionen. Ganz so, als müsste er – wie andere erstaunte Besucher auch – die Attraktionen oder Architektur unbedingt festhalten.

Er kaufte Kleidung in einer Damenboutique und eine BluRay in einem Elektronikladen, machte Halt an einer Waffelbude, setzte sich auf eine der Ledercouches, die in den Gängen platziert waren und biss von der Waffel ab.
Während er den Leuten hinterherschaute, wischte er mit dem Fuß ein paarmal über den Fliesenboden. Den Rest der Waffel warf er weg, zückte sein Notizbuch, notierte die wesentlichen Punkte.

Nach ein paar Schritten spürte er wieder das Kribbeln im Körper: Die magische Anziehungskraft. Wie ein Magnet dirigierte sie ihn durch das Gedrängel. Vorbei an den Spielgeräten, auf denen Kinder herumtollten, vorbei an einem plätschernden Springbrunnen, vor dem ein Liebespärchen saß, hin zu dem Ort, vor dessen Schaufenstern er nur wie zufällig stehen blieb und nicht allzu lange verweilen durfte: dem Juwelier.
Er sah eine Treppe im Laden, die in die untere Verkaufsetage führte. Der Teil des Geschäfts, der im Erdgeschoss bodentiefe Schaufenster besaß, vor denen zwanzig kniehohe und handbreite, massive Stahlpflöcke in einer Reihe im Boden einbetoniert waren, die ihm schon von außen aufgefallen waren.
Er stellte seine Einkaufstaschen neben sich, zog den Fedora etwas tiefer in die Stirn, war trotz der Handschuhe darauf bedacht, nichts zu berühren. Sein Herz hämmerte, während er auf die Auslage starrte. Beinahe vergaß er alles um sich herum.
Er kratzte sich am Ohr und blickte aus den Augenwinkeln auf Rahmen und Streben der Tür sowie auf die Alarmanlage und Kameras. Wiederholt schaute er sich nach allen Seiten um und schätzte die Entfernung zu den Glastüren des Centereingangs auf achtzehn Meter, bevor er wieder zum Schaufenster sah.
Er biss sich auf die Unterlippe, überschlug den Wert der gut drei Dutzend Uhren, die in den Schaukästen lagen. Patek Philippe, Rolex, Audemars Piguet. Mehr als eine Million Euro allein im ersten Schaufenster. Ganz zu schweigen von dem, was innen in den Vitrinen auf ihn wartete.

Gedankenversunken schritt er zur Seite. Sein Blick blieb an einem mit gedämpftem Licht angestrahlten Glaskästchen haften, in dem auf einem Samtkissen ein Armband lag. An dem Anhänger des goldenen, diamantbesetzten Armbandes war ein Papierfähnchen gebunden, auf dem in schwungvoller Schrift der Preis geschrieben war.
Seine Hände schwitzten in den Handschuhen. Für einen Moment dachte er wieder an die sternenklare Nacht von Venlo. Zwei Monate war es her, als sie in dem kleinen Juwelier eingestiegen waren. Er hatte Schmuck aus den Vitrinen in die Taschen geschoben, während Luschinski noch dabei war, den Tresor aufzubohren, als plötzlich die Polizei kam. Die verflixte Warnanlage, die geräuschlos und ohne zu blinken, Alarm geschlagen hatte.
Sie mussten viel zurücklassen. Laufen. Um ihr Leben rennen. Der halben Armee entkommen. Die beiden wollten gerade ins Auto springen, in dem sie bei laufendem Motor gewartet hatte. Dann war es, als hätte jemand einen Schalter umgelegt. Sie stieg heraus, um ihm die hintere Tür zu öffnen. Dabei hatte er sie angewiesen, auf jeden Fall am Steuer sitzen zu bleiben, egal was passierte.
Es war nicht seine Idee gewesen. Sie wollte unbedingt in dieser Nacht helfen, nachdem Frans als Fahrer kurz zuvor ausgefallen war. Ausgefallen, was für ein harmloses Wort. So, als hätte sich Frans erkältet oder seinen Führerschein vergessen. Dabei hatte er sich am selben Tag woanders eine Kugel eingefangen. Richtig schlimme Sachen passieren nur einmal im Leben, hatte Pieter bis dahin gedacht.
Mit einem mulmigen Gefühl im Bauch willigte er ein, denn er fand in dieser Nacht keinen Ersatz. Luschinski sollte die Alarmanlage ausschalten, den Tresor knacken und er selbst den Schmuck einsammeln. Da brauchten sie auf jeden Fall jemanden im Auto.

Sie wusste über den Bruch Bescheid, hatte das Telefonat belauscht, konnte aber unmöglich wissen, dass sie ihm einige Tage zuvor gedroht hatten, sie umzubringen, wenn er nicht spätestens in jener Nacht lieferte.
Er fand es besser, Luschinski zu verschweigen, dass es seine Tochter war. Er hatte nicht nachgefragt, interessierte sich sowieso für niemanden, wusste weder, wo er wohnte, noch, wo er sich aufhielt. Was du nicht weißt, macht dich nicht heiß, lautete seine Devise.
Luschinski und er sammelten sie am Bahnhof ein. Sie setzte sich hinters Steuer. Es herrschte Schweigen während der Fahrt. Besser so. Er war überrascht, wie locker sie mit allem umging.
Der Schall der Schüsse, die in jener sternenklaren Nacht über die Straße peitschten, hallten weiterhin in seinem Ohr nach, als wäre keine Sekunde seitdem vergangen. Vor allem quälte ihn der Anblick des Blutes. Blut. Überall Blut. Den Wagen gab er Luschinski mit, um alle Spuren zu beseitigen.
Nach der Sache in Venlo würde Luschinski von seiner neuen Idee wenig begeistert sein. Aber er benötigte ein letztes Mal seine Hilfe. Er musste ihn überzeugen. Ihn an die guten, alten Zeiten erinnern. Ihm einen höheren Anteil versprechen. Ihn irgendwie für sich gewinnen.
Luschinski war ein menschgewordener Polnischer Bracke. Ausdauernd, immer auf der Jagd, einer, der nur die Fährte aufnehmen musste. Nur, dass sein Eigenwille nicht so ausgeprägt war wie bei dem kräftigen und fleischigen Hund.
Pieter hatte sich schon seine Worte zurechtgelegt. Die Fotos und Skizzen würde er ihm zeigen und etwas von Lohengrin, von Burgen und Rittern erzählen. Nur so viel, wie nötig war. Er durfte ihn nicht überfordern.
Am Ende würde er sich einen Bierdeckel schnappen, Luschinski um sein Feuerzeug bitten und ihn mit dem, was er damit vorhatte, endgültig auf seine Seite ziehen. Sie kannten sich schon seit Jahren und er wusste, dass Luschinski kein Freund von langen Erklärungen war, sondern einfache, klare Worte und bildliche Vergleiche liebte.
Über seinen Plan, ähnlich wie bei Lohengrin, in dem der Protagonistin im Traum ein Ritter erschien, der sie beschützte und verteidigte, würde er schweigen. Das verstand Luschinski nicht. Sein Kumpel wusste den Wert einer intakten Familie nicht zu schätzen. Armer, einsamer, einfältiger Kerl.
Unentwegt starrte er auf das Armband im Schaufenster. Das Gold. Die Diamanten. Der Anhänger in Blütenform. All das zog ihn in den Bann. Das Schmuckstück hätte ihr gefallen. Zweifellos. Es passte wie ein Zwilling zu ihrer Kette mit dem Blütenanhänger. Das Teil einer Serie, aus den Händen desselben Meisters stammend.
Er musste sich gedulden. Nicht mehr lange und er könnte das Armband öfter sehen, es streicheln, spüren, wie es sich auf ihrer Haut anfühlte.

Schlagartig wurde er aus seinen Gedanken gerissen, als er eine Stimme hinter sich hörte. Im Schaufenster spiegelte sich eine Gestalt. Vorsichtig warf er einen Blick über die Schulter. Ein Wachmann schlenderte, dabei in ein Walkie Talkie blökend, über den Gang, abwechselnd nach links und rechts schauend.
Unwillkürlich schritt Pieter zurück. Er wartete einen Moment, strich über die Stoffblüte des Hutbands und wandte sich endgültig vom Schaufenster ab.
Auf halben Weg zum Hauptausgang drehte er sich einmal kurz um, stutzte. Die Kette. Wo hatte er sie zuletzt gesehen? Er versuchte, sich zu erinnern. Hatte sie die Kette in jener Nacht getragen?


7 – Bloß nicht ins Wasser​

Viktoria suchte sich den schönsten Apfel aus, nachdem sie den restlichen Einkauf in den Kühlschrank geräumt hatte, und fläzte sich auf ihre Couch.
Sie hätte ihre Periode nicht vortäuschen sollen. Was für eine blöde Ausrede, um nicht mit an den Strand zu gehen. Das hatte Maaike nicht verdient. Sie wollte sie einweihen. Schon bald. Sie konnte sich lebhaft ausmalen, wie es ausging, wie Maaike den Kopf schief legte, sich alles anhörte, ihr Bedauern äußerte, um ihr dann einzureden, dass es nicht ihre Schuld war. So wie alle anderen es zuvor getan hatten. Ihre Tante, ihr Onkel. Ihre Freunde aus dem Verein. Ihr Vater.
Selbst ihr Vater.

Keine Ausrede, hatte Maaike in der Mensa gesagt. Für das Strandbad war es bis zum heutigen Tag zu kalt gewesen. Das Hallenbad war wegen Renovierung seit langem geschlossen. In den Semesterferien konnte Viktoria ihre Jobs vorschieben. Das Studium, für das sie büffeln musste, der Sprachunterricht, Kopfschmerzen, andere Wehwehchen – irgendetwas war ihr immer als Ausrede eingefallen.
Bloß nicht ins Wasser. Nicht den festen Boden unter den Füßen verlieren.
Dabei hatte sie das kühle Nass von klein auf geliebt. Ihr Vater war stolz auf sie gewesen. Sie konnte seine Worte hören: „Du bist mit Schwimmhäuten auf die Welt gekommen, bewegst dich wie ein Fisch im Wasser.“ Zumindest bis zum letzten Jahr. In ihrem Schrank lag kein Bikini, kein Badeanzug, ganz zu schweigen von ihrer Ausrüstung, den Wasserschuhen und Neoprenwesten.
Ein Bild tauchte vor ihrem inneren Auge auf. Wie sie im Frühjahr mit ihrem Exfreund auf der Düne stand, das Wendemanöver des Rundfahrtschiffes anschaute. Sein derbes Lachen, der Spott in seiner Stimme. „Seekrank? Das ist nicht dein Ernst. Auf der flachen, ruhigen Waal? Das Schiff fährt höchstens zwanzig Kilometer pro Stunde. Was ist nur los mit dir?“
Er hatte sie nicht verstanden. Außerdem fuhr das Schiff maximal fünfzehn Kilometer pro Stunde, zehn bis elf Knoten.
Sie wickelte den Apfelkitsch in ein Taschentuch, legte ihn auf den Couchtisch. Aus den Augenwinkeln sah sie das rote Lämpchen ihres Anrufbeantworters aufblinken.
Der regelmäßige Anruf. Ihr wurde flau im Magen.
Die Frauenstimme auf dem Band wollte sie aufmuntern. Sie brauchte bloß den Knopf drücken, die Nachricht abhören, und wann immer sie wollte, einfach die Aufnahme löschen. So wie beim letzten Mal. Und davor.

Auf dem Tisch breitete sie ihre Bücher und Hefte aus. Sozialpsychologie. Ihr neues Fach. Etwas, auf das sie sich stürzen konnte, das sie ablenken würde.
Den Namen des Harvard-Professors wusste sie nicht mehr, aber seine Definition zu diesem Gebiet. „Erforschung der Auswirkungen der tatsächlichen oder vorgestellten Gegenwart anderer Menschen auf das Erleben und Verhalten des Individuums“, las sie aus ihren Aufzeichnungen. Das klang schon interessant.
Das rote Lämpchen des Anrufbeantworters hörte nicht auf zu flackern. Sie schlug das Heft zu, ging zum Regal und zögerte. Irgendwann musste sie sich dem allem stellen.
Das war die Crux. Wie sollte sie später als Psychologin arbeiten? Die Patienten, die zu ihr kämen, würden große Hoffnung in sie setzen. Ihr Vertrauen schenken, ihr von ihren Ängsten berichten.
Wie sollte sie ihnen helfen, wenn sie sich selbst nicht helfen konnte?
Sie rieb sich den Nacken, legte den Finger auf die Playtaste, zögerte erneut. Nur Mut, sagte ihr Inneres. Waren das nicht Pieter van Houtens Worte? Endlich gab sie sich einen Ruck. Irgendwann würde sie bis zum Ende zuhören, zurückrufen und tatsächlich nach Deutschland fahren.
Hin zu dem Ort, an dem es geschehen war.


8 – Strohhalm​

Ruben nahm Platz und betrachtete abwechselnd den kleinen Abschnitt, den ihn der Automat am Eingang ausgespuckt hatte und die digitale Anzeige an der Wand.
Eine Angestellte rollte einen Aktenwagen, der quietsche, über den Flur; der Fahrstuhl brachte weitere Leute auf die Etage. Es roch nach Bohnerwachs und Schweiß.
Erneut prüfte er, ob er alle Unterlagen beisammen hatte, kramte sein Smartphone heraus, öffnete den Maileingang. Ein ehemaliger Kamerad aus der Armee war davon überzeugt, Bloem am Rotterdamer Hafen gesehen zu haben. Ein anderer hatte die Idee gehabt, sich auf dem Amsterdamer Strich umzuschauen. Natürlich, ohne sie zu finden.
Auf der Facebook-Steckbriefseite gab es neue Posts. So sollte Bloem in Marseille mit einem Mann am Strand gesehen worden sein; in Den Haag sei ein Zuhälterring aufgeflogen und mit Drogen hörig gemachte Mädchen befreit worden. In Maastricht wurde eine unbekannte Tote aus dem Fluss geborgen. Die üblichen Mutmaßungen und Behauptungen, die sich später wieder in Luft auflösten.
Und die Polizei? Wir melden uns, hatten sie auch beim zweiten und dritten Mal auf der Wache lapidar gesagt.

Eine neue WhatsApp-Meldung blinkte auf: Koenraad. Ruben verzog den Mund. Er war enttäuscht von seinem Freund. Wie konnte er nur denken, seine Schwester trüge die Kette nicht mehr. Sie war kein Teil, das man achtlos in eine Schreibtischschublade zu den Schulsachen oder sonst wohin legte. Seine zwei ersten Solde hatte er dafür hergegeben – und Vater gab Geld dazu. Viel Geld für eine Kette, die sie sich immer gewünscht hatte.
Nie würde er ihre glücklichen Augen vergessen, als er ihr das Schmuckstück um den Hals gelegt und dabei zu ihr gesagt hatte: Etwas Besonderes, genauso wie du.
Lange hatte er einen passenden Anhänger für die Kette gesucht. Ein Anhänger in Form einer Tulpe.
Blumen waren etwas Besonderes für sie. Ständig trug sie Röcke mit Blümchenmuster; selbst die Fensterscheibe ihres Zimmers hatte sie mit Blumen beklebt. Sogar in ihren dicken Locken steckte immer irgendeine Blume oder Blüte: Das Sinnbild für ihren Namen.

Seufzend öffnete er die Nachricht auf dem Smartphone. Koenraad hatte auf dem Heimweg einen Kumpel getroffen, dessen Vater eine kleine Druckerei besaß. Er versprach, neue Flyer und Steckbriefe zu drucken. Zwei Jungs aus der Billardhalle boten an, auf ihren Rädern herumzufahren und alles in den Nachbarorten zu verteilen. Er steckte das Telefon zurück in die Tasche, starrte auf das Wanddisplay und dachte wieder an Luschinski.
Luschinski hatte er bisher erst einmal gesehen – vor Jahren. Er wusste, dass sein Vater sich vereinzelt mit ihm traf, um über Wertpapiere und Börsengeschäfte zu fachsimpeln. Dabei sah Luschinski nicht wie der typische Geschäftsmann aus. Aber was wusste Ruben schon von den Normen und Gepflogenheiten dieser Branche? Wurden die meisten Deals heutzutage nicht ohnehin am Telefon oder Online geregelt? Ihm wurde klar, dass er gar nichts wusste, überhaupt nichts von Vaters Arbeit mitbekam.
Vielleicht fand Vaters alter Freund tatsächlich etwas heraus. Was spielte es für eine Rolle, wie Luschinski aussah oder dass er, wie es hieß, gesessen hatte.
Ein weiterer Strohhalm, an den er sich klammerte. Irgendwann würde er es schaffen. Bloem finden. Das war sein Ziel.
Er dachte an ihren sechzehnten Geburtstag zurück. Sah sie vor sich, wie sie von seinem Bier kostete und es angeekelt ausspuckte. Auch geraucht hatte sie nie, stattdessen viel Sport getrieben.
Nach Mamas Tod fing sie an zu trinken, ließ sich hängen, schwänzte die Schule, wurde schließlich beim Ladendiebstahl erwischt. Doch Bloem hatte sich wieder gefangen, dank Vaters und seiner Unterstützung. Sonst wäre er niemals zur Marine gegangen. Was eindeutig ein Fehler gewesen war, wie sich später gezeigt hatte.
Er erinnerte sich an Koenraads Worte: „Bloem ist nicht mehr die, für die sie alle halten.“ Er fragte sich, ob Koenraad mehr wusste. Hatte er etwas zu verheimlichen?
Stirnrunzelnd holte er ein Foto aus dem Portemonnaie und betrachtete es. Das aktuellste Bild, das er von seiner Schwester besaß.
Einige Tage, bevor er zum Manöver musste, hatten sie am Automaten im Bahnhof eine kleine Fotoserie geschossen. Er sah sie vor sich, wie sie auf dem Hocker vor dem Spiegel saß und Grimassen zog. Schließlich schnitt sie ihm das Foto ab, von dem sie wusste, dass es ihm am besten gefiel: Die Aufnahme, auf der sie mit beiden Händen verspielt durch ihre dicken blonden Locken wuselte. Die kleine, süße Unschuldige.
Ein lautes „Ping“ riss ihn aus seinen Gedanken. Eine grüne Lampe leuchtete am Wanddisplay, seine Nummer. Ruben stand auf, klopfte an die Tür und trat ein.

Der Mann hinter dem Schreibtisch begrüßte ihn freundlich und schaute wieder auf seinen Computerbildschirm. „Leider haben wir nichts Neues für Sie. Haben Sie die Nachweise dabei?“
Ruben holte den Umschlag aus der Jackentasche. Kopien seiner Bewerbungen. Ausgeschnittene Stellenanzeigen. Absagen.
Sein Gegenüber blätterte alles durch. „Okay, Eigenbemühungen liegen ausreichend vor.“ Er gab den Umschlag zurück und tippte auf der Tastatur herum. „Ich schaue mal nach Umschulungsmaßnahmen. Ob Sie jetzt Motoren von Schiffen reparieren oder von Autos …“ Er versteckte seinen Kopf wieder hinter den Bildschirm und tippte weiter.
Der Drucker ratterte. Dann stand der Arbeitsvermittler auf und reichte Ruben die Ausdrucke. „Deutschland, Herr van Houten?“, fragte er. „Eine grenzübergreifende Maßnahme.“ Er schmunzelte. „Manchmal wartet das Glück im Ausland.“


9 – Der Ritter von Lohengrin​

Pieter van Houten trat aufs Gaspedal, fädelte sich auf die A 61 ein, schaltete den CD-Player an und summte Beethovens Neunte mit. Genau soviel Ruhe bewahren müsste er auch nachts gegen drei Uhr, nach aufregenden Stunden, mit heißer Ware im Kofferraum und der Angst im Nacken.
Nach kurzer Zeit ließ er sich im Verkehrsfluss mittreiben, bis plötzlich Martinshörner aufjaulten. Ein Polizeiauto und mehrere Rettungswagen sausten mit Blaulicht auf der Gegenfahrbahn vorbei.
Warum der Notarzt damals so lange gebraucht hatte, konnte er nicht begreifen. Er traf erst ein, als es für Juliana zu spät war. Beim Bruch hingegen war die Polizei so rasch und geräuschlos gekommen, dass es ihm die Sprache verschlagen hatte und er nur panisch die Flucht ergreifen vermochte. Die Alarmanlage des Juweliers hatten sie stillgelegt, es war keine Menschenseele zu sehen, alles war ruhig. Wie hatte das passieren können? War zufällig eine Streife unterwegs gewesen, der etwas Verdächtiges aufgefallen war? Gelangweilte Polizisten, die während der Nachtschicht ihren Bezirk abfuhren? Diesmal würde er dafür sorgen, dass die Polizei anderweitig beschäftigt war.

Mit der Beute aus dem Frühjahr konnte er bloß einen Teil Teil seiner Schulden begleichen, selbst Luschinski war er noch Geld schuldig. Leichtsinnig hatte er auf die falschen Wertpapiere gesetzt, sich von den falschen Leuten Geld geliehen.
Seine Gläubiger in Rotterdam würden ihm nicht mehr viel Zeit lassen. Wahrscheinlich meldeten sie sich in ein paar Tagen wieder. Womit würden sie ihm diesmal drohen?
Durch die Windschutzscheibe starrend trat er schlagartig auf die Bremse. Die rechte Spur war weiter vorne gesperrt. Er blinkte, schaute sich um und zog nach links. Noch mal gut gegangen. So kurz vor dem Ziel durfte das Fahrzeug keinen einzigen Kratzer abbekommen. Die Autos rollten im Schritttempo, der Verkehr kam völlig zum Erliegen. Er ließ das Lenkrad los, zog die Handschuhe aus, rieb sich die Hände. Knetete sie durch, streckte die Finger, dass die Gelenke knackten.

Er kniff die Augen zusammen, versuchte sich an die sternenklare Nacht in Venlo zurückzuerinnern. Fast alles hatte er deutlich vor sich, nur eine Sache ließ ihn nicht los: Wo war Bloems Kette abgeblieben? Sie tauchte vor seinem inneren Auge auf. Blue Jeans, dunkles T-Shirt, schwarze Wollmütze und Lederhandschuhe. Alles dem Zweck angemessen. Bis auf ihre verdammten Lieblingsschuhe, die rutschigen Chucks. Wenn sie nicht ins Schlittern geraten wäre, hätte die Kugel sie nicht getroffen.
Noch Mal konnte das nicht passieren. Deswegen war er in der Boutique gewesen. Deswegen lagen die Schuhe mit den rutschfesten Sohlen lagen im Kofferraum.

Nur: Wo war die Kette? Lag sie tatsächlich im Tresor? Unruhig rutschte Pieter auf dem Autositz hin und her. Er musste das tun, was er nicht wollte, was er bisher nicht geschafft hatte: in den Beutel schauen, den Luschinski ihm gegeben hatte, den er, ohne hineinzusehen, in den Tresor gelegt hatte.
Es war unvermeidlich – und er musste es tun, bevor jemand anderes den Tresor öffnete. Vielleicht war die Polizei ihm längst auf der Spur. In den letzten Wochen war es verdächtig still geworden. Hatte er die Beamten mit seinen Aussagen überzeugen können?
Es war alles zu viel gewesen, so seine Worte. Der Tod ihrer Mutter, ihre Flucht in Alkohol und Drogen. Ihr Bruder Ruben fort, zur Marine. Kein Wunder, dass Bloem sich einsam gefühlt hatte, ihr einziger Ausweg die Flucht gewesen war. Ein vorgetäuschter Besuch bei einer Freundin, die von nichts wusste, bei der sie nie angekommen war.
Er biss sich auf die Unterlippe, bis er Blut schmeckte. Es klang doch alles glaubhaft.
Was, wenn die Polizei von seinen Schulden erführe? Was, wenn sie Luschinski wegen irgendeiner dummen Sache schnappten und er sein Gewissen erleichtern wollte oder sich verplapperte? Vielleicht hatte er auch einen unzuverlässigen Helfer gehabt, einen Mitwisser. Hatte ihm jemand mit dem Auto geholfen? Was war mit dem Hehler?
Seine größte Sorge war jedoch, dass Ruben den Tresor öffnet, den Beutel findet. Kannte er die Zahlenkombination tatsächlich nicht?
Er musste seinen Sohn so schnell wie möglich einweihen, den Beschützerinstinkt in ihm wecken. Schließlich sollte der Junge die Rolle übernehmen, an der er als Vater gescheitert war: Die des Ritters von Lohengrin.

Lohengrin. Er schluckte. Wagners Oper, bei der Juliana gestorben war, in dem Foyer des Theaters, wo sich jetzt der Juwelier befand … das Foyer … der Juwelier.
Die Kette – das Armband.
Bloem und die Studentin. Alles gehörte zusammen, war miteinander verflochten. Es konnte nicht falsch sein: die Rolle, die Viktoria einnehmen würde. Pieter schnappte nach Luft. Er spürte eine wohlige Wärme aufkommen und wischte sich Freudentränen weg. Zeitgleich endete der beklemmende Stau. Er zog die Handschuhe an, schaute wiederholt auf die Anzeigen im Cockpit, prüfte Uhrzeit und Tempo. Die bezifferten, kreisförmigen Maßeinteilungen tanzten geradezu vor seinen feuchten Augen, vermischten sich mit dem Bild des Kombinationsschlosses.
Würde an ihrem Shirt, das sich in dem Beutel befinden konnte, noch der süßliche Blütenduft ihres Parfüms haften? Befänden sich in der Wollmütze Haare von ihr? Würde er auf ihr Portemonnaie stoßen, mit dem Foto ihres Bruders etwa, das sie stets bei sich getragen hatte? Was, wenn Luschinski in ihren Taschen herumgewühlt hatte? Er musste davon ausgehen, dass Luschinski sich gefragt hatte, warum er die Kleidung und alles andere abliefern und nicht einfach verbrennen sollte. Er war bestimmt nicht so dumm, wie er aussah. Fragen hatte er keine gestellt, war am nächsten Tag so wortkarg wie eh und je.
Wieso hatte er sie nicht selbst durchsucht, als er die Chance dazu hatte, als er mit ihr hinten im Fond saß? Doch welcher Vater wühlt in den Sachen seines Kindes, während es … Ein schlimmer Gedanke.
Was, wenn Bloem die Kette getragen und Luschinski sie ihr abgenommen hatte? Hatte er das Schmuckstück versetzt? Als Extralohn für die schmutzige Arbeit?
Strauchdieb, Zigarettenautomaten-Knacker oder Schwarzfahrer hatte er seinen alten Kumpel, den gelernten Schweißer, früher geneckt. Dabei war das gewaltig untertrieben, doch das hatte er erst später festgestellt.

Am ehemaligen Grenzhäuschen, das zu einem Café umgebaut war, steuerte er den Parkplatz an, putzte sich die Nase und holte sein Telefon heraus.
Wehmütig schaute er auf die Reklamebeleuchtung des Cafés. Erst gestern Abend hatte er in Nijmegen im Zomer gesessen und seelenruhig die Zeitung durchgeblättert. Welch Ironie des Schicksals, dass die Vermisstenmeldung direkt unter dem Artikel des neueröffneten Einkaufscenters stand, unter dem ausgerechnet der edle Juwelier seinen Schmuck angepriesen hatte.
Er glaubte nicht an Zufall, auch nicht, als die junge Kellnerin gerade in dem Moment zu ihm kam, als er auf die Zeitungsseite geblickt hatte. Besiegeltes Schicksal.
Tagelang zuvor hatte er die Studentin im Café beobachtet und dabei gegrübelt, ob es richtig war, was er plante. Dann erst, an ihrem allerletzten Arbeitstag, setzte er sich an einen ihrer Tische. Wie gerne hätte er sie in die Arme genommen, in ihre Locken gefasst, sie auf die Wange geküsst. Doch das durfte er noch nicht.
Er öffnete sein Notizbuch, las die Nummer ab und tippte sie ins Telefon. Jetzt musste er zunächst hoffen, dass der Polnische Bracke die Fährte aufnahm.


10 – Quietschgelb​

Viktoria stand vor dem Anrufbeantworter, bereit, das Gerät schnell auszuschalten, sobald es erneut piepte. Dann trällerte die Stimme einer Frau aus dem Lautsprecher. „Ich bin’s, mein Kind. Wie isset?“
Das unverkennbare Ruhrplatt, das auch ihr Vater gesprochen und dem sie stundenlang hatte zuhören können.
„Du kannst gerne vorbeikommen, Vicky. Hast dich ja ewig nicht blicken lassen.“ Eine kurze Pause, in der Viktoria sie lächeln hörte, dann sprach Ursula weiter. „Hömma! Heinz sein Chef geht demnächst in Ruhestand. Wir übernehmen die Werkstatt und erweitern sie. Heinz möchte nicht nur an Caravans, Wohnwagen und Trailern rumklamüsern, sondern auch an Motorbooten. Ach so … und pack Badesachen ein! Und bring dein` Perlerich mit. Das Wetter ist genau richtig für den See und für Wasserski … Wir wollen noch die Kotlettschmiede anschmeissen. Tschüssi!“

Hastig drückte sie die Lösch-Taste. Ihre Tante hatte es wieder angesprochen. Wie hätte sie wissen sollen, was Viktoria plagte? Schließlich sprach sie mit ihrer Tante nie über Ängste und Schuldgefühle. Lieber behielt sie ihre Gedanken für sich.
„Du kannst gerne bei uns wohnen, bisse `ne Bude in Holland gefunden hast, Vicky. Kümmere dich nicht um die Wohnungsauflösung, datt machen Heinz und ich“, hatte sie ihr nach Vaters Tod angeboten. Nicht ihre Mutter, sondern Ursula war es, die jeden Tag am Krankenbett gesessen und ihren Bruder mit Hingabe gepflegt hatte.
„Sag Onkel Heinz bitte, er soll meine Wassersportausrüstung dem Verein spenden“, hatte sie gebeten, als sie zwei Wochen später wieder bei ihnen ausgezogen war. „Ich werde in Nimwegen sowieso keine Verwendung dafür haben.“

Sie setzte sich auf die Couch und schloss die Augen. Badesachen, See, Wasserski waren Ursulas Worte. Drei Dinge, die für sie als Kind so zusammengehörten wie Abendbrot, Zähneputzen, Gutenachtgeschichte.
Badesachen. Sie hatte sich geschworen, nie mehr Bikini oder Badeanzug anzuziehen.
Sie kaute auf den Fingernägeln und warf einen scheuen Blick auf den Kleiderschrank, der als Raumteiler zwischen Küchennische und Wohnraum diente.
Maaike oder die anderen würden es nicht verstehen. Glücklicherweise hatten sie im Radio schlechtes Wetter angekündigt. Sollte es ruhig regnen. Keiner würde sie mehr fragen, ob sie mit zum Strand käme.
See. Wasserski. Hier in Nimwegen war sie weit genug vom See entfernt, an dem es geschehen war. Jeden Sommer war sie mit ihren Eltern dort gewesen, auf dem Campingplatz am Xantener See bei Ursula und Heinz. Ihr Vater, mehrfacher Wasserski-Meister, der die schwierigsten Figuren auf dem Brett beherrschte, hatte ihr dort das Wasserskifahren beigebracht. Anfangs an einer Seilbahn; später fuhr sie auf Monoskier über einen Nebenarm des Rheins.

Sie hockte sich hin. Automatisch spannte sie ihren Körper an, verlagerte den Schwerpunkt auf die Füße und ballte die Hände zu Fäusten. Sie schwankte leicht, ahmte die Bewegungen auf dem Brett nach. Bewegungen, die ihr in Fleisch und Blut übergegangen waren.
„Das wirst du nie verlernen, so wie das Radfahren“, hatte sie Vaters Worte im Kopf.
Dann sah sie sich selbst in dem quietschgelben T-Shirt am Steuer des Sportbootes sitzen. Ein Bild, das ihr seit einigen Wochen wieder in ihren Träumen erschien. Augenblicklich verkrampften sich ihre Muskeln. Ein paar Sekunden verharrte sie auf der Couch, bevor sie sich zurückfallen ließ und kräftig ausatmete.
Es war in der zweiten Ferienwoche gewesen. Ihre erste Fahrt auf dem Boot ohne Begleitung. Endlich durfte sie alleine steuern. Wie stolz war Vater, als sie tags zuvor die Motorbootprüfung bestanden hatte. Wetterkunde, Schifffahrtsrecht, Knotenkunde und Manöver. Alles war ihr von Kind an vertraut.
„Papa, nach dem Abi arbeite ich in deiner Sportschule“, hatte sie voller Vorfreude gesagt. „Ich mache eine Trainerausbildung, etwas im Bereich Sportmanagement.“
Den Motorbootschein hatte sie am Tag der Beerdigung zerrissen und die Schnipsel von der Rheinbrücke geworfen.

Ihre Lippen zitterten. Sie vermisste ihren Vater geerbt. Von ihm hatte sie außer der Begeisterung für den Wassersport und dem blonden Wuschelkopf auch die Spontanität und Fröhlichkeit. Die waren ihr abhandengekommen. Was sie von ihrer Mutter geerbt hatte, das war ihr nicht klar. Sollte sie mit dem Herrn Doktor glücklich werden, mit dem sie durchgebrannt war, um irgendwo im Rheinland ein Therapiezentrum zu führen.
Einzig Vater zuliebe hatte sie das Psychologiestudium angefangen. „Sieh, was aus mir geworden ist. Aus der Sportschule“, hatte er ihr gesagt. Seine Stimme war tonlos. Die Apparate hatten sie da schon abgestellt, das Morphium höher dosiert. „Mach was Vernünftiges aus deinem Leben, mein Schatz. Hör bitte auf Mama.“

Sie blickte auf die Fachbücher, die sie neben der Vase aufgetürmt hatte. War das alles nur Zeitverschwendung? Sie wischte sich eine Träne aus dem Auge, schob die Vase bis zum Rand des Tisches und holte die Schreibutensilien aus dem Rucksack. Verdutzt schaute sie auf die Blumen. Das frische Wasser, das sie heute Morgen erst nachgefüllt hatte, ließ die Blüten ein zweites Mal aufblühen. Schöner als zuvor.
Viktoria schaute durch die Fensterscheibe, vor der glänzende Sonnenstäubchen durch die Luft tanzten. Sie stellte sich vor die Scheibe. Die Nachmittagssonne brannte, vereinzelte Strahlen fanden ihren Weg durch die enge Häuserschlucht. Im Haus gegenüber zog jemand ein Außenrollo herauf. Ein alter, weißhaariger Mann im Unterhemd schob eine Gardine zur Seite und spähte in den Himmel. Er nahm eine kleine Gießkanne, gab seinem Kaktus Wasser, schien mit ihm zu sprechen, während er an der Blüte der Stachelpflanze zupfte. Viktoria runzelte die Stirn, schaute zur Vase mit den neu aufblühenden Blumen und dachte plötzlich an Pieter van Houten.
Der Mann aus dem Café ließ sie nicht los. Er hatte verträumt gewirkt, oder wie in Trauer. Das hätte sie ohne das blöde Studium oder den Diagnostik-Kurs feststellen können. Van Houten schwelgte in Erinnerungen, versuchte ebenso wie sie, vergangene Zeiten aufleben zu lassen, hatte womöglich einen Schicksalsschlag zu verarbeiten. Ging es sie überhaupt etwas an?
Am Vorabend im Restaurant hatte er von Familie gesprochen. Nicht so, wie er über seine Arbeit berichtet hatte - es war eher ein Sinnieren, ein Aussprechen von Gedanken. Wahrscheinlich half ihm sein Glaube an die Kraft der Familie über alles hinweg. Was immer das Alles sein mochte, woher er diese Kraft auch schöpfte. Sie selbst hatte die Kraft und auch den Glauben an einer Heilung verloren, als sich in den Augen ihres Vaters diese Traurigkeit einschlich, die bis zum Ende nicht mehr aus seinen Augen gewichen war. Wie gerne hätte sie ihrem Vater geholfen, ihm das Lächeln zurückgebracht. Vaters trauriger Blick glich dem von Pieter van Houten.

Sie blätterte in einem Buch. Vielleicht war das Psychologiestudium dennoch die richtige Entscheidung. Wäre es nicht wichtiger, kranken Menschen zu helfen, kranke Seelen zu heilen, anstatt Kinder an überdimensionalen, albernen Gummireifen durch das Wasser zu ziehen?
Sie musste endlich Klarheit haben. Mit Altem abschließen, einen Neuanfang starten. Oder doch das Alte aufleben lassen? Seufzend stand sie auf und ging zum Kleiderschrank. Sie öffnete ihn und durchwühlte die Pullis. Da, ganz unten, ganz hinten an der Schrankrückwand, hatte sie es hingesteckt. Ungewaschen. Zusammengeknuddelt. Das quietschgelbe T-Shirt. Sie zögerte, dann zog sie es heraus, fühlte am Jersey und roch daran. Der Schweiß war längst verflogen. Der Angstschweiß, der ihr auf dem Boot am ganzen Körper ausgebrochen war.
In diesem Shirt hatte sie ihre erste Jugendmeisterschaft gewonnen und den Bootsführerschein bestanden. Warum hatte sie es überhaupt behalten?
Als wäre es erst gestern geschehen, erinnerte sie sich, wie sie in diesem Shirt auf dem roten Ledersitz des Reinell mit seinem 140 PS Evinrude-Motor gesessen hatte.
Es herrschte kaum Wind an diesem Sommermorgen – nicht zu heiß, außerdem war kaum was los auf dem See und rundherum. Ideale Bedingungen. Sie fuhr ein Stück mit dem neuen Sportboot vor und beugte sich nach hinten, um die beiden Digitalkameras anzuschalten. Vater winkte ihr von der Rampe zu.
Ein letztes Mal sah sie, wie er das Startzeichen gab, wie er lächelte. Dann schaute sie nach vorne und umfasste den Gashebel.
Ihre Hand zitterte, sie ließ los. Das Boot machte einen Satz nach vorne, bevor der Motor absoff. Ihr Vater musste den Griff der Leine sofort losgelassen haben. Sonst wäre er, wie so oft bei ihren missglückten Starts, etwas unsanft mit den Brettern oder dem Körper auf die Wasseroberfläche aufgeschlagen, hätte dann aber lachend die gelösten Bretter wieder eingesammelt und weitergemacht, als wäre nichts geschehen. Stattdessen war er in sich zusammengesunken und mit dem Hinterkopf gegen den Rand der hölzernen Startrampe geschlagen. Einfach so. Als hätte man einer Marionette mit einem Ratsch sämtliche Seile abgeschnitten. Einem trainierten, athletischen Einhundertundfünfzigpfund-Körper, den sonst nichts so schnell zu Fall brachte.

Noch immer hielt sie das Shirt in ihrer Rechten, das in ihren Gedanken der silberfarbene, hakende Gashebel des Bootes war. Sie zerknüllte es immer fester, ließ es los.
Das quietschgelbe Shirt fiel zu Boden.
Sie atmete langsam ein und aus, das Zittern ließ nach. Als sie ein Vibrieren am Körper vernahm, hielt sie die Luft an, schaute nach unten und hörte ein leises Summen. Erleichtert griff sie in die Hosentasche und holte das Handy hervor. Ohne aufs Display zu sehen, nahm sie den Anruf mit einem lang gezogenen „Ja?“ entgegen.
„Du hörst dich nicht gut an. Alles in Ordnung?“
„Ich, äh …“
„Du hast doch was, Vicky. Du warst heute so … ausweichend, bist fast geflüchtet.“
Sie schob das Shirt, das sie mit seiner grellen Farbe in all seiner Abscheulichkeit angrinste, mit dem Fuß unter die Couch.
„Bist du noch dran? Wir sind unten am Strand, ist super hier. Überlegst du es dir noch anders?“


11 – Leere Augen​

„Njet! Njet abmachen Gummi! Verboten! Njet!“
Die Worte aus dem mit Lippenstift verschmierten Mund prallten an Luschinski ab; das Kondom lag bereits auf dem Teppich. Irgendwo zwischen Teddybär, Short Jeans und Plüschhandschellen hatte er es hingeworfen. Jetzt stand er vor der jungen Frau, die nackt auf dem Rand des Bettes saß, hielt mit einer Hand ihren Kopf und umfasste mit der anderen seine Erektion.
Sie kniff die Augen zusammen, fuchtelte mit den Armen herum und schlug mit den Knöcheln unablässig gegen das Bettgestell. Die aus Deckenlautsprechern pochende Elektro-Musik übertünchte ihr Gejammer und den Lärm.
Das Gesicht zu einer Fratze verzerrt, verharrte er einen Moment. Dann stöhnte er, ergoss sich und ließ Penis und Mädchen los.
Augenblicklich begrub sie ihre Blöße mit der Decke und wischte sich mit dem Satin über das Gesicht, nicht ohne eine Salve russischer Schimpfwörter loszulassen.
Er setzte sich auf den Bettrand und beugte sich zu ihr. Vorsichtig hob er die Bettdecke an, die ihr aus den Händen glitt. Tränen hatten das Make-up längst zerstört, ein verlebtes Gesicht aufgedeckt. Kopfschüttelnd wischte er ihr eine Träne fort, schürzte die Lippen und hielt seinen fleischigen Zeigefinger davor. „Pssscht.“
Zitternd starrte sie ihn an, ohne einen Ton von sich zu geben. Die Lautsprecher gaben kurz Ruhe, bevor der nächste Titel startete. Für einen Moment war nur rhythmisches Stöhnen aus dem Nebenzimmer zu hören.
Zufrieden putzte er das erschlaffte Glied an der Bettwäsche ab, zog seine Hosen hoch, kramte einen Hunderter aus dem Portemonnaie und überlegte, ob er ihn neben dem anderen auf dem Nachttisch platzieren sollte. Schließlich wedelte er mit dem Schein vor ihrer Nase und grinste.
Zögerlich ergriff sie das Geld. Dann tastete sie neben dem Bett und hob einen Gegenstand auf.
Der schwarze Riesendildo verfehlte knapp seinen Stiernacken, als er sich nach der Jacke bückte, und landete auf den Boden. Er grinste, schob seinen massigen Körper durch die Tür und betrat den schummrigen Flur.

Während er auf die Alte im Morgenmantel zutrottete, die im Eingangsbereich an einem Tisch vor ihrer Zeitung saß, stopfte er sich sein T-Shirt in die Hose. Bei ihr angekommen, blieb er stehen, zündete sich eine Zigarette an und kratzte sich am Schädel.
„Besser en Plaat als jar kein Hoor“, hauchte die Alte.
Langsam bückte er sich, blies Qualm aus und legte sein rundes Kindergesicht in Falten.
Mit dem Kinn deutete die Alte in die Richtung, aus der er gekommen war. „Dat hät en Schnüss, dat kann de Sparjel quer esse, wat?“ Dann hielt sie ihm ihre furchige Hand hin.
Er kramte einen zerknüllten Zwanziger aus der Gesäßtasche und warf ihn auf die Zeitung. „Hier! Aber nächstes Mal soll sie die Fresse halten. Kurva kurva.“
„Pass op, wat de säs!“

An sein Auto gelehnt betrachtete Luschinski nachdenklich die untergehende Sonne. Er zündete sich eine weitere Zigarette an und erinnerte sich, wie seine Mutter früher von ihrer Schicht aus der Notaufnahme nach Hause gekommen war. Es war stets der gleiche Ablauf gewesen. Sie setzte sich auf den Balkon, zerrte ihr Haargummi ab und wuselte mit den Händen durch die dicken Locken, als schüttelte sie sich etwas ab. Dann rauchte sie eine HB, trank einen Akvavit, atmete schwer aus und sagte mehr zu sich selbst als zu ihm: Runterkommen. Das Elend vergessen.
Manchmal nahm sie ihn auf den Schoß, küsste ihn auf die Wange. Gemeinsam schauten sie sich die Abenddämmerung an.
Er wusste noch, wie er ihren Schweiß wahrnahm, den nach Alkohol riechenden Atem. Dass der Blick aus der achten Etage, hinweg über die Felder und die Stahlwerke für ihn etwas Majestätisches besaß. Unendliche Weite. Alles lag ihm zu Füßen.
„Siehst du: die Sonne geht unter. Und was macht sie morgen früh, mein Junge?“
„Da geht sie wieder auf, Mama“, antwortete er.
„Genau. Dann beginnt ein neuer Tag.“
Erst später, als Vater nicht mehr heimkam, begriff er, was seine Mutter mit Elend wirklich gemeint hatte.

Die Sonne verschwand hinter dem Horizont und er schnippte die Kippe weg. Auch morgen brach ein neuer Tag an.
Er schaltete die Stummschaltung seines Handys wieder aus und sah das Symbol für zwei entgangene Anrufe. Der hatte ihm gerade noch gefehlt. Der feine Kerl, der sich zu schade war, sein Auto selbst zu reinigen und sich um die Kleine zu kümmern.
Er steckte das Handy weg und schaute den beiden jungen Frauen in Miniröcken hinterher, die eine Imbissbude auf der gegenüberliegenden Straßenseite ansteuerten.
Die Reklameschilder im Fenster funkelten ihn geradezu an. Kebab, Efes. Eine kleine Erfrischung kam ihm recht. Liebe macht hungrig.
Hastig holte er seinen Laptop aus dem Kofferraum. Auch wenn es spät war, irgendwo auf der Welt war immer Börsenschluss. Vielleicht bot sich zwischendurch oder anschließend die Gelegenheit für ein schnelles Geschäft.

Die Glöckchen am Türrahmen bimmelten, als er eintrat. Der Geruch von Frittenfett und scharfen Gewürzen schlug ihm entgegen. Er grummelte etwas zur Begrüßung und legte den Laptop auf die Glasablage der Theke, an der die beiden Frauen gerade ihre Bestellung abgaben.
Er schritt zur Seite, grabschte zwei Flaschen Efes aus dem Getränkekühlschrank und stieß die Kronkorken mit dem Flaschenöffner ab. Im hohen Bogen segelten sie auf den Fliesenboden. Eine der beiden Frauen drehte sich kurz um, ihre Handtasche schützend unter den Arm geklemmt, und lächelte schüchtern. Impulsiv starrte er auf ihre roten Lippen, auf die bis oben zugeknöpfte Bluse, unter der sich zarte Knospen abzeichneten, spürte eine leichte Schwellung in der Hose und schaute auf den Boden, als würde er die Kronkorken suchen.

Er nahm einen kräftigen Schluck Bier und ließ seinen Blick zuerst über die Menütafel an der Wand, danach über die Frauen schweifen. Auch wenn sie genauso wie die junge Russin von vorhin keine echten Blondinen waren - knackige, griffige Hintern besaßen sie allemal. Und vermutlich samtige Haut.
Bei der Russin, die ihm alles abverlangt hatte, hatte er schon an den Augenbrauen erkannt, dass sie gefärbt waren. Madame war keine Blondine, sondern eine Brünette. Dabei hatte er bei der Alten auf dem Flur speziell nach einer Blondine verlangt. Geschenkt. Dafür besaß die Russin sinnliche, feuchte Lippen und eine Haut, die sich weich und zart anfühlte. Sehr zart. Vielleicht nicht ganz so samtig wie die junge Blonde mit den dicken Locken aus dem Frühjahr.

„Bitt`schön?“, fragte der Mann hinter dem Tresen.
„Die Nummer vier. Mit Gurkensalat ohne Sahne“, sagte Luschinski und schaute den beiden Frauen hinterher, die sich hinsetzten.
„Wat op de Fritten?“
„Äh, … ohne alles. Aber viel Salz. Und scharfmachen.“
„Mit Peperoni?“
„Nein, nur von der roten Soße“, antwortete er und deutete auf ein Schälchen.
„Wir haben kostenloses WLAN. Auf der Speisekarte steht das Passwort.“
Den Rest der Flasche trank Luschinski in einem Zug aus, stellte sie auf die Ablage und setzte sich an den Nebentisch der beiden Frauen.

Während der Rechner hochfuhr, beobachte er aus den Augenwinkeln, wie die Frauen am Mineralwasser nippten und anschließend ihre Salatteller entgegennahmen. Sie bedankten sich höflich und legten sich Servietten auf den Schoß. Er grinste. Geschmack und Manieren besaßen sie; hübsche junge Frauen aus gutem Haus. Verwöhnt und betätschelt.
Konzentriert tippte er auf der Tastatur herum. Ein Datendiagramm erschien, mit immer weiter steigenden Werten. Zufrieden lächelte er. Dann hörte er hinter sich Schritte. Eine alte Frau schlurfte heran, stellte den Teller ab und legte Besteck daneben. „Danke“, grunzte er.
Begierig stieß er mit der Gabel ins Fleisch.
Er sah wieder die Blonde aus jener Nacht vor sich, ganz in Schwarz gekleidet. Sie hatte nach frischen Blumen gerochen, war ruhig, kühl und reserviert gewesen. Auf der ganzen Fahrt hatte sie bloß ein paar Worte mit van Houten gewechselt, die er nicht verstanden hatte.
Die wildesten Dinge hatte er sich ausgemalt. Sich gewünscht, dass sie später noch ein Trinken gingen, wenn alles überstanden und die Beute aufgeteilt war. Nur sie beide, ohne den Holländer. Er brauche keinen zum Übersetzen, hatte er noch im Spaß zu van Houten sagen wollen.
Einen Moment hatte er sich sogar vorgestellt, der jungen Blonden den dünnen Schweißfilm abzulecken, der sich auf ihrem Nacken gebildet hatte. Doch bevor er sie richtig kennenlernen durfte, war es schon vorbei. Eine kurze Bekanntschaft.
Recht kurz war auch die Berührung. Vorsichtig, ganz sachte. Aus leeren Augen hatte ihn die Blonde bloß angestarrt. Selbst als sie nackt und er mit ihr fertig war, all ihre Sachen in einen Beutel gesteckt hatte, starrte sie ihn weiterhin an. Glänzende Augen, so wie sie Stricherinnen oder Fixerinnen besaßen. Ihre Zähne waren aber gesund, Einstichstellen auf ihrer Haut fand er nicht. Auch keine Tattoos. Unheimlich hübsch war sie, anmutig – sogar, als sie bewegungslos im Kofferraum lag.
Vielleicht gehörte die Kleine zu diesem Frans, der eigentlich hätte fahren sollen, für den sie eingesprungen war. Er hatte nicht nachgefragt, hatte es sich verkniffen, in ihren Papieren herumzuwühlen. Das Geschäft verbot es. Je weniger er wusste, desto besser für ihn.

Ganz ruhig – totenstill – war es an dem Ort gewesen, zu dem er die Blonde am frühen Morgen gebracht hatte. Einsames Gelände am Rande der Stadt. Van Houten war da längst aus dem Auto gestiegen, hatte gemurmelt, noch ins Casino zu wollen. Richtig fein hatte er ausgesehen in dem dunklen Einreiher, auf dem Kopf trug er immer noch den komischen Hut mit der Blüte. Vorher hatte er ihm noch erklärt, wie er über die Autobahn stadtauswärts kam und wo er den sauberen Wagen tags drauf abholen würde. Sauber. Als ginge es um eine stinknormale Innenreinigung an der Waschstraße, wo sie einem noch ein Duftbäumchen verkauften. Egal. Jeder hatte seinen eigenen Umgang mit dem Tod.

Auf dem Weg zur Autobahn war Luschinski dann versehentlich falsch abgebogen und auf den alten Kanal am Rande der Stadt gestoßen. Wie gefesselt war er an den vielen verwinkelten Ausläufern vorbeigerollt, die ihn an die Kanäle im Ruhrgebiet erinnerten, in denen er als Kind schwimmen war. Als hätte er zerbrechliches Gut im Auto, fuhr er übertrieben vorsichtig über die alten Gleise, die am Ufer vorbeiführten.

Blasses Mondlicht war an jenem Morgen auf die baufälligen Backsteinhäuser gefallen. Ehemalige Speicher, Handelshäuser und andere mit Efeu überwucherte Gebäude, die nur noch an eine Geisterstadt erinnerten.
An einer schmuckeren, schöner aussehenden Stelle lag ein altes Fabrikgebäude, das restauriert und scheinbar in den oberen Etagen bewohnt war. Zumindest deuteten Gardinen und Rollos darauf hin. Er hatte das Tempo gedrosselt und hinauf gespäht. An einer Scheibe funkelte etwas im Licht der Straßenlaterne, die einsam vor dem Haus stand. Eine neonfarbige Wiesenlandschaft mit Blumen. Fensterfarbe. Alberner Kinderkram.
Sich nach allen Seiten umschauend war er weitergerollt und hatte schließlich am gegenüberliegenden Ufer angehalten, wo es blickgeschützt war, wo die Laterne unter dem Kinderzimmer trotzdem noch genügend Licht spendete.
Der ideale Ort. Auch wenn ihm aufgetragen wurde, eine andere Stadt aufzusuchen. Wahrscheinlich wollte der Holländer die Leiche nicht in seiner Nähe haben oder kannte diese perfekte Stelle einfach nicht. Feiner Urbane, der sich nur im Großstadtlicht bewegte und keinen Sinn für Romantik besaß.

Die schwere Plane und das Seil hatte er sich von einem der Kähne geborgt, der am Kai vertäut war. Ein altes, kaputtes Fischerboot; niemand würde die Sachen vermissen. Genauso wie keiner die Blonde vermissen würde. Außer er selbst.
An einer zerbröckelten Mauer sammelte er genügend Ziegelsteine ein. Tief genug war der Kanal an der Stelle, hatte er es doch als Erstes mit einem langen Bootshaken geprüft, bevor er rückwärts bis zu dem Rand herangefahren war.
Schnell versank das Bündel in der dunklen Brühe. Eine kurze, einseitige Liebe. Schade um das Mädchen.

Mit schlechtem Gewissen und etwas wehmütig war er wieder ins Auto gestiegen und zu einem Kumpel gefahren, der keine dreißig Kilometer entfernt wohnte. Tausend Euro hatte er für das Entfernen der Flecken und das Schweigen des Mannes bezahlen müssen.
Behalten wollte er den Mercedes auf keinen Fall. Einschusslöcher oder andere Schäden wies das Auto nicht auf. Aber wer wollte freiwillig auf dem Fahrersitz Platz nehmen? Es wollte ja auch keiner in einem Bett schlafen, in dem jemand gestorben war.
Er selbst hatte dort sitzen müssen, wohl oder übel, während die Blonde hinten im Fond in den Händen des Holländers starb. Die laute Klassikmusik aus den Autolautsprechern hatte alles übertönt. Trotzdem meinte er, ihn hinten leise schluchzen gehört zu haben. Der Holländer war sentimental. Ein Weichei. Kranker Kerl.
Fünfzig Scheine bekam er von dem Holländer. Eigentlich wäre viel mehr herausgesprungen, hätte er nicht jenen Fehler begannen. Er hatte die Alarmanlage nicht richtig ausgeschaltet oder irgendetwas übersehen. Seine Schuld.

Das Stühlerücken der zwei Frauen riss ihn aus seinen Gedanken. Die beiden waren aufgestanden und gingen zur Kasse. Er warf einen kurzen Blick auf die Beine und Hintern der Frauen, schaute auf den Bildschirm und wägte ab. Dann nahm er einen hastigen Bissen, schloss den Laptop und leerte das Bier. Nachdem er sich über den Mund gewischt hatte, schob er den Teller beiseite.


12 – Oostkanaalhaven​

Gelbe, stählerne Monster durchbrachen den Horizont. Schaufeln fraßen sich durchs Erdreich. Ketten krochen näher. Die Ruhe wird hier bald vorbei sein, dachte Pieter, als er den Wagen auf dem Kiesplatz parkte und ausstieg.
Seit die ehemalige Werft brach lag, gehörten Kräne, Bagger und Planierraupen zum Bild des neuen Ostviertels. Langsam nahm alles Gestalt an. Auch dort, wo einst Werkshallen oder Hafengebäude standen, wurden neue Bauten aus dem Boden gezogen – teure Eigentumswohnungen zum Kauf angeboten, umgeben von Parks mit kleinen Seen und Spielplätzen.
Noch mehr hippe Restaurants und Dienstleistungsfirmen würden am Oostkanaalhaven aus dem Boden schießen, dort, wo sich der Kanal am alten Hafenbecken gabelte, wo Pieter wohnte. Selbst ins leerstehende Erdgeschoss unter seiner Loft würde Leben einkehren, schließlich hatte der Eigentümer es kürzlich neu verpachtet.
Dabei wollte er selbst eine der Hallen mieten oder erwerben, um einen Billardtisch und Spielautomaten für seinen Sohn aufzustellen. Einen Bereich, in dem Ruben an Booten herumbasteln könnte. Natürlich dürfte sich auch Bloem eine Ecke nach ihren Wünschen gestalten. Wenn alles überstanden wäre und es keine Geldsorgen mehr gäbe. Wenn die Familie wieder komplett wäre.

Er blieb auf dem Aschenweg stehen, der entlang der alten Fabrikhalle zum Vordereingang führte und holte sein Mobiltelefon heraus. Probierte es erneut. Nach zehnmaligem Klingeln gab er auf und seufzte. Langsam wurde es eng.
Das Display zeigte ihm einen entgangenen Anruf an. Rotterdamer Vorwahl. Wer sonst? Es würde ihn nicht wundern, wenn sie demnächst vor seiner Tür stünden, um nach der Restzahlung zu fragen und ihn einzuschüchtern. Was würden sie ihm diesmal wegnehmen?
Kurz überlegte er, das Telefon lauter zu stellen, dann ging er weiter und öffnete die rostige Metalltür, durch die einst Arbeiter ihre Schicht angetreten hatten. Vor den grauen Blechkästen an der Wand, in denen früher die Stempelkarten steckten, stellte Ruben immer sein Rad ab. Heute jedoch kein Fahrrad weit und breit.

Es war sein Glück, dass das Werk Ende der Neunziger schließen musste und die Etage darüber frei wurde.
Raus aus der lauten, hitzigen Mietwohnung im Zentrum. Sie war nach Bloems Geburt sowieso nicht mehr groß genug. Ein erfolgreicher Geschäftsabschluss ermöglichte ihm den Kauf der alten Verwaltungsräume im Obergeschoss der Fabrik. Unten im Werk hatten Hunderte ihre Jobs verloren, während er eine Etage darüber Hunderttausende scheffelte. Ein Gedanke, der ihn nicht wirklich beschäftigt hatte.
Wehmütig schaute er sich um und richtete dabei seinen Hut. An der anderen Uferseite standen die alten Speicher, früher stolze Bauten der Hanse, in der Handelsware gelagert wurde. Er selbst hatte mit Weizen gehandelt. Aus seinem Zimmer gegenüber.
Er hatte den Blick auf die mondänen Lagerhäuser lieb gewonnen. Sie trieben ihn an, gaben ihm Inspiration und Zuversicht. Jetzt waren die Gebäude verfallen und die Gleise, über die einst Güterwaggons Rohstoffe und Waren austauschten, rostig und mit Unkraut überwuchert.

Er ging zurück zur Kaimauer, lehnte sich an die Brüstung. Hier, am hinteren Ausläufer des Nebenarms, faulte das trübe Wasser vor sich hin. Am Kai drüben waren zwei alte Holzkähne vertäut, jemand hatte die Netze, Taue und Motoren in Sicherheit gebracht. Reparaturbedürftige Boote, die neue Planken und frischen Anstrich vertrugen. Die Ruben sicher auf Vordermann bringen könnte.
Für einen kurzen Augenblick übertönten kreischende Möwen das Rattern der Kettenfahrzeuge in der Ferne. Es dauerte nicht mehr lange, und die Abrissbirnen und Raupen fänden ihren Weg auch hierhin, legten sie sogar das alte Hafenbecken trocken.
Unter dem gedämmten Schein der Laterne, der Mücken und anderes Ungeziefer anlockte, putzte er sich mit einem Taschentuch die Schuhe. Die einsame Lampe spendete genügend Licht für den Zugang zum Haus und vor allem für die Aufkleber an der Scheibe des großen Fensters. Hellgelb leuchteten die Sticker in der oberen Etage. Fluoreszierende Plastikplättchen, die Lampen- und Mondlicht speicherten und in der Finsternis strahlten.
Blumen, Wiesen, Bäume. Noch mehr Blumen. Bloem hatte die bunte Landschaft als Kind auf das Glas geklebt und dann, als sie älter wurde, nicht mehr abmachen wollen.
Er sah Bloem vor sich, damals, als sie abends heimgekommen waren. Sie war oft am Ufer stehengeblieben und hatte mit dem gleichen Blick hinaufgeschaut, wie er es nun tat.
„Papa, guck, wie die Blumen leuchten“, plapperte sie.
„Ja, Bloem. Sie strahlen wie du“, sagte er.
Einmal tollte Bloem auf der Kaimauer herum. „Bis hierhin leuchten die Blumen!“, rief sie. In ihrer Aufregung wäre sie beinahe über die bröckeligen Mauersteine gestolpert und ins Wasser gefallen, hätte Ruben, der ihr schnell nachgelaufen war, sie nicht festgehalten. Einen Tag später ließ Pieter die neue Brüstung bauen.
Hier am Ufer hatte er Ruben gezeigt, wie man Steine werfen musste, damit sie auf der Wasseroberfläche hüpften.
„Schaffst du es, einen Stein viermal springen zu lassen?“
Ruben nahm daraufhin einen Kieselstein und warf ihn über das Wasser, doch er ging sofort unter. Er nahm einen weiteren Stein, doch auch dieser versank, ohne aufzuspringen. Entmutigt ließ er den Kopf hängen, schob mit dem Fuß Steine beiseite.
Pieter hob Rubens Kinn an, blickte ihm in die Augen und sagte, dass er das niemals tun dürfe.
„Was darf ich nie tun, Papa?“
Er suchte den Weg nach geeigneten Kieselsteinen ab, zeigte sie seinem Sohn. „Das sind die besten Steine. Achte auf das Fähnchen da hinten. Schau, ob es windig ist, ob es Wellen gibt.“ Dann warf er den ersten Stein, der einmal auf der Wasseroberfläche sprang.
„Hast du auch aufgepasst, wie ich geworfen habe? Komm, ich zeig es dir nochmal.“ Er stellte sich hinter Ruben, drückte ihn an sich, steckte ihm einen Stein in die Faust und umschloss sie. Dann holte er aus und ließ Rubens Hand los. Der Stein sprang zweimal auf der Wasseroberfläche auf. „So ungefähr.“
Rubens Miene erhellte sich. Er hob eine Handvoll Steine auf, sortierte einige aus und zeigte sie Pieter, der passende aussuchte.
Später, als die Sterne schon über dem Kanal funkelten, gelang es Ruben beinahe spielerisch, Steine bis zu fünfmal aufspringen zu lassen. „Ich darf nie den Mut verlieren, niemals aufgeben. Ist es das, was du meintest, Papa?“


13 – Benzin und Motorenöl​

Das blaue Poloshirt kratzte ihr am Hals. Egal, wie oft Viktoria das Teil wusch, sie bekam das Gefühl nicht los, dass es ständig nach Benzin und Motorenöl roch. Ein Geruch, der sie an früher erinnerte, als sie ihrem Vater beim Herumbasteln an Bootsmotoren zusah, später sogar eifrig mithalf. Die ebenfalls vom Tankstellenpächter gestellte, dunkelblaue Hose war auch kein Kleidungsstück, das sie in der Freizeit tragen würde. Außerdem musste sie den Bund zweimal umschlagen.
Sie strich sich eine Strähne aus dem Gesicht. Die Locken hatte sie zu einem Zopf gebunden; ihre Haare musste sie trotzdem waschen, wenn sie von der Tankstelle heimkam. Sie warf einen Blick auf die Uhr und dann durch die Scheibe. Ein warmer Sommerregen hatte eingesetzt, sprühte und glänzte in der Sonne. Vater hatte in seinen schwärmerischen Momenten, die immer seltener wurden, oft gesagt, schon halb erstorbene Pflanzen würden nach einem erquickenden Sommerregen in wenigen Tagen wieder aufblühen. Für sie hieß es heute, dass bei dem Wetter nicht mehr viel Laufkundschaft für Zigaretten oder Zeitungen kommen würde. Auch der hektische Feierabendverkehr war endgültig vorbei; nur wenige Fahrzeuge würden die Zapfsäulen ansteuern.

Sie ordnete weiter das Durcheinander in der Zeitschriftenauslage, das die letzten Kunden hinterlassen hatten. Wie sehr es sie ärgerte: Die Leute wühlten in der Auslage herum, verschoben die akkurat aufgereihten Hefte, holten welche heraus, blätterten in ihnen – einige feuchten sich dabei sogar Daumen und Zeigefinger an, – und steckten sie anschließend dahin, wo sie eben nicht hingehörten.
Zwei Modemagazine entnahm sie und setzte sich wieder hinter die Kasse. Beim Aufschlagen stellte sie fest, dass sie die beiden Hefte schon letzten Donnerstag durchgeblättert hatte. Als sie aufstehen wollte, um sich neue zu holen, klingelte ihr Handy.
„Hallo, Vicky. Hast du am Samstag schon was vor? Ich sitz gerade mit ein paar Mädels bei Mecces und wir planen fürs Wochenende.“
„Hi, Maaike. Ich …“, überlegte sie, „bis jetzt noch nicht. Lass uns das morgen in der Mensa besprechen. Mir geht’s gerade nicht so gut.“
„Okay, Vicky. Ach, hat sich eigentlich der Alte wieder bei dir gemeldet?“
„Nein! Musst du denn so laut sein? Soll das jeder mitkommen?“
„Okay, okay. Morgen in der Uni“, antworte Maaike mit gesenkter Stimme, die fast im Hintergrunddröhnen unterging. „Und ich hätte da eine prima Idee, wenn du unsicher wegen des Alten bist.“
„Ich muss jetzt aufhören, da kommt ein Kunde“, sagte Viktoria.


14 – Sie kehrt heim​

Auf Socken schlich Pieter über den Flur. Vor der Tür, an der Bloem bunte Holzplättchen geklebt hatte, blieb er stehen. Er streichelte über die Buchstaben, die ihren Namen bildeten. Eines der Plättchen mit Blütenverzierungen war heruntergefallen und lag auf den Fliesen. Er bückte sich und steckte es in die Hosentasche. Irgendwann musste er ohnehin neue Buchstaben kaufen.
Ebenso leise wie er ins Zimmer eingetreten war, schloss er die Tür hinter sich und streifte dabei ihren Morgenmantel am Türhaken. Ihm fiel ein, wie sie an ihrem letzten Morgen in dem flauschigen Baumwollteil am Frühstückstisch gesessen hatte, Honig und Marmelade auf ihre Brötchen schmierte und einen Kakao trank.
Jetzt war sie fort. Mit ein paar Kleidungsstücken und persönlichen Dingen, die sie mit zu ihrer Freundin genommen hatte. Fort. Ihr blondes, lockiges Haar, der süßliche Duft. Alles fort.
Ihre schwarze Kleidung und die Chucks, die sie in jener Nacht getragen hatte – ebenso fort. Und doch so nah, hinter schwerem Eisen.

Letzte Sonnenstrahlen fielen durch die Ritze der heruntergelassenen Rollläden. Vorsichtig, um ein Quietschen zu vermeiden, kurbelte er an der Stange.
Dabei war er allein. Seine Frau lag begraben auf dem Begraafplaats im Westen der Stadt und Ruben war mit seinen Freunden beim Billard oder auf der Suche nach ihr. Zumindest war sein Rad nicht da.
Bloem war nicht daheim. Sie war im Frühjahr nicht von einem Besuch bei ihrer Freundin zurückgekommen. Immer und immer wieder hatte er es so der Polizei und allen anderen erzählt. Sie würde gewiss heimkehren, so seine Worte.
Er setzte sich auf ihr Bett und blickte auf die Tapeten mit dem Blümchenmuster und begann zu weinen.

Als die Tränen getrocknet waren, holte er ein Fotoalbum aus dem Regal. Bilder vom ersten Tag im Kindergarten. Die Einschulung. Die Abschlussfeier. Alles ging so schnell. Glückliche Bloem, glückliche Familie.
Er nahm ihren Lieblingspulli, der über dem Stuhl hing, und roch daran. Ihr Duft haftete schon lange nicht mehr an dem Stoff.
Eine Tür des Kleiderschrankes stand offen. Er war sich sicher, dass sie gestern noch geschlossen war. Nichts schien zu fehlen, die Kleidung war noch genauso ordentlich aufgehängt und gestapelt. Er schloss die Tür und blieb noch einen Moment vor dem Schrank stehen.
Ruben. Er musste etwas gesucht haben. Was hoffte er Monate später noch zu finden? Sein Sohn würde nicht aufgeben, bis er seine Schwester gefunden hätte. Er hatte seinem Sohn schließlich beigebracht, niemals aufzugeben.
Wusste doch selbst nicht, wo Luschinski sie hingebracht hatte.
Wie sollte er es Ruben beibringen? Wie würde er reagieren? Sollte er ihm überhaupt die Wahrheit sagen?
Für seinen Plan war Ruben wichtig. Er brauchte ihn. Unbedingt. So, wie er Viktoria brauchte.
Einige Zeit saß er noch auf dem Bett und überlegte, ob es falsch wäre, was er vorhatte. Heute wäre der richtige Tag für den nächsten Schritt. Heute könnte er sie treffen.


15 – Zerknüllt​

Ruben fischte die im zerlaufenen Käse pappende Gurkenscheibe heraus und legte sie beiseite. Ketchup floss über das Einschlagpapier, als er in den fettigen Burger biss.
Er saugte am Strohhalm und sah sich um. Zuletzt hatte er die vier jungen Frauen am großen Tisch angesprochen, die ihre restlichen Pommes Frites auf ein Tablett zusammengeschoben und wild durcheinanderredend nach ihnen gelangt hatten. Sie waren etwa im gleichen Alter wie seine Schwester.
Die Rothaarige, wohl deren Wortführerin, schaute kurz herüber. Über ihr Gesicht huschte ein kurzes Lächeln, das Ruben verwirrte.
Sie hatte das Foto von Bloem und sämtliche Angaben auf dem Flyer – Personenbeschreibung, Geburtsdatum, besondere Merkmale, zuletzt gesehen wann und wo – wie die meisten nur überflogen. Und genau wie alle anderen zuvor wollte sie Bloem noch nie gesehen haben.

Es war aufreibend. Ruben kam sich wie ein Schüler vor, der sich ein Taschengeld verdiente, indem er Passanten ansprach und ihnen Werbeprospekte eines neueröffneten Fitness-Centers zusteckte.
Die meisten Leute gingen einfach weiter. Die wenigen, denen er einen Flyer in die Hand drücken konnte, warfen ihn in den nächsten Papierkorb oder einfach auf die Straße. Sie warteten nicht mal, bis sie sich außer Sichtweite hielten.
An markanten Stellen, an Laternen, Masten und Hauswänden, hatte er die Suchmeldung befestigt. Nur wenige Händler erlaubten ihm das Anbringen an Schaufenstern oder Türscheiben. Freier Blick, sagten sie und schickten ihn fort.

Er schaute auf sein Smartphone, las Koenraads Nachricht. Auch er und die Jungs hatten keinen Erfolg gehabt, fuhren jetzt zur Billardhalle, um auf ihn zu warten. Schon seit vielen Wochen taten sie ihr Bestes, und Ruben würde es ihnen nicht übel nehmen, wenn sie mal einen Tag aussetzten.
Er scrollte auf der Facebook-Seite durch die Kommentare. Nichts wirklich Neues. Die E-Mail des lokalen Radiosenders überflog er nur. Aus redaktionellen Gründen … leider nicht … wünschen Ihnen noch viel Erfolg … Met vriendelijke groet, RADIO EEN NUL TWEE, bereid om te helpen.
Mit einem „Pah!“ drückte er auf den Löschbutton.
Er kaute auf dem Trinkhalm, überlegte, ob es sich lohne, heute weiterzumachen oder erst morgen oder gar nicht mehr, und schob den Stapel mit den übrigen Handzetteln auf den Tisch hin und her. Genauso viele Flyer hatte er noch zuhause liegen. Weitere Nachdrucke kämen noch hinzu.

Während er den Rest Wasser austrank, wurde es ringsherum lauter. Er blickte auf. Mehrere Jugendliche traten ein. Die Angestellten öffneten zwei weitere Kassen und einige Gäste wechselten von den Nebenschlangen herüber. Jetzt fiel ihm das Kinoplakat ins Auge, das an der Wand zu den Toiletten hing. Heute war Donnerstag - Premierenabend im Lux um die Ecke. Wie hatte er das vergessen können?
Die Lust auf Kino war ihm schon seit langem vergangen. Das letzte Mal war er mit Bloem im Lux gewesen. Er hatte ihr den Gefallen getan und sie zu einem Liebesfilm begleitet. Die Karte war von Bloems Schulfreundin, die kurzfristig absagen musste.
Die junge Heldin hatte ihren Traumlover gefunden. Sie begannen ein neues Leben in weiter Ferne. Große Liebe, Kinder. Happy End eben.
Sie hatte ihn gefunden. Suchen und Finden hatten für ihn jetzt eine ganz andere Bedeutung, die nichts mit Knutsch-Romantik zu tun hatte.
Er wischte sich mit einer Papierserviette den Mund, zerknüllte sie und warf sie aufs Tablett. Dann schnappte er sich den Stapel und ging zur Seitentür, die zum Kino führte.

„Zeigen Sie nochmal her“, sagte der Mann mit rauer Stimme und runzelte die Stirn. „Na klar. Vor ein oder zwei Wochen hab ich die gesehen. Eins Achtundsechzig, keine sechzig Kilo, ja, passt auch!“
Rubens Gesicht erhellte sich. „Wo war das und wann genau?“
„Ich war mit ein paar Freunden auf der Waalkade“, sagte der Mann und gestikulierte mit der Hand. „In einem Café in der Nähe der Strandbar. Das muss …, ja genau: Es war am vorletzten Mittwoch, nach dem Bowling. Summer oder Zomer heißt der Schuppen, kann ich Ihnen echt empfehlen, die haben einmaligen Kuchen und … tolle Bedienungen.“
„Sind Sie sicher? War sie allein?“, sprudelte es aus Ruben heraus.
„Und ob ich sicher bin. Die Locken, diesen Wuschelkopf und den Knackarsch vergesse ich nie“, antwortete er und schloss an der Kinokasse einen Schritt auf.
Ruben errötete und kam etwas näher. „Was wissen Sie über meine Schwester?“
„Schwester? Na ja, die Frisur eben, das Gesicht, die Figur. Alles passt haargenau. Mehr kann ich nicht sagen, sie trug halt diese typische Kleidung wie alle Kellnerinnen dort, sprach nur ein paar Worte. Wussten Sie das nicht? Sie sind nicht von hier, was?“ Der Mann schaute ihn abschätzig an. „Ich hab ihr ein üppiges Trinkgeld gegeben und … und ja, sie sah echt gut aus.“ Er verzog den Mund und breitete die Arme aus. „Sorry, ich konnte ja nicht wissen, dass es Ihre Schwester ist. Hat sie was angestellt?“


Fortsetzung folgt.
Link zu Teil 2.
 
Zuletzt bearbeitet:
Hallo Franklyn,

die Geschichte hat mich gepackt. Ich bin neugierig, wie es weitergeht. Die Spoiler habe ich mal absichtlich noch nicht gelesen.

Etwas fiel mir auf:

Heute Abend, wenn sie zuhause mit ihrer Freundin Grey’s Anatomy schaut, würde sie eine große Pizza bestellen und sie extra dick belegen lassen. Und, bevor sie am nächsten Morgen wieder der Ernst des Lebens einholte – das neue Semester – sogar zwei Flaschen Lambrusco bestellen.
Ich bin mir ziemlich sicher, dass das grammatisch falsch ist.

"wenn sie mit ihrer Freundin Grays Anatomy schauen würde" wäre die richtige Zeitform.
Oder, stilistisch besser: "wenn sie mit ihrer Freundin vor dem Fernseher säße, um Grays Anatomy zu schauen"

Schöne Grüße
SilberneDelfine
 

ahorn

Mitglied
Hallo Franklyn Francis,

wow, gefällt mir. Klassisch gemach, stimmungsvoll erzählt.
Ein paar Kleinigkeiten sind mir aufgefallen. Unter anderem ein paar ‚und‘ auf die man aufgrund der Logik verzichten sollte / kann. Außerdem würde ich nicht immer ihren Vornamen schreiben. Ersten sind bloß zwei Personen da: Der Herr und sie, zweitens wirkt es persönlicher. In der dritten Person erzählt, ist das ‚sie / er / es‘ das ‚ich‘ aus der ersten Person. Wer spricht sich mit den eigenen Vornamen an?

Es roch nach frisch gemahlenem Kaffee.
Hier würde ich einen Ansatz einfügen, um die einleitende Stimmung vom Rest abzuheben.

Viktoria stellte das (Wenn es ein ganz bestimmtes ist, zu dem es wird das, ansonsten würde ich hier eher ihr bevorzugen) Tablett auf die Theke, zog die Kellnerinnenschürze gerade (‚glatt‘ wäre auch nicht schlecht) und beobachtete, wie ein Gast das Café betrat.

Ihre Hände wurden feucht, Porzellan klimperte, ein Löffel fiel ihr vom Tablett.
Machbar. Allerdings ist es nicht irgendein Porzellan. Sie fuhr zusammen, sodass die Tassen, Teller auf ihrem Tablett klimperten und ein Löffel von diesem / ihm fiel.

Viktoria stellte das Tablett ab und KOMMA hob den Löffel auf. Sie blies (Ist sie ein Wal?) leise aus, sagte „Goedenavond“ und prüfte den Sitz des Blusenkragens, bevor sie den ihren Kellnerblock zückte.
Der Herr schnippte einen Krümel beiseite und KOMMA fuhr mehrmals mit der Hand über eine Falte im Tischtuch, …

Er nahm seinen schwarzen Fedora vom Kopf und KOMMA legte ihn vor sich.

Seine Stimme hatte für sie einen rauen Bass und …

„Gerne “, sagte Viktoria. „ PUNKT (Wer außer ihr, dem Gast ist noch da? Wer sollte auf seine Bestellung antworten?) Sie sprechen gut Deutsch. Woher wussten Sie, dass ich Deutsche bin?“

Viktoria Sie ging hinter die Bar und KOMMA betätigte den Kaffeevollautomaten (Hört sich eher nach Amtsdeutsch an. ;) ) . Abwechselnd spähte sie dabei auf die Uhr (Welche Uhr?) und den Gast, und atmete dabei schwer aus.

Während der Automat aus Milch Schaum machte und das Heißgetränk vervollständigte, hatte der Gast die Tageszeitung vom Haken genommen und las darin. Als der Cappuccino fertig war, brachte Viktoria ihn zum Tisch.
Spielt es wirklich eine entscheidende Rolle, was die Kaffeemaschine macht?

Während Viktoria sich wieder vor die Theke stellte, schrieb er etwas in sein kleines Notizbuch.
Sollte sie nicht zuerst zur Theke gehen und warum vor und nicht dahinter? Wie groß ist ein Notizblock?

Unterhalb der großformatigen Werbung für ein neues Einkaufscenter (Zwar unwichtig, trotzdem toll. ; ) stand der Artikel über die vermisste, junge Frau aus dem Osten der Stadt. Die Meldungen über den Fall waren zuletzt immer kleiner (Dürftiger) und unregelmäßiger geworden (erschienen), ...

Sie ließ den Blick durch das Café streifen.
Bisl abgedroschen. ;) Sie schaute / sah / blickte sich um.
Mittlerweile war fast jeder Platz besetzt, am besetzt. Am Eingang wartete eine Gruppe auf einen freien Tisch. Nicht mehr lange, und sie würde ihre / dieSchürze, Börse und ihren / den Block abgeben. Die langen Schichten in den letzten Wochen hatten ihr viel Kraft gekostet.

Viktoria Sie sah, wie der Herr die leere Tasse auf den Tisch zurückstellte, und fragte ihn, ob er noch einen weiteren Wunsch habe.

„Wünschen Sie sich manchmal auch, wieder ganz von vorne anfangen zu können? Eine zweite Chance zu bekommen? Wie eine Blume, die neu aufblüht?“ , fragte er.

Viktoria Sie griff mehrmals in ihre langen blonden Locken und zog sie KOMMA zog eine / zwei … (Alle wird sie wohl nicht herabziehen.) hinter den Ohren nach unten.


Gruß
Ahorn
 
Hallo Silberne Delfine,

die Geschichte hat mich gepackt. Ich bin neugierig, wie es weitergeht.
Das freut mich sehr.
Hoffe, dich auch weiterhin mit auf die Reise nehmen zu können.

Die Spoiler habe ich mal absichtlich noch nicht gelesen.
Gut zu wissen.
Melde dich dann mal einfach, wenn du es doch getan hast. Würde mich interessieren, ob und wie man dann als Leser da ggf. anders herangeht.

Ich bin mir ziemlich sicher, dass das grammatisch falsch ist.
Ja, jetzt wo du das sagst, fällt es mir auch auf.
Habe ich korrigiert.

Viele Grüße,
Franklyn Francis
 
Zuletzt bearbeitet:
Außerdem würde ich nicht immer ihren Vornamen schreiben. Ersten sind bloß zwei Personen da: Der Herr und sie, zweitens wirkt es persönlicher. In der dritten Person erzählt, ist das ‚sie / er / es‘ das ‚ich‘ aus der ersten Person. Wer spricht sich mit den eigenen Vornamen an?
Hallo Ahorn,

in der ganzen Geschichte spricht sich niemand mit dem eigenen Vornamen an. Ich weiß nicht, was du gelesen hast, aber ich habe kein einziges Mal: „ ‚Vktoria',
sagte Viktoria zu sich" gelesen. Du monierst etwas, was in der Geschichte gar nicht enthalten ist. Daran ändert auch die verschwurbelte Begründung „In der dritten Person erzählt, ist das ‚sie / er / es‘ das ‚ich‘ aus der ersten Person" nichts. Wo hast du das her, das würde mich interessieren.

Schöne Grüße
SilberneDelfine
 
Hallo Ahorn,

danke für deinen Kommentar und die vielen Tipps.

wow, gefällt mir. Klassisch gemach, stimmungsvoll erzählt.
Danke dir.
Ja, es soll langsam beginnen ...

Ein paar Kleinigkeiten sind mir aufgefallen. Unter anderem ein paar ‚und‘ auf die man aufgrund der Logik verzichten sollte / kann.
Viele deiner Hinweise habe ich übernommen. Da was geändert, dort was angepasst, einiges Umständliches oder Unnötiges rausgeworfen.

Außerdem würde ich nicht immer ihren Vornamen schreiben. Ersten sind bloß zwei Personen da: Der Herr und sie, zweitens wirkt es persönlicher.
Ja, bei zwei Personen ist das noch überschaubar. Nur, wenn unbedingt nötig, sollten die Namen schon erwähnt werden.

Unterhalb der großformatigen Werbung für ein neues Einkaufscenter (Zwar unwichtig, trotzdem toll. ; ) stand der Artikel über die vermisste, junge Frau aus dem Osten der Stadt.
Danke für das "toll".
Aber: Es kann später noch wichtig werden ...

Danke nochmals für deine Zeit, Hinweise und Vorschläge.

Schönen Tag noch.
Viele Grüße, Frankyln Francis
 

ahorn

Mitglied
Hallo Frankyln Francis

Nur, wenn unbedingt nötig, sollten die Namen schon erwähnt werden.
Unbedingt sogar. :) Sonst weiß ja kenner, wer da ist.
Ich bin bloß dann immer verwundert, wenn der Protagonist seinen eigenen Namen denkt. Er sei denn, wenn zwei weibliche Person oder eine weibliche und eine Gruppe aufeinandertreffen.
"sie sie", hört sich dann immer dämlich an. ;)

Sie schaute sich um. ;) Habe ich beim Scrollen gefunden.

Gruß
Ahorn

Hallo SilberneDelfine,

Wo hast du das her, das würde mich interessieren.
Es ist ein rein persönliches Leseempfinden. :)
Wer erzählt was.
Erzählt ein Erzähler, klar, dann nennt er die Leute beim Namen.
Empfinde ich, dass ein Protagonist erzählt, die Welt aus seinen Augen wahrnimmt, empfinde ich es als eher komisch, wenn er seinen eigenen Namen nennt.
Ist es nicht toll, wenn ein Autor es schafft, den Leser derart zu binden, dass dieser ganz mit dem Protagonisten verschmilzt? Lob an den Autor. ;)

Liebe Grüße
Ahorn
 
Hallo Franklyn,

oh, hier ist ja schon richtig viel gesagt worden. Als die Geschichte ganz frisch eingestellt war, bin ich mal drübergeflogen, musste dann aber zur Arbeit. Jetzt habe ich es noch einmal in Ruhe gelesen.
Ja, so ein Einstiegskapitel so hinzubekommen, dass der Leser wissen will, wie es weitergeht, ist nicht so leicht. Dir ist es wohl gelungen.
Wann geht es weiter? :)

Liebe Grüße,
Rainer Zufall
 
Hallo Franklyn,

noch zwei Kleinigkeiten:

Die langen Schichten in den letzten Wochen hatten ihr viel Kraft gekostet.
Hier muss es heißen:.. „hatten sie viel Kraft gekostet"

Als der Cappuccino fertig war, brachte Viktoria ihn zum Tisch.
Grammatisch zwar richtig, aber stilistisch gesehen nicht so schön. Ich habe mal in einem meiner Ratgeber gelesen, man solle es vermeiden, „als dies war, passierte das... " zu schreiben. Ist echt interessant, dafür andere Formulierungen zu finden. Hier z. B. nur: „Sie brachte den Cappuccino zum Tisch." Überflüssig zu erwähnen, dass er fertig war :).

Die Spoiler habe ich immer noch nicht geöffnet. Ich finde es im Moment noch so spannender.

Schöne Grüße
SilberneDelfine
 
Hallo Ahorn,

danke fürs erneute Vorbeischauen.

"sie sie", hört sich dann immer dämlich an. ;)
Ja, das stimmt. Habe mal irgendwo einen Negativ-Beispiel-Satz gesehen, bei dem 4x "die" nacheinander kommt. :)

Habe ihn gefunden:
Die, die die, die die Dietriche erfunden haben, verdammen, tun ihnen unrecht.

Sie schaute sich um. ;) Habe ich beim Scrollen gefunden.
Was ist denn da nicht in Ordnung?

Schönen Abend.
Viele Grüße, Franklyn
 
Hallo Rainer,

danke fürs Lesen und Kommentieren.

Ja, so ein Einstiegskapitel so hinzubekommen, dass der Leser wissen will, wie es weitergeht, ist nicht so leicht. Dir ist es wohl gelungen.
Ich hoffe, du bist auch ein(er der) Leser, der wissen will, wie es weitergeht :)

Wann geht es weiter?
Wahrscheinlich morgen.
Ich habe immer die Angewohnheit, die nächsten paar bereits geschriebenen Teile durchzuarbeiten, wenn ich Hinweise zu bereits geposteten Teilen bekomme habe ...

Schönen Abend.
Viele Grüße, Franklyn
 
Hallo SilberneDelfine,

noch zwei Kleinigkeiten
Prima. Sofort übernommen. Danke.
Habe bei der Gelegenheit auch noch zwei andere, kleinere Dinge geändert.

Ich habe mal in einem meiner Ratgeber gelesen, man solle es vermeiden, „als dies war, passierte das... " zu schreiben. Ist echt interessant, dafür andere Formulierungen zu finden. Hier z. B. nur: „Sie brachte den Cappuccino zum Tisch." Überflüssig zu erwähnen, dass er fertig war
Ja, habe ich auch mal in einem Schreibratgeber gelesen. Trotzdem ist es passiert :cool:
Genau so gut gehört dazu das Wörtchen "dann".

Ich habe den Satz ein wenig geändert, damit da noch eine zeitliche Spanne enthalten ist:
Kurz darauf brachte sie den Cappuccino zum Tisch.


Hallo Ahorn,

Sies chaute sich um.
Ah, jetzt habe ich das gefunden. Habe andauernd in meinem Originaltext danach gesucht. Muss sich beim Reinkopieren hier wohl verselbständig haben :)

Viele Grüße,
Franklyn
 

Basti50

Foren-Redakteur
Teammitglied
Moin @Franklyn Francis ,

kurzer Einschub von mir, da der Titel mich etwas misstrauisch stimmt: Bitte die Vorgaben aus dem Thread zu Mehrteilern beachten. Heißt auch den Teil, das Limit an 100.000 Anschlägen soweit wie möglich auszuloten, anstatt für jedes Kapitel einen neuen Thread zu erstellen. Du kannst aber natürlich gerne per Beitrag darauf hinweisen, wenn du deinen Text erweiterst, damit das nicht untergeht.

Das war es schon. Bitte weitermachen :D
 
Hallo Basti,

Danke für deinen Hinweis.
Ich wollte dich eh noch bitten, im Titel das Kap. 1 durch Teil 1 zu ersetzen.
Habe die Regeln gelesen und werde die 100.000 auch (jeweils) ausschöpfen.

Danke und viele Grüße,
Franklyn
 
Hallo Franklyn,

vielleicht habe ich etwas übersehen, aber in Teil 1 steht am Schluss:

Sie haben doch gleich Feierabend, oder? Ich stehe hier um neunzehn Uhr vor dem Café und warte auf Sie. Ich kenne da ein hervorragendes Restaurant in der Altstadt.“
Und in Teil 2 fährt Viktoria erst nach Hause, um sich umzuziehen. Der dritte Teil beginnt direkt im Restaurant.

Aaaaber - er wollte doch direkt nach Feierabend vor Ihrem Café stehen? Wieso fährt sie dann erst nach Hause?
Er steht vor dem Café, sie läuft an ihm vorbei? Dann wieder zurück vors Café, wo er solange gewartet hat? Etwas passt nicht.

Ansonsten finde ich es - für eine als Langprosa angelegte Geschichte - sehr gut gelungen.

LG SilberneDelfine
 
Zuletzt bearbeitet:
Hallo Franklyn,

ich stimme SilberneDelfine zu. Da passt etwas nicht. Oder hat Viktoria nicht erst um 19 h Feierabend, sondern früher, hat demzufolge Zeit, nach Hause zu fahren, um sich umzuziehen? Das kommt leider nicht klar genug rüber.

Liebe Grüße,
Rainer Zufall
 
Hallo SilberneDelfine,

oh, Mann, da hast du etwas gefunden, das ich zigmal übersehen habe. Vielen Dank.

Aaaaber - er wollte doch direkt nach Feierabend vor Ihrem Café stehen? Wieso fährt sie dann erst nach Hause?
Ja, da stimmt was nicht.
Habe ich geändert.

Ansonsten finde ich es - für eine als Langprosa angelegte Geschichte - sehr gut gelungen.
Danke auch dafür.


Hallo Rainer,

Oder hat Viktoria nicht erst um 19 h Feierabend, sondern früher, hat demzufolge Zeit, nach Hause zu fahren, um sich umzuziehen? Das kommt leider nicht klar genug rüber.
Habe das Treffen im Restaurant nun auf 20 Uhr geändert und dass er nicht mehr vor ihrer Arbeitsstelle/am Café auf sie wartet.
Am Ende vom Kap. 2, wo sie sich umzieht, wird nun auch erwähnt, dass sie noch genügend Zeit bis zum Treffen hat.


Ich nutze für mein Projekt das Tool Scrivener, falls es euch was sagt (absolut empfehlenswert auch für kürzere Text-Projekte). Ein Bekannter sagte mir kürzlich, dass es dafür auch ein Add-on gäbe, dass die Timelines (wann, ab, bis, wie lange ...) überwacht. Hätte ich mir das mal lieber besorgt, dann wäre das wahrscheinlich aufgefallen ... :)

Schönen Tag und
liebe Grüße, Franklyn
 

ahorn

Mitglied
Hallo Franklyn Francis,

ein stimmiges gekritzel.
Trotzdem fand ich die eine oder andere Erbse.

An den Häuserfassaden der Nachtbars und Clubs entlang der Promenade funkelten bereits die Lichter; Nobelkarossen rollten über den Casinoparkplatz und entluden Gäste in feinster Garderobe.
Einleitung. ‚Objektive‘ Erzählersicht.
Es herrschte eine unerträgliche Schwüle. Die Zeit schien stillzustehen.
ich würde die beiden Sätze in Viktorias Kopf stecken. Erstens erstürmst du sowieso ihr Gehirn, zweitens sind die Sätze eher ‚subjektive‘ Empfindungen.

Viktoria schlängelte sich durch um / vorbei an den (Oder ist sie ein Geist? :)) die Spaziergänger, die über die Waalkade flanierten, überquerte eilig die Straße und wich einem Skateboarder aus, der ihr noch etwas Unfeines hinterherrief.

Von oben, von (Oder du verzichtest ganz auf das ‚oben‘. ‚Sie saßen auf einer Dünnenkuppe‘ genügt, die ist meist oben. ;) ) einer Sanddüne aus. Sie leerten eine Flasche Rotwein, versanken mit bloßen Füßen immer weiter in den Sand, hatten die Möwen über sich kreischen gehört, den sachten Wind an den Wangen gespürt.
Ich liebe Umgangssprache, habe nichts auszusetzen an Sätzen, die dieser nahestehen. Sie sind so schön zweideutig. Wer versank? Wenn, dann ist es für mich selbstredend, dass sie sich zuvor nicht die Füße abtrennen.
Sie leerten eine Flasche Rotwein, versanken mit den Hunden immer weiter in den Sand.
Subjekt-Prädikat.
Immerhin verstehe ich, warum sie die Möwen kreischen gehört hatten. Im Sand kann man nichts mehr hören. :)
Sie leerten eine Flasche Rotwein, ihre nackten Füße versanken im Sand, die Möwen kreischten und sie spürte den sachten Wind an ihrer Wange.


Das war, bevor er sie alleine ließ und verließ KOMMA um eine Anstellung in Hamburg annahm anzunehmen. Seitdem konnte sie sich nicht mehr für romantische Abende begeistern. Und auch Erst recht nicht für deutsche Studenten.
Der Bus hielt an und KOMMA sie stieg ein, blieb aber / allerdings / jedoch ... in der Nähe der Tür stehen. Sie vernahm Stimmen, abgerissene Gesprächsfetzen schlugen an drangen in ihr Ohr, jemand lachte. Ihr Kopf brummte, sie dachte musste an den Mann mit dem Hut denken (Musste, können, sollen, würde ich nur im Notfall nehmen.), Pieter van Houten.

Vier Stationen weiter stieg sie aus und KOMMA eilte die Straße entlang. Vorbei an der Eckkneipe mit den graffitibeschmierten Rollläden und KOMMA dem Kiosk, in dessen Schaufenster Shishas aufgetürmt waren, erreichte sie bis sie ihr Zuhause erreichte. Sie lief die zwei Stockwerke des Altbaus hoch hinauf, öffnete die Wohnungstür, trat hinein, schloss die Tür, legte die Kette an und wischte sich Schweiß von der Stirn.
Vor dem Schließen kommt das Öffnen. ;)
(hinauf, stürmte in ihre Wohnung, legte …) Kurzform.


Das Jahr, das so vieles in ihrem Leben verändern sollte verändert hatte (Oder schaut sie in die Zukunft?).
Auf dem Schnappschuss trug sie einen Strohhut, unter dem blonde Locken hervorquollen. Links der ihr strahlende Vater, der noch damals / zu dieser Zeit ... nichts von seiner Krankheit wusste ahnte, …

…, die Zeit mit ihrem Vater noch mal erneut erleben. Immer und immer wieder, bis die Ärzte endlich eine Heilungsmöglichkeit (Amtsdeutsch! Dafür findest du bestimmt ein schöneres Wort. ;) ) gefunden hätten.
Sie öffnete (ihren Kleiderschrank) den Schrank, durchwühlte Pullis, Hosen, Blusen nach etwas Passenden.

Gruß
Ahorn
 



 
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