Mein Freund der Riese,
legte sanft einen Arm um meine Schulter,
flüsterte ein Vater unser und sprach
von der Welt dort oben,
wo nur er lebe, und die Vögel,
die sich ab und an auf seinem Kopf niederließen,
und Lieder sangen, die nur er verstand.
Manchmal, so erzählte er, wenn sich die Wolken
gleich einem Schal um meinen Hals legen,
fühle ich mich ganz allein. Dann ist es,
als sei die Welt verloren, und ich frage mich,
worauf meine Füße ruhen.
In solchen Momenten vernehme er eine Stimme,
die ihm sagt, dass es die Ewigkeit sei.
Schlaf gut, mein lieber Riese.
Auf der Fensterbank sitzt eine Drossel. Sie beobachtet mich. Wie das wohl ist?
Dieser Blick ins Unnatürliche.
Heute besuche ich meinen Freund, den Riesen.
Er wartet gewiss schon auf mich.
Die Zeit fließt anders für ihn.
Er misst sie an der Länge der Wurzeln,
der Wärme und Kälte der Erde.
Jede Bewegung ist ein Zeichen.
Mein Freund, der Riese, mag grüne Steine.
Nie käme ich ohne einen Stein zu ihm.
Ein Turmalin fehlt noch in seiner Sammlung.
Es fehlt überhaupt nur noch dieser eine Stein.
Ich lernte Ephraim, den liebenswürdigen Riesen, zu Beginn meiner neuen Zeitrechnung kennen.
Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Eichberg: 8 Monate Therapie. Weg von den Drogen.
Ephraim war auch dort gewesen. Lange vor meiner Zeit. Er war Jude und litt unter Hypersomie,
auch Riesenwuchs genannt. In ihren Augen war er doppelt abartig.
Eine Schande für die Menschheit. Aber man konnte gut mit ihm und Tausenden seiner Landsleute experimentieren.
Wie lange konnte ein Mensch wie er ohne Nahrung leben? Mit einem Glas Wasser pro Tag. Lange. Sehr lange.
Lange genug um diesen Riesen zu demütigen, diesen jüdischen Spargel. Brachen die Knochen bei Ephraim schneller?
War er belastbarer? Empfand ein Jude, zudem eine solch hässliche, von Gott gestrafte Kreatur, überhaupt Schmerzen?
Es galt vieles zu erforschen.
Ich sah Bilder von Ephraim, dem sanften Riesen. Bilder zu Lebzeiten. Ein Mensch, Augen voller Angst…
Bilder nach seinem Tod. Auf dem Seziertisch. Lächelnde Ärzte um einen aufgeschlitzten Körper stehend.
Einer, den Oberschenkelknochen von Ephraim triumphierend und lachend in der Hand haltend.
Ein Mahnmal erinnert an Ephraim und all die Anderen, die von ihrer Art oder Herkunft als „entartet“ galten.
Heute habe ich Ephraim den Turmalin gebracht. Den letzten Stein.
Nun ziert ein grüner Davidstern die Gedenkstätte auf dem Eichberg.
Schalom Ephraim