Ciconia
Mitglied
Damals in Paris
(Aktuelle Version)
„Il est joli, n’est-ce pas?“ – “Ist er nicht schön?”, hatte mich der Mann im Park damals gefragt. Meine Freundin Marie und ich können uns auch nach Jahrzehnten immer noch ausschütten vor Lachen, sobald wir bei einem unserer selten gewordenen Treffen auf „Weißt du noch?“-Themen zu sprechen kommen.
Wie vor vielen Jahren schon einmal, sitze ich heute im Jardin des Tuileries. Dieses Mal bin ich beruflich in Paris. Ein ungewöhnlich milder Vorfrühlingstag hat meinen Geschäftspartner zu einem schnellen Abschluss der Gespräche verleitet. Er verabschiedet mich am frühen Nachmittag augenzwinkernd mit der Vermutung, dass ich doch sicher noch ein wenig von Paris sehen wolle. Und ob! Das schenkt mir bis zu meinem Rückflug ausreichend Zeit für einen kleinen Bummel.
Mit meinem viel zu dicken Mantel, dem schweren Aktenkoffer und Pumps bin ich nicht besonders gut für einen längeren Spaziergang ausgerüstet. Aber das Champagnerwetter und die erfolgreichen Verhandlungen am Vormittag beflügeln mich. Ich laufe einfach los, nachdem ich mich kurz am Stadtplan orientiert habe. Von hier aus ist es nicht weit bis zur Rue de Rivoli. Das Haus von damals erkenne ich nicht wieder, ich weiß auch die Hausnummer nicht mehr. Ich mache erst einmal eine kleine Rast auf einer Bank im Park. Erinnerungen an einen Sommer vor vielen Jahren werden wach ...
Marie, damals wie heute meine beste Freundin, war für ein Jahr als Au-pair-Mädchen nach Paris gegangen. „Du musst mich unbedingt besuchen kommen“, schrieb sie in jedem ihrer Briefe und schwärmte überschwänglich von dieser Stadt. Meine Ersparnisse reichten nicht für einen Flug, deshalb stieg ich an einem Sommerabend in den Nachtzug nach Paris. Am frühen Morgen nahm mich Marie am Gare du Nord in Empfang – wir freuten uns wie die Kinder, eine ganze Woche miteinander verbringen zu können.
Maries Gasteltern lebten in der Rue de Rivoli in einem wunderschönen alten Gründerzeithaus, nicht weit vom Jardin des Tuileries. Maries Zimmer war eine ehemalige Dienstbotenkammer unter dem Dach, die man über eine separate Treppe von der Wohnung der Herrschaften aus erreichte. Die sympathische junge Familie hatte mir großzügig erlaubt, dass auch ich eine Woche dort unterkommen konnte. Allerdings mussten Marie und ich uns ein großes Bett teilen – pas de problème! Die kleine Dachkammer heizte sich bei den sommerlichen Temperaturen unerträglich auf, doch die Aussicht entschädigte uns: Wenn man sich auf die Zehenspitzen stellte, konnte man von hier aus den Eiffelturm sehen. Alles erschien mir jeden Morgen wieder wie ein Traum.
Vormittags paukte Marie Französisch bei der Alliance Française. Ich erkundete in dieser Zeit auf eigene Faust die Stadt und wartete anschliessend im Jardin des Tuileries auf Maries Unterrichtsende. Auf meinem Lieblingsplatz am Ende des Parks saß ich eines Mittags in der Sonne und vertiefte mich gerade in meinen Reiseführer. Mit einem freundlichen „Bonjour“ setzte sich irgendwann ein Mann mittleren Alters zu mir, ich hatte ihn gar nicht herankommen sehen. ‚Hoffentlich drängt der mir kein Gespräch auf‘, war mein erster Gedanke, denn meine Französisch-Kenntnisse waren sehr bescheiden. Der harmlos wirkende Mann blieb zunächst ruhig und raschelte nur hin und wieder mit dem "Figaro", den er auf seinem Schoß ausgebreitet hatte. Nach einigen Minuten flüsterte er etwas vor sich hin. Ich hatte nicht gleich verstanden und fragte mit einem kurzen „Pardon?“ nach. Langsam hob er die Zeitung, deutete darunter und wiederholte freudestrahlend: „Il est joli, n’est-ce pas?“.
Ich begriff sehr langsam, zu groß war der Schock. Ich schluckte, raffte in Windeseile meine Sachen zusammen und flüchtete mit schamrotem Gesicht aus dem Park. Entgegenkommende Passanten schauten mich fragend an. Maries Sprachenschule lag gleich um die Ecke. Ungeduldig lief ich vor dem Gebäude auf und ab, wütend, empört, entrüstet ... bis Marie endlich auftauchte. „Du glaubst nicht, was mir gerade passiert ist!“ prustete ich ihr entgegen. Und was tat Marie, anstatt sich auch zu entrüsten? Sie lachte, lachte, lachte, mit ihrem herrlich glucksenden Lachen, das wohl minutenlang anhielt, während ich mit hochrotem Kopf und voller Wut hilflos daneben stand.
Irgendwann beruhigten wir uns beide wieder. Ich war alt genug; ein derartiges Vorkommnis am helllichten Tag im Park konnte mir nichts anhaben. Wir ließen in den folgenden Tagen trotz der Hitze keine Sehenswürdigkeit aus, liefen stundenlang zu Fuß durch die Stadt und konnten über den Mann im Park immer wieder lachen. Der Satz „Il est joli, n’est-ce pas?" stand seitdem symbolisch für eine gemeinsam erlebte Episode.
****
Versonnen lasse ich meinen Blick über die Dächer der Rue de Rivoli schweifen. Ich sehe in der Erinnerung Marie und mich voller Begeisterung aus einem der Dachfenster auf den Eiffelturm schauen. Das ganze Leben lag damals noch vor uns. Schlecht ist es seitdem für uns beide nicht gelaufen.
Ob der Mann aus dem Park wohl noch lebt? Auf jeden Fall müsste er mittlerweile zu alt sein, um noch Unheil anzurichten. Aber wer weiß?
Ich muss Marie unbedingt schreiben. Am Kiosk an der Ecke kaufe ich eine extrem kitschige Karte mit Eiffelturm. „Herzliche Grüße von einem sonnigen Frühlingstag in Paris“, schreibe ich auf die Rückseite. Auf die Vorderseite, direkt unter den Eiffelturm, füge ich in großen Druckbuchstaben hinzu: „Il est joli, n’est-ce pas?“
(Aktuelle Version)
„Il est joli, n’est-ce pas?“ – “Ist er nicht schön?”, hatte mich der Mann im Park damals gefragt. Meine Freundin Marie und ich können uns auch nach Jahrzehnten immer noch ausschütten vor Lachen, sobald wir bei einem unserer selten gewordenen Treffen auf „Weißt du noch?“-Themen zu sprechen kommen.
Wie vor vielen Jahren schon einmal, sitze ich heute im Jardin des Tuileries. Dieses Mal bin ich beruflich in Paris. Ein ungewöhnlich milder Vorfrühlingstag hat meinen Geschäftspartner zu einem schnellen Abschluss der Gespräche verleitet. Er verabschiedet mich am frühen Nachmittag augenzwinkernd mit der Vermutung, dass ich doch sicher noch ein wenig von Paris sehen wolle. Und ob! Das schenkt mir bis zu meinem Rückflug ausreichend Zeit für einen kleinen Bummel.
Mit meinem viel zu dicken Mantel, dem schweren Aktenkoffer und Pumps bin ich nicht besonders gut für einen längeren Spaziergang ausgerüstet. Aber das Champagnerwetter und die erfolgreichen Verhandlungen am Vormittag beflügeln mich. Ich laufe einfach los, nachdem ich mich kurz am Stadtplan orientiert habe. Von hier aus ist es nicht weit bis zur Rue de Rivoli. Das Haus von damals erkenne ich nicht wieder, ich weiß auch die Hausnummer nicht mehr. Ich mache erst einmal eine kleine Rast auf einer Bank im Park. Erinnerungen an einen Sommer vor vielen Jahren werden wach ...
Marie, damals wie heute meine beste Freundin, war für ein Jahr als Au-pair-Mädchen nach Paris gegangen. „Du musst mich unbedingt besuchen kommen“, schrieb sie in jedem ihrer Briefe und schwärmte überschwänglich von dieser Stadt. Meine Ersparnisse reichten nicht für einen Flug, deshalb stieg ich an einem Sommerabend in den Nachtzug nach Paris. Am frühen Morgen nahm mich Marie am Gare du Nord in Empfang – wir freuten uns wie die Kinder, eine ganze Woche miteinander verbringen zu können.
Maries Gasteltern lebten in der Rue de Rivoli in einem wunderschönen alten Gründerzeithaus, nicht weit vom Jardin des Tuileries. Maries Zimmer war eine ehemalige Dienstbotenkammer unter dem Dach, die man über eine separate Treppe von der Wohnung der Herrschaften aus erreichte. Die sympathische junge Familie hatte mir großzügig erlaubt, dass auch ich eine Woche dort unterkommen konnte. Allerdings mussten Marie und ich uns ein großes Bett teilen – pas de problème! Die kleine Dachkammer heizte sich bei den sommerlichen Temperaturen unerträglich auf, doch die Aussicht entschädigte uns: Wenn man sich auf die Zehenspitzen stellte, konnte man von hier aus den Eiffelturm sehen. Alles erschien mir jeden Morgen wieder wie ein Traum.
Vormittags paukte Marie Französisch bei der Alliance Française. Ich erkundete in dieser Zeit auf eigene Faust die Stadt und wartete anschliessend im Jardin des Tuileries auf Maries Unterrichtsende. Auf meinem Lieblingsplatz am Ende des Parks saß ich eines Mittags in der Sonne und vertiefte mich gerade in meinen Reiseführer. Mit einem freundlichen „Bonjour“ setzte sich irgendwann ein Mann mittleren Alters zu mir, ich hatte ihn gar nicht herankommen sehen. ‚Hoffentlich drängt der mir kein Gespräch auf‘, war mein erster Gedanke, denn meine Französisch-Kenntnisse waren sehr bescheiden. Der harmlos wirkende Mann blieb zunächst ruhig und raschelte nur hin und wieder mit dem "Figaro", den er auf seinem Schoß ausgebreitet hatte. Nach einigen Minuten flüsterte er etwas vor sich hin. Ich hatte nicht gleich verstanden und fragte mit einem kurzen „Pardon?“ nach. Langsam hob er die Zeitung, deutete darunter und wiederholte freudestrahlend: „Il est joli, n’est-ce pas?“.
Ich begriff sehr langsam, zu groß war der Schock. Ich schluckte, raffte in Windeseile meine Sachen zusammen und flüchtete mit schamrotem Gesicht aus dem Park. Entgegenkommende Passanten schauten mich fragend an. Maries Sprachenschule lag gleich um die Ecke. Ungeduldig lief ich vor dem Gebäude auf und ab, wütend, empört, entrüstet ... bis Marie endlich auftauchte. „Du glaubst nicht, was mir gerade passiert ist!“ prustete ich ihr entgegen. Und was tat Marie, anstatt sich auch zu entrüsten? Sie lachte, lachte, lachte, mit ihrem herrlich glucksenden Lachen, das wohl minutenlang anhielt, während ich mit hochrotem Kopf und voller Wut hilflos daneben stand.
Irgendwann beruhigten wir uns beide wieder. Ich war alt genug; ein derartiges Vorkommnis am helllichten Tag im Park konnte mir nichts anhaben. Wir ließen in den folgenden Tagen trotz der Hitze keine Sehenswürdigkeit aus, liefen stundenlang zu Fuß durch die Stadt und konnten über den Mann im Park immer wieder lachen. Der Satz „Il est joli, n’est-ce pas?" stand seitdem symbolisch für eine gemeinsam erlebte Episode.
****
Versonnen lasse ich meinen Blick über die Dächer der Rue de Rivoli schweifen. Ich sehe in der Erinnerung Marie und mich voller Begeisterung aus einem der Dachfenster auf den Eiffelturm schauen. Das ganze Leben lag damals noch vor uns. Schlecht ist es seitdem für uns beide nicht gelaufen.
Ob der Mann aus dem Park wohl noch lebt? Auf jeden Fall müsste er mittlerweile zu alt sein, um noch Unheil anzurichten. Aber wer weiß?
Ich muss Marie unbedingt schreiben. Am Kiosk an der Ecke kaufe ich eine extrem kitschige Karte mit Eiffelturm. „Herzliche Grüße von einem sonnigen Frühlingstag in Paris“, schreibe ich auf die Rückseite. Auf die Vorderseite, direkt unter den Eiffelturm, füge ich in großen Druckbuchstaben hinzu: „Il est joli, n’est-ce pas?“
Zuletzt bearbeitet: