Ciconia
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HANNES
Wenn Hannes am späten Nachmittag mit dem Fahrrad von der Arbeit kam, machte er mehrmals in der Woche einen kurzen Abstecher in Brunos Laden. Als Lebensmittelladen konnte man den eigentlich nicht bezeichnen, aber das Sortiment beeindruckte durch eine unglaubliche Vielfalt. Vielleicht passte Tante-Emma-Laden, nur dass es hier keine Tante Emma gab, denn Bruno war sein Leben lang unverheiratet geblieben. Hatte sich auf dem Dorf eben nicht ergeben, behauptete er. „Vom Präser bis zum Schnuller“, pflegte Bruno voller Stolz sein Sortiment vorzustellen, wenn keine Kinder dabei waren. Sicherheitshalber lagen die Präser gut verwahrt in einer der Schubladen unter dem Ladentisch.
Hannes konnte beides nicht gebrauchen, er war mehr an Flüssigem interessiert. Er verzichtete nur darauf, wenn Else etwas mit ihm vorhatte, wie z. B. einen Besuch bei Schliekers oder deren Gegenbesuch, der nach vier Wochen unweigerlich erfolgte. Das gehörte sich so.
Bruno reichte gleich ungefragt zwei Flachmänner mit Köm über den Tisch. Hannes hielt sich nicht lange auf, Bruno schnackte ihm zu viel. War wohl einfach zu oft allein, dachte Hannes. Außerdem hatte der sogar mal eine Zeitlang die höhere Schule besucht; bei den Themen, die der draufhatte, konnte Hannes sowieso nicht mithalten. Deshalb ließ er das Fahrrad erst einmal an Brunos Hauswand stehen und stieg mit seinem Einkauf die Treppe zum Deich hinauf. Fünfzig Meter weiter, nah am Leuchtturm, stand seine Lieblingsbank. Die drei Klugscheißer, die hier tagsüber oft stundenlang saßen, waren um diese Zeit schon abgezogen.
Hannes leerte genüsslich das erste Fläschchen und ließ den Arbeitstag in der Werkstatt von Andresens Landmaschinen-Reparaturwerkstatt noch einmal Revue passieren. Entspannt verfolgte er den Schiffsverkehr, der jetzt bei ablaufendem Wasser überwiegend aus Richtung Hamburg zur Nordsee zog. Das war ein Feierabend nach seinem Geschmack, bevor Else ihn zu Hause wieder stundenlang vollschnatterte.
Beim zweiten Flachmann machte er sich dann allmählich Gedanken, welchen Grund er heute für sein Zuspätkommen nennen würde. Normalerweise endete seine Arbeitszeit um 17.00 Uhr, aber immer wieder kam es vor, dass ein Kunde im letzten Moment mit einem Problem am Trecker oder Kleinbagger auftauchte. Solche Ausreden passten immer. Else sollte ruhig noch ein bisschen mit dem Abendessen warten.
Er musste wohl einen Moment vor sich hin gedöst haben, und so hatte er die Frau auf dem Deich nicht kommen sehen. „Die is nich von hier“, war sein erster Gedanke, als sie plötzlich vor ihm stand, denn allein ihre Kleidung ließ auf eher städtische Herkunft schließen. Ein schickes blaues Sommerkleid mit einem passenden dunkelblauen Gürtel, eine längere Halskette und passende Ohrringe sowie auffälliges Make-up – so etwas trug eine einheimische Frau nicht. Schon gar nicht am helllichten Tag. Die Frau war wohl nicht mehr ganz jung, aber das konnte Hannes bei der Takelage schlecht einschätzen.
„Darf ich mich einen Moment zu Ihnen setzen?“, fragte sie in astreinem Hochdeutsch. Hannes glaubte seinen Ohren nicht zu trauen. Was wollte die Olsch von ihm? Er brummelte etwas vor sich hin und versuchte die leeren Flachmänner in die Tasche seiner Joppe zu stecken. Wollte die sich jetzt etwa mit ihm unterhalten?
„Schön haben Sie’s hier, sehr schön“, fuhr sie fort, während sie mit einem Taschentuch ihre Bankhälfte abwischte und sich umständlich, das weite Kleid glattstreichend, setzte.
„Jau!“ Mehr fiel Hannes darauf nicht ein. So richtig hatte er noch nie darüber nachgedacht, ob sein Heimatdorf, in dem er vor 57 Jahren geboren wurde, als schön bezeichnet werden konnte. War halt sein Dorf, und er würde hier auch ganz bestimmt nicht mehr weggehen.
Die Frau ließ sich nicht abhalten. „Ich bin ja erst seit vorgestern hier, seit langer Zeit mal wieder zu Besuch bei meiner Schwägerin. Ihr Wilhelm ist ja letzten Monat gestorben, und da geht es ihr gar nicht gut.“
Jetzt horchte Hannes auf. Tod? Wilhelm? Das war doch nicht etwa die Schwägerin von Heike Hansen?
„Ich musste jetzt mal ein bisschen frische Luft schnappen, mit Heike ist ja im Moment nicht viel anzufangen.“
Aha. Also hatte er richtig gelegen. Allmählich musste er wohl auch mal etwas sagen.
„Wo kommen Sie denn her?“, bemühte er sein bestes Hochdeutsch und fühlte sich ziemlich unwohl dabei. Eine Unterhaltung auf Platt würde ihm leichter fallen, aber er brauchte wohl nicht davon auszugehen, dass diese Schabracke ihn verstehen würde.
„Ich wohne in Hannover, mein Mann war der Bruder von Heike, vielleicht haben Sie den gekannt, wenn Sie von hier sind: Günther Dürcksen hieß er, ist leider vor ein paar Jahren schon verstorben.“
Das wurde ja immer interessanter. Und ob er Günni kannte! Ein schräger Vogel war das gewesen, und warum er eines Tages plötzlich verschwand, hatte keiner aus dem Dorf je herausgefunden. Man munkelte, er habe in seinem Job als Autohändler in der Kreisstadt Gelder unterschlagen, aber Genaues wusste niemand. Er hatte sich hier nie wieder blicken lassen, und nun war er also schon tot. Sollte er die Frau nach Günnis Leben fragen? Hannes fühlte sich für einen Augenblick noch unbehaglicher.
Na ja, war ja nu auch nich mehr zu ändern, dachte er dann, und Else wartete mit dem Abendessen. Heute sollte es Frikadellen mit Kartoffelsalat geben, fiel ihm gerade wieder ein.
„Ich muss denn mal los“, murmelte er und erhob sich schwerfällig, dabei fielen beide Kömflaschen aus seiner Jackentasche. Bevor Hannes sich bücken und sie aufheben konnte, quäkte die Frau aufgeregt los: „Ach, diese Marke trinken Sie! Solche Fläschchen haben Wilhelm und Heike immer in ihrem Vorgarten gefunden, hat Heike mir heute Morgen erzählt. Wilhelm hat sich seit Jahren tierisch darüber aufgeregt, und nun sammelt Heike allein mehrmals in der Woche leere Flaschen auf. Die sind doch nicht etwa von Ihnen?“ Dabei sah sie ihn entrüstet an.
Hannes steckte die Flaschen schnell wieder ein und eilte mit einem knappen „Denn man tschüs“ davon. Was bildete sich diese Alte eigentlich ein? Wilhelm hatte er noch nie leiden können, seit der ganz früher mal was mit Else gehabt hatte. Und der Vorgarten von Wilhelm und Heike mit einer dichten Ligusterhecke zur Straße hin lag nun mal direkt an seinem Nachhauseweg. Wo sonst hätte er die Flaschen entsorgen können, damit Else sie nicht sah? Sollten sich bloß nicht so anstellen, die Leute. Aber jetzt, da Wilhelm tot war, könnte er ja mal über einen anderen Abladeplatz nachdenken. Heike konnte schließlich nichts dafür.
Wenn Hannes am späten Nachmittag mit dem Fahrrad von der Arbeit kam, machte er mehrmals in der Woche einen kurzen Abstecher in Brunos Laden. Als Lebensmittelladen konnte man den eigentlich nicht bezeichnen, aber das Sortiment beeindruckte durch eine unglaubliche Vielfalt. Vielleicht passte Tante-Emma-Laden, nur dass es hier keine Tante Emma gab, denn Bruno war sein Leben lang unverheiratet geblieben. Hatte sich auf dem Dorf eben nicht ergeben, behauptete er. „Vom Präser bis zum Schnuller“, pflegte Bruno voller Stolz sein Sortiment vorzustellen, wenn keine Kinder dabei waren. Sicherheitshalber lagen die Präser gut verwahrt in einer der Schubladen unter dem Ladentisch.
Hannes konnte beides nicht gebrauchen, er war mehr an Flüssigem interessiert. Er verzichtete nur darauf, wenn Else etwas mit ihm vorhatte, wie z. B. einen Besuch bei Schliekers oder deren Gegenbesuch, der nach vier Wochen unweigerlich erfolgte. Das gehörte sich so.
Bruno reichte gleich ungefragt zwei Flachmänner mit Köm über den Tisch. Hannes hielt sich nicht lange auf, Bruno schnackte ihm zu viel. War wohl einfach zu oft allein, dachte Hannes. Außerdem hatte der sogar mal eine Zeitlang die höhere Schule besucht; bei den Themen, die der draufhatte, konnte Hannes sowieso nicht mithalten. Deshalb ließ er das Fahrrad erst einmal an Brunos Hauswand stehen und stieg mit seinem Einkauf die Treppe zum Deich hinauf. Fünfzig Meter weiter, nah am Leuchtturm, stand seine Lieblingsbank. Die drei Klugscheißer, die hier tagsüber oft stundenlang saßen, waren um diese Zeit schon abgezogen.
Hannes leerte genüsslich das erste Fläschchen und ließ den Arbeitstag in der Werkstatt von Andresens Landmaschinen-Reparaturwerkstatt noch einmal Revue passieren. Entspannt verfolgte er den Schiffsverkehr, der jetzt bei ablaufendem Wasser überwiegend aus Richtung Hamburg zur Nordsee zog. Das war ein Feierabend nach seinem Geschmack, bevor Else ihn zu Hause wieder stundenlang vollschnatterte.
Beim zweiten Flachmann machte er sich dann allmählich Gedanken, welchen Grund er heute für sein Zuspätkommen nennen würde. Normalerweise endete seine Arbeitszeit um 17.00 Uhr, aber immer wieder kam es vor, dass ein Kunde im letzten Moment mit einem Problem am Trecker oder Kleinbagger auftauchte. Solche Ausreden passten immer. Else sollte ruhig noch ein bisschen mit dem Abendessen warten.
Er musste wohl einen Moment vor sich hin gedöst haben, und so hatte er die Frau auf dem Deich nicht kommen sehen. „Die is nich von hier“, war sein erster Gedanke, als sie plötzlich vor ihm stand, denn allein ihre Kleidung ließ auf eher städtische Herkunft schließen. Ein schickes blaues Sommerkleid mit einem passenden dunkelblauen Gürtel, eine längere Halskette und passende Ohrringe sowie auffälliges Make-up – so etwas trug eine einheimische Frau nicht. Schon gar nicht am helllichten Tag. Die Frau war wohl nicht mehr ganz jung, aber das konnte Hannes bei der Takelage schlecht einschätzen.
„Darf ich mich einen Moment zu Ihnen setzen?“, fragte sie in astreinem Hochdeutsch. Hannes glaubte seinen Ohren nicht zu trauen. Was wollte die Olsch von ihm? Er brummelte etwas vor sich hin und versuchte die leeren Flachmänner in die Tasche seiner Joppe zu stecken. Wollte die sich jetzt etwa mit ihm unterhalten?
„Schön haben Sie’s hier, sehr schön“, fuhr sie fort, während sie mit einem Taschentuch ihre Bankhälfte abwischte und sich umständlich, das weite Kleid glattstreichend, setzte.
„Jau!“ Mehr fiel Hannes darauf nicht ein. So richtig hatte er noch nie darüber nachgedacht, ob sein Heimatdorf, in dem er vor 57 Jahren geboren wurde, als schön bezeichnet werden konnte. War halt sein Dorf, und er würde hier auch ganz bestimmt nicht mehr weggehen.
Die Frau ließ sich nicht abhalten. „Ich bin ja erst seit vorgestern hier, seit langer Zeit mal wieder zu Besuch bei meiner Schwägerin. Ihr Wilhelm ist ja letzten Monat gestorben, und da geht es ihr gar nicht gut.“
Jetzt horchte Hannes auf. Tod? Wilhelm? Das war doch nicht etwa die Schwägerin von Heike Hansen?
„Ich musste jetzt mal ein bisschen frische Luft schnappen, mit Heike ist ja im Moment nicht viel anzufangen.“
Aha. Also hatte er richtig gelegen. Allmählich musste er wohl auch mal etwas sagen.
„Wo kommen Sie denn her?“, bemühte er sein bestes Hochdeutsch und fühlte sich ziemlich unwohl dabei. Eine Unterhaltung auf Platt würde ihm leichter fallen, aber er brauchte wohl nicht davon auszugehen, dass diese Schabracke ihn verstehen würde.
„Ich wohne in Hannover, mein Mann war der Bruder von Heike, vielleicht haben Sie den gekannt, wenn Sie von hier sind: Günther Dürcksen hieß er, ist leider vor ein paar Jahren schon verstorben.“
Das wurde ja immer interessanter. Und ob er Günni kannte! Ein schräger Vogel war das gewesen, und warum er eines Tages plötzlich verschwand, hatte keiner aus dem Dorf je herausgefunden. Man munkelte, er habe in seinem Job als Autohändler in der Kreisstadt Gelder unterschlagen, aber Genaues wusste niemand. Er hatte sich hier nie wieder blicken lassen, und nun war er also schon tot. Sollte er die Frau nach Günnis Leben fragen? Hannes fühlte sich für einen Augenblick noch unbehaglicher.
Na ja, war ja nu auch nich mehr zu ändern, dachte er dann, und Else wartete mit dem Abendessen. Heute sollte es Frikadellen mit Kartoffelsalat geben, fiel ihm gerade wieder ein.
„Ich muss denn mal los“, murmelte er und erhob sich schwerfällig, dabei fielen beide Kömflaschen aus seiner Jackentasche. Bevor Hannes sich bücken und sie aufheben konnte, quäkte die Frau aufgeregt los: „Ach, diese Marke trinken Sie! Solche Fläschchen haben Wilhelm und Heike immer in ihrem Vorgarten gefunden, hat Heike mir heute Morgen erzählt. Wilhelm hat sich seit Jahren tierisch darüber aufgeregt, und nun sammelt Heike allein mehrmals in der Woche leere Flaschen auf. Die sind doch nicht etwa von Ihnen?“ Dabei sah sie ihn entrüstet an.
Hannes steckte die Flaschen schnell wieder ein und eilte mit einem knappen „Denn man tschüs“ davon. Was bildete sich diese Alte eigentlich ein? Wilhelm hatte er noch nie leiden können, seit der ganz früher mal was mit Else gehabt hatte. Und der Vorgarten von Wilhelm und Heike mit einer dichten Ligusterhecke zur Straße hin lag nun mal direkt an seinem Nachhauseweg. Wo sonst hätte er die Flaschen entsorgen können, damit Else sie nicht sah? Sollten sich bloß nicht so anstellen, die Leute. Aber jetzt, da Wilhelm tot war, könnte er ja mal über einen anderen Abladeplatz nachdenken. Heike konnte schließlich nichts dafür.
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