Der Mann am Strand

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Der Mann am Strand 1. Teil

29.Juni 2016

Lyon


Der junge Mann, der im strahlenden Sonnenschein vor dem Restaurant der Autobahnraststätte bei Lyon herumlungerte, fiel dem Lastwagenfahrer sofort auf. Er hatte etwa schulterlange, hellblonde Haare, die er nachlässig mit einem Haargummi im Nacken zusammengebunden hatte und trug einen hellbraunen Rucksack. Giacomo schätzte ihn auf höchstens 19.
'Ob er auf jemanden wartet?' dachte er, ging an ihm vorbei und betrat die Gaststätte. Dort nahm er seine Mittagsmahlzeit ein, trank eine Cola und verließ das Gebäude sofort danach wieder. Der junge Mann stand immer noch vor dem Restaurant. Giacomo wollte wieder ohne ein Wort an ihm vorbeigehen, aber der junge Mann sprach ihn an.
„Excusez-moi, könnten Sie mich mitnehmen?"
„Wo willst du denn hin?" Giacoma hatte keine Lust, das Bürschchen zu siezen. Er war mindestens zehn Jahre jünger als er selbst.
„Nach Portugal, Monsieur. An die Algarve, in die Nähe von Albufeira."
Giacoma war überrascht. „Da hast du aber noch einen weiten Weg vor dir."
„Je sais, Monsieur. Aber ich habe gesehen, wie Sie mit Ihrem Lastwagen hier angekommen sind und gedacht, Sie fahren in die Richtung."
„In die Richtung schon." Giacoma transportierte mit seinem LKW Lebensmittel. Der Bursche hatte wahrscheinlich sein spanisches Kennzeichen bemerkt. „Ich fahre aber nur bis nach Spanien."
Der junge Bursche nickte. „Ja, das dachte ich mir, das würde mir auch schon reichen. Wäre das möglich?"
Giacomo musterte ihn eindringlich, als ob er scharf darüber nachdenken müsste, dann antwortete er mit einem feierlichen „Ja."
„Vielen Dank, Monsieur!" Der Bursche strahlte, streckte ihm seine Hand hin und schüttelte sie ausgiebig. „Mein Name ist übrigens Jacques. Jacques le Butet."
„Giacomo Bianchi."
„Sie sind Italiener?" fragte Jacques so erstaunt, dass Giacomo lächeln musste.
„Meine Eltern sind Italiener, aber ich bin in Frankreich geboren und aufgewachsen. Ich kann aber auch Italienisch sprechen, wenn du Wert darauf legst."
„Um Himmels willen! Dann verstehe ich kein Wort." Jacques schaute ihn treuherzig an.
„Also dann komm mit", forderte Giacoma ihn auf. „Ich hoffe, du hast einen Personalausweis dabei?"
„Klar. Aber den muss man doch gar nicht mehr vorzeigen? Ich dachte, die Grenzkontrollen sind abgeschafft."
„Innerhalb der EU im Großen und Ganzen schon. Aber es kann sein, dass meine Ladung kontrolliert wird und da hätte ich ungern jemanden ohne Personalausweis in meinem LKW. Ist zwar nicht sehr wahrscheinlich, dass sie deinen Ausweis sehen wollen, aber besser ist besser."
„Sicher." Jacques begann, an seinem Rucksack herumzunesteln, doch Giacomo winkte ab.
„Lass das, du musst ihn mir jetzt nicht zeigen. Mir reicht es, wenn ich weiß, dass du ihn dabei hast."
„Okay." Inzwischen hatten sie den LKW erreichte und Jacques kletterte neben Giacomo auf den Beifahrersitz. „Das muss ein herrlicher Beruf sein", sagte er sehnsüchtig. „Sie kommen bestimmt viel herum."
Giacomo startete den LKW. „Kann man so sagen", grinste er. „Manchmal ist es auch langweilig, wenn man so lange allein im LKW hockt. Das ist für Leute wie dich von Vorteil - deswegen nehme ich manchmal jemanden mit."

In einem Fischerdorf an der Algarve

Der alte Miguel schlurfte auf die Veranda zu seinem Lieblingssessel. Hier verbrachte er immer seine Mittagsruhe, seit seine Frau vor einem guten Jahr verstorben war. Seitdem störte in der flirrenden Mittagshitze kein Geräusch mehr die Stille. Zumindest normalerweise nicht. Miguels Schwerhörigkeit auf dem linken Ohr tat ihr Übriges.
Miguel war fast eingeschlafen, als ihn lautes Gekeife aus dem Nachbarhaus auffahren ließ. Er erkannte die Stimme von Cristina Feirrera, der jungen Frau, die vor drei Monaten dort eingezogen war, verstand aber nicht, was sie sagte. Nur die Worte „mein Bruder", die sie mehrmals wiederholte, konnte er herausfiltern. Eine männliche Stimme brüllte zurück. Das musste ihr Freund sein, ein dünner, schwarzhaariger Portugiese, kaum älter als sie, höchstens 20. Miguel hatte ein paarmal gesehen, wie sie ihn ins Haus gelassen hatte und einmal hatten die beiden engumschlungen auf der gegenüberliegenden Veranda gestanden. Ein anderes Mal war Miguel ihnen zufällig vor der Haustür begegnet, als, als sie gerade in einem langen Kuss versunken waren.

Es erfolgte ein Scheppern, als ob jemand Geschirr an die Wand geworfen hätte. Dann herrschte Totenstille, und Minuten später hörte man unten auf der Straße jemanden etwas brüllen, was Miguel aber nicht verstand. Neugierig geworden, lugte Miguel vorsichtig über die Veranda. Er wollte nicht gesehen werden, doch dieses Ansinnen war nicht von Erfolg gekrönt. Der junge Portugiese sah zu ihm auf und brüllte: „Sie sind mein Zeuge, Senhor da Silva! Cristina hat mich rausgeworfen! Mich!" Die Worte waren diesmal laut und deutlich genug, dass Miguel jedes Wort verstand, doch er zog es vor, seine Hand hinter sein Ohr zu legen und mit den Schultern zu zucken, um zu signalisieren, dass er kein Wort verstanden hatte. „Sie hat mich hinausgeworfen! Mich!" plärrte der Junge weiter, „dabei habe ich ihr für den ganzen letzten Monat die Miete bezahlt, weil sie kein Geld mehr hatte! Und zum Dank dafür lädt sie sich irgendeinen dahergelaufenen Idioten ein!"
Cristina erschien auf der gegenüberliegenden Veranda. „Glauben Sie Pedro kein Wort, Senhor da Silva! Ich habe meinen Bruder eingeladen, sonst niemanden! Pedro ist völlig übergeschnappt!"
„Haha, dein Bruder!" wütete Pedro auf der Straße weiter, „ich glaube dir kein Wort!"
Als die jungen Leute anfingen, sich wüst zu beschimpfen, zog Miguel sich langsam von der Veranda zurück, schloss die Tür, legte sich auf die Couch und war in Minutenschnelle eingeschlafen.

06.07.2016

In einem Ferienort an der Algarve


„Wir sind da!" Tamara riss die Tür des Taxis auf und sprang hinaus. Heiko folgte ihr sehr viel gemächlicher, nachdem er den Fahrer bezahlt hatte.
„Endlich Urlaub!" Tamara fiel ihm um den Hals und Heiko küsste sie auf den Mund.
„Ja, das wird unser wunderbarer erster Urlaub."
„Wohlverdient! Und weit weg von zu Hause!" Tamara strahlte.
Sie befanden sich in einem kleinen Fischerdorf an der Atlantikküste, zirka dreißig Autominuten von Lissabon entfernt, einer Stadt, die Tamara schon immer hatte sehen wollen. Tamara arbeitete als Übersetzerin und sprach fließend Deutsch, Englisch, Französisch, Italienisch und Portugiesisch.
Im Hotel fielen sie übereinander her, kaum dass sie ihre Koffer ausgepackt hatten. Danach lagen sie glücklich und zufrieden nebeneinander.
„Nachher gehen wir an den Strand"; sagte Heiko.
„Klar." Tamara kuschelte sich an ihn.

Auf ihrem Strandspaziergang lief Tamara vor Heiko her, drehte sich schließlich lachend zu ihm um, während er sie wie wild fotografierte und lief eine ganze Weile rückwärts - bis sie auf einmal über etwas stolperte. Sie konnte sich gerade noch rechtzeitig fangen, während Heiko ein erschrockenes „Oh!" ausstieß. Tamara wandte sich um.
Im Sand lag ein Mann.
„Ist der hier eingeschlafen? Wie kann man nur ... so nahe am Wasser." Tamara wollte sich bücken, um ihn zu rütteln, doch Heiko riss sie mit einer heftigen Bewegung zurück.
„Um Himmels willen, lass das!"
„Ich kann ihn doch nicht hier liegenlassen! Ich versuche, ihn aufzuwecken! Schau mal, er ist ja schon ganz nass geworden von den Wellen und hat das anscheinend noch nicht mal bemerkt! Wahrscheinlich besoffen oder so, sonst wäre er doch davon wach geworden ...Scheint ja ein noch junger Kerl zu sein."
„Tamara - ich glaube, der ist nicht mehr wach zu bekommen."
„Wie kommst du darauf?" Tamara ließ ihren Blick über den Mann am Strand gleiten. Er lag auf der Seite, ein Arm über dem Kopf, als habe er nicht ins grelle Licht der Sonne schauen wollen, der andere Arm merkwürdig verdreht auf der Seite. Jetzt begriff Tamara, was Heiko meinte und schrie entsetzt auf.
„Ist er tot?"
„Sieht so aus."
„Ich rufe auf jeden Fall die Rettung an." Hektisch kramte Tamara ihr Handy aus der Handtasche und wählte den Notruf.

Der Tote hatte keinerlei Papiere bei sich. Er war schlank, nicht sehr groß, noch ziemlich jung. Kommissar Carlos Fernandes schätzte ihn auf Anfang zwanzig. Ein Obdachloser? Fernandes glaubte das nicht. Er trug legere Freizeitkleidung, die aber nicht abgewetzt aussah. Seine schulterlangen Haare waren zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden.
Die beiden jungen Leute, die ihn gefunden hatten, standen sichtlich unter Schock. Der junge Mann sprach kein Wort Portugiesich. Seine Freundin dolmetschte.
„Wir sind heute Mittag gerade erst hier angekommen", hatte er mit ihrer Hilfe zu Protokoll gegeben. „Wir wollten uns den Strand anschauen, da ist meine Freundin über den Mann gestolpert."
Die junge Frau nickte. „Ich dachte zuerst, er sei im Sand eingeschlafen und wollte ihn wecken. Aber Heiko hat gleich gemerkt, dass etwas nicht stimmt."
Um den Fundort der Leiche war der Strand großflächig abgesperrt worden.
Die junge Frau schluchzte auf. „Warum muss das nur an unserem ersten Urlaubstag passieren? Ich hatte mich so auf den Urlaub gefreut", sagte sie auf Deutsch. Kommissar Fernandes, der bis zu seinem vierzehnten Lebensjahr in Luxemburg gelebt hatte und daher perfekt Deutsch sprach, verstand jedes Wort. Aber das mussten die jungen Leute ja nicht wissen. Vielleicht war es kein Zufall, dass ausgerechnet sie den Toten gefunden hatten. Eines hatte den Kommissar seine Erfahung gelehrt: Jeder war zunächt verdächtig. Obwohl hier noch nicht feststand, ob es sich überhaupt um ein Verbrechen handelte. Aber auch das hatte ihn seine Erfahrung gelehrt: Meistens war es eines. Und warum auch sonst hätte man ihn anrufen sollen?
Der junge Mann zog seine Freundin in die Arme und murmelte ein paar tröstende Worte.
„Wie lange bleiben Sie noch hier, Senhora Deister?" fragte Fernandes auf Portugiesisch.
„Eigentlich wollten wir die ganze Woche bleiben", gab die junge Frau zur Antwort.“ „Aber ich weiß nicht - Heiko, was meinst du?"
„Ich denke, wir sollten bleiben", murmelte ihr Freund so leise, dass Fernandes die Worte kaum verstand. „Das war ja nicht unsere Schuld. Und vielleicht machen wir uns sogar verdächtig, wenn wir jetzt direkt abhauen."
„Oh." Die junge Frau schaute verwirrt. „Daran habe ich noch gar nicht gedacht."
„Wir müssen erst mal herausfinden, wer der Tote war", sagte Fernandes. „Für alle Fälle, also falls wir noch Fragen haben, notiere ich mir die Adresse Ihres Hotels und Ihre Handynummern, wenn Sie so freundlich wären, sie mir zu geben."

„Eigentlich hätten wir die Telefonnummern nicht herausgeben müssen", sagte Heiko später im Hotel. „Oder? Wir haben ja nichts verbrochen."
„Ich weiß auch nicht." Tamara stand vor dem Spiegel. „Aber es hätte wohl keinen guten Eindruck gemacht, wenn wir uns geweigert hätten."
„Da hast du sicher recht." Heiko stand vom Bett auf, stellte sich hinter sie und zog sie an sich. „Aber weißt du was? Ich habe beschlossen, dass wir uns davon den Urlaub nicht verderben lassen. Wir hatten ja nichts damit zu tun." Er streichelte ihr über die Wange. „Du hast direkt die Rettung gerufen, aber es war nichts mehr zu machen. Wir brauchen uns also nichts vorzuwerfen."
Tamara schmiegte sich an ihn und nickte dann. „Ja, genießen wir einfach unseren Urlaub. Es sterben jeden Tag auf der Welt so viele Leute, wenn man sich da ständig Gedanken drüber machen würde, könnte man ja nie mehr unbeschwert und glücklich sein."
„So ist es." Heiko küsste sie. „Und heute Abend gehen wir in das schicke Restaurant essen, das ich dir gestern schon zeigen wollte."
„Gerne." Tamara brachte ein Lächeln zustande.

Noch immer war die Identität des Toten nicht geklärt. Es gab keine Vermisstenanzeige, die auf ihn passte. Umfragen am Strand hatten ebenfalls nichts ergeben. Mit Sicherheit konnte man nur sagen, dass es sich um einen Europäer handelte. Deutscher oder Franzose, tippte Fernandes, als er sich noch einmal die Bilder ansah.
Er machte sich auf den Weg in die Abteilung der Rechtsmedizin. Die Obduktion musste mittlerweile abgeschlossen sein.
„Wie ist er gestorben?" fragte er.
„Ertrunken", antwortete der Rechtsmediziner.
„Im Meer", vermutete Fernandes, doch der Rechtsmediziner schüttelte den Kopf. „Eher nicht. Ich konnte kein Wasser in der Lunge finden. Das spricht für Süßwasser. Wie Sie wahrscheinlich wissen, wird Süßwasser sofort aus den Atemwegen abtransportiert." Der Rechtsmediziner wollte zu einer ausführlichen Erklärung ansetzen, doch Fernandes winkte ab.
„Die Auskunft reicht mir. Also Süßwasser. Das würde bedeuten, dass er nach seinem Tod an den Strand geschleift wurde."
„Möglicherweise, aber das ist Ihr Ressort, Herr Kommissar."
„Und wann ist der Tod eingetreten?"
„Vor zirka sieben Stunden."
Fernandes bedankte sich und fuhr zurück in sein Kommissariat nach Faro.


Der Mann am Strand 2. Teil

Giacomo hatte Lissabon fast erreicht. In einer Kleinstadt, dreißig Kilometer vor seinem Ziel, stellte er seinen LKW auf einem Parkplatz ab und machte sich zu Fuß auf den Weg in eine nahe gelegene Kneipe. Für heute war Feierabend, morgen hatte er frei und übermorgen musste er erst gegen Abend aufbrechen. da konnte er sich jetzt ein Bier genehmigen. Er dachte an Jaques. Ob er inzwischen wohl an seinem Ziel in Albufeira angekommen war? Pech für ihn, dass Giacomo die Tour nach Portugal erst ein paar Tage später bekommen hatte.
Der Wirt kannte ihn und grüßte freundlich. Am späten Nachmittag war in der Kneipe noch nicht viel los. In der Ecke lief der Fernseher. Giacomo bestellte sich ein Bier und lehnte sich entspannt zurück. Über den Bildschirm flimmerten die Nachrichten, allerdings verstand Giacomo nicht genug Portugiesisch, um ihnen wirklich folgen zu können.
Der Wirt brachte das Bier, machte ein paar Bemerkungen über das Wetter und fragte nach Giacomos Befinden, indem er Französisch und Portugiesisch durcheinander redete. Schließlich deutete er auf den Fernseher.
„Haben Sie das mitbekommen über den Toten am Strand in Albufeira? Anscheinend weiß die Polizei immer noch nicht, wer er ist. Niemand kennt ihn."
Giacomo schüttelte den Kopf. „Soviel Portugiesisch spreche ich nicht."
„Warten Sie mal, in unserer Zeitung war ein Bild." Der Wirt verschwand hinter seiner Theke, kam mit der aufgeschlagenen Zeitung zurück und legte sie vor Giacomo auf den Tisch.
„Do you know this man?" stand in Großbuchstaben neben dem Bild und darunter derselbe Satz in Portugiesisch.
„Oh mein Gott." Giacomo rang um Fassung. Sein Gesicht war kalkweiß geworden. „Ich muss unbedingt telefonieren."

„Ein dringender Anruf für Sie, Senhor Fernandes."
Fernandes griff nach dem Telefon. Er hatte Mühe, den Anrufer zu verstehen, der ganz offensichtlich kein Portugiese war und nach den richtigen Worten zu suchen schien.
„Sprechen Sie Englisch? Oder Französisch?" warf er schnell ein.
„Oui, oui", und dann sprudelten die Informationen auf Französisch förmlich aus dem Anrufer heraus.
„Der tote Mann vom Strand heißt Jaques le Butet", berichtete er. „Ich bin LKW-Fahrer und habe ihn vor kurzem ein Stück mitgenommen. Er wollte nach Albufeira. Gerade habe ich das Bild in der Zeitung gesehen. Mein Gott, wenn ich das gewusst hätte....“
„Sie konnten doch nicht wissen, was passiert", warf Fernandes ein.
„Nein, aber dann hätte ich ihn nicht so angeschnauzt..."
Der Kommissar horchte auf. „Wieso angeschnauzt?"
„Er wollte mit meinem Handy telefonieren. Selbst hatte er angeblich keines. Dann hat er mit meinem Handy so lange telefoniert, dass ich sauer wurde. So billig ist das ja schließlich nicht. "
„Warten Sie, warten Sie! Haben Sie das Handy noch?"
„Natürlich."
„Könnten Sie herausfinden, welche Nummer er angerufen hat? Das würde uns sehr weiterhelfen, Monsieur."
„Ich habe die Anrufliste gelöscht, tut mir leid, Monsieur le Commissaire."
„Für unsere Spezialisten dürfte das kein Problem sein. Könnten Sie das Handy hierher bringen? Es wäre wirklich sehr wichtig."
Am anderen Ende herrschte verblüfftes Schweigen.
„Ich bin in Lissabon, Monsieur le Commissaire", hörte Fernandes dann.
„Na, das ist doch wunderbar! Dann sind Sie ja gar nicht so weit weg von Faro."
„Aber...."
„Wir ersetzen Ihnen selbstverständlich die Auslagen." Fernandes gab die Adresse des Kommissariats durch.

Am dritten Abend hatten Tamara und Heiko endlich ein Restaurant gefunden, mit dem sie vollauf zufrieden waren.
„Ich habe noch nie so leckeren Tintenfisch gegessen." Tamara legte die Gabel auf den Teller und strahlte ihren Freund an.
„Ja, die können hier kochen. Auch wenn ich für Meeresfrüchte nichts übrig habe." Heiko war noch mit seinem Steak beschäftigt. An der Wand hinter ihm hingen ein paar Bilder vom Meer. Tamara betrachtete sie interessiert.
„Die sind toll", bemerkte sie. „Schade, dass wir an unserem ersten Tag das Meer nicht so erlebt haben. Ich muss immer noch an den armen Mann denken. Er war so jung..."
„Manche müssen eben früher gehen."
„Heiko!" Tamara war schockiert. „Wie kannst du so etwas sagen?"
„Manche Menschen werden steinalt und andere sterben jung. So ist das Leben."
„Ja, aber der Mann ist ja keines natürlichen Todes gestorben."
„Hätte er halt besser auf sich aufpassen sollen. Ich habe echt keine Lust, mir noch mehr den Urlaub verderben zu lassen wegen der Geschichte." Heiko wischte sich mit einer Serviette den Mund ab.
„Woher wusstest du eigentlich so schnell, dass er tot war? Du warst hinter mir und ich habe es nicht direkt gesehen."
Heiko lachte. „Sieh an, meine Freundin spielt Detektiv. Verdächtigst du mich?"
„Natürlich nicht!" Tamara widersprach so heftig und gestikulierte dabei so stark, dass sie ihr noch gefülltes Weinglas umstieß und der Wein sich auf das Tischtuch ergoss. „Verdammt, das wollte ich nicht!"
Der Kellner eilte herbei, versicherte, dass das überhaupt nichts machen würde, wischte den Wein auf, so gut es ging und brachte Tamara, ohne dass sie eines bestellt hatte, ein neues Glas Wein.
„Der erwartet nachher ein fettes Trinkgeld." Heiko grinste. Dann nahm er Tamaras Hand und küsste sie. „Hör mal, wenn es dir so wichtig ist, dann kümmern wir uns um den Fall."
„Den Fall?"
„Ja. Weißt du was? Wir ermitteln auch ein wenig. Vielleicht geht es dir besser, wenn du etwas zur Aufklärung beitragen kannst."

Der Mann am Strand 3. Teil

In dieser Nacht konnte Tamara nicht schlafen. Leise, um Heiko nicht zu wecken, stand sie auf, trat ans Fenster, schob den Vorhang zur Seite und blickte auf das Meer hinaus. Es war ein wunderbarer Anblick. Sanft plätscherten die Wellen an den Strand, und der Mond spiegelte sich im Wasser. Natürlich, es war Vollmond! Wahrscheinlich konnte sie deshalb nicht schlafen. Oder wegen ihres schlechten Gewissens? "Ich sollte mich schämen, Heiko wirklich zu verdächtigen", dachte sie. Doch andererseits: Was wusste sie von Heiko? Sie hatten sich vor drei Monaten auf der Geburtstagsparty ihrer Freundin Sylvia kennengelernt. Heiko war mit deren Mann befreundet und deswegen auch auf der Party gewesen.
"Das ist Heiko", hatte Sylvia ihn ihr vorgestellt, "charmant, umwerfend, gutaussehend und ein Glücksfall für jede Frau."
Tamara hatte gelacht und Heiko war nicht im geringsten darüber verlegen gewesen, von Sylvia so beschrieben worden zu sein. Es gab gewiss Männer, denen das peinlich gewesen wäre. Heiko gehörte nicht dazu.
"Freut mich", hatte er gesagt und ihr lächelnd die Hand gereicht. Tamara hatte seine Art imponiert: selbstbewusst, wahrhaftig charmant und gutaussehend: schlank, einen Kopf größer als sie, dunkelhaarig, braune Augen. Auch sein Beruf schien interessant zu sein.
"Ich arbeite im Export. Für eine größere Firma", hatte er gesagt. „Meistens bin ich im Außendienst unterwegs."
Tamara war beeindruckt gewesen. „Dann kommen Sie ja viel herum." Sie stellte noch ein paar Fragen zu seinem Beruf, doch bald drehte sich das Gespräch um private Dinge. Zwei Wochen später waren sie und Heiko ein Paar gewesen. Jetzt fiel ihr zum ersten Mal auf, dass Heiko viel mehr von ihr wusste als sie von ihm. Zwar hatte er ihr irgendwann den Namen der Firma mitgeteilt, in der er arbeitete, und ihr die Telefonnummer gegeben, allerdings hatte Tamara noch nie dort angerufen. Wozu auch? Sie fand die Kommunikation über Handy sinnvoller. Und sie würde ihrem Freund ganz bestimmt nicht nachspionieren.

Die Idee mit dem Urlaub in Portugal war von Heiko gekommen. „Was hältst du davon, wenn wir nächsten Monat Urlaub machen?" hatte er sie gefragt, während sie am Wochenende beim Abendessen auf ihrer Terrasse saßen. Tatsächlich war sie noch nie bei ihm zu Hause gewesen. Er kam immer nur zu ihr, auch wenn er ihr die Adresse seiner Wohnung und seine Festnetznummer mitgeteilt hatte.
„Du kannst natürlich probieren, dort anzurufen", hatte er gesagt, „aber ich warne dich vor. Ich bin so gut wie nie zu Hause, und wenn doch, überhöre ich das Telefon meistens. Ruf also lieber gleich auf dem Handy an." Daran hatte sie sich gehalten, auch an seinen Hinweis, nicht einfach bei ihm aufzukreuzen.
„Ich bin meistens doch nicht daheim, sondern die ganze Woche unterwegs. Zum Einkaufen komme ich so gut wie nie, jedenfalls nicht so, dass mein Kühlschrank gut gefüllt wäre. Also macht es mehr Sinn, wenn ich am Wochenende gleich zu dir komme", hatte er gesagt. „Du bist ja den ganzen Tag im Büro, hast pünktlich Dienstschluss und danach Zeit zum Einkaufen. Wäre es sehr unverschämt von mir, wenn ich dann darauf spekuliere, freitagabends direkt zu dir kommen zu können und von dir kulinarisch verwöhnt zu werden?" Er hatte sein umwerfendes Lächeln aufgesetzt. „Und natürlich verwöhnt zu werden in anderer Hinsicht." Tamara hatte geschmeichelt gelächelt und war nur zu gern bereit, ihm seine Wünsche zu erfüllen. So auch den Urlaub in Portugal. Nachdem Heiko die Idee mit dem gemeinsamen Urlaub angestoßen hatte, kam von ihm auch gleich danach der Vorschlag, an die Algarve zu fahren. Das hatte Tamara nicht nur begeistert, sondern regelrecht elektrisiert. Schließlich sprach sie Portugiesich und nach Lissabon, der Stadt, die sie immer schon hatte sehen wollen, könnten sie sicherlich einen Tagesausflug unternehmen. Außerdem liebte sie das Meer. Seufzend warf sie noch einen Blick darauf, ehe sie die Vorhänge wieder sachte zuzog und sich neben Heiko ins Bett legte. Heiko hatte vielleicht Geheimnisse vor ihr, überlegte sie beim Einschlafen. Aber mit dem Toten am Strand hatten diese wohl kaum etwas zu tun.

Auch Cristina Ferreira konnte in dieser Nacht nicht schlafen. Ob es daran lag, dass Pedro sich nicht mehr bei ihr blicken ließ? Sie knipste die Nachttischlampe an, setzte sich im Bett auf und griff nach ihrem Handy. Keine neue SMS. Auch gut, sollte er sie doch in Ruhe lassen. Pedro mit seiner lächerlichen Eifersucht! Sie hatte gar nicht vorgehabt, mit Jaques ein Verhältnis anzufangen! Jedenfalls kein ernstes. Jaques war ihr lediglich sympathisch gewesen, sie hatte auf Facebook öfters mit ihm geschrieben und als er ihr berichtete, er wolle an die Algarve reisen und dort ein paar Tage verbringen, hatte sie ihm spontan angeboten, bei ihr zu übernachten. Pedro hätte in der Zeit gar nicht da sein sollen. Er war Handwerker und hätte mit seiner Firma für zwei Wochen nach Spanien für einen Auftrag reisen sollen. Daraus wurde jedoch nichts, warum auch immer, und Jacques konnte sie nicht mehr absagen. Er hatte sich auf Facebook nicht mehr eingeloggt, seit er aufgebrochen war. Eine Handynummer von ihm hatte sie nicht. Natürlich hatte Pedro wie erwartet reagiert, er glaubte ihr kein Wort, schon gar nicht, dass sie ihren Bruder erwarten würde (wieso hatte sie denn ihren Bruder noch nie erwähnt, wenn sie so ein enges Verhältnis hatten?) und er würde sich von ihr nicht wie ein Idiot behandeln lassen.
Jaques hätte inzwischen längst da sein sollen. Vor ein paar Tagen hatte er sich über Handy gemeldet und behauptet, er sei noch unterwegs. Allerdings sei das Handy nicht seines und deswegen solle sie nicht darauf zurückrufen. Aber es würde nicht mehr lang dauern, dann sei er da und er sei wirklich sehr dankbar dafür, dass sie ihm einen Platz zum Schlafen geben würde. Cristina hatte ungeduldig gewartet, doch er war nicht aufgetaucht. Was wäre aber passiert, wenn er gekommen wäre? Vielleicht gar nichts. Vielleicht hätten sie ein paar Tage verbracht wie Bruder und Schwester. Vielleicht auch nicht, vielleicht hätte er ihr gefallen. Und wenn, dann hätte sie das ausgenutzt. Warum auch nicht? Schließlich war sie nicht mit Pedro verheiratet. Und nur weil er ihr die Miete für den letzten Monat bezahlt hatte, müsste sie ihm nicht ewig dankbar sein, es war seine eigene Idee gewesen und sie würde es ihm ja zurückzahlen. Irgendwann.

Auf Facebook gab es nichts Neues. Gelangweilt schaute Cristina auf die Seite der lokalen Nachrichten. Vielleicht war am Wochenende eine Veranstaltung, diese wurden manchmal dort angekündigt. Doch stattdessen sprang ihr ein Bild entgegegen, mit der fettgedruckten Schlagzeile daneben: "Wer kennt diesen Mann?". Erst als sie den Text gelesen hatte, wurde ihr klar, um wen es sich handelte. Und warum Jaques niemals bei ihr aufgetaucht war.

Fortsetzung folgt

Der Mann am Strand Teil 4

Der alte Miguel stand in seinem Garten und betrachtete den Teich, den er vor einigen Jahren angelegt hatte. Algen und Schlingpflanzen breiteteten sich ungehindert aus. 'Es wäre einfacher, sie in Schach zu halten, wenn der Teich nicht über einen Meter tief wäre', dachte Miguel. Er wollte sich wieder abwenden, um ins Haus zu gehen, als er auf einen Gegenstand im Wasser aufmerksam wurde. Was hatte sich da zwischen den Algen und Schlingpflanzen verhakt? Er trat wieder näher und begutachtete die Sache.
Es war ein Rucksack, von undefinierbarer Farbe. Er hatte sicher schon länger als einen Tag im Wasser gelegen.
'Unverschämtheit', dachte Miguel, 'die Leute laden einfach ihren Müll in meinem Teich ab.' Er schnaufte empört. Der Teich lag hinter dem Haus; nur jemand, der sich auskannte, würde seinen Müll über die kleine Mauer in hohem Bogen in den Teich werfen, wahrscheinlich bei Nacht und Nebel. Was fiel demjenigen ein? Wütend ging er zum Gartenhäuschen, holte einen Kescher und fischte damit den Rucksack aus dem Wasser.

Fernandes hatte Giacomo in seinem Büro empfangen. Giacomo saß ihm nun an einem großen Tisch gegenüber. Der Tisch war mit Akten beladen, auf einer kleinen, von der Sekretärin eilig freigeräumten Fläche stand ein Tablett mit zwei Tassen, einer Kanne Kaffee sowie Milch und Zucker. Fernandes bemerkte, dass Giacomo sich trotz der Gastfreundlichkeit nicht besonders wohl zu fühlen schien. Er rutschte unruhig hin und her und würde vermutlich heilfroh sein, wenn er sein Handy zurück bekam und aus dem Kommissariat verschwinden konnte.
„Nehmen Sie eigentlich öfters Anhalter mit?" fragte er in freundlichem Plauderton.
Giacomo nickte. „Es ist manchmal schon recht langweilig, so lange allein im LKW zu sitzen. Wenn ich dann jemanden sehe, der offensichtlich kein Geld hat und anders als mit Trampen sicher nicht weiterkommt, ist das noch ein zusätzlicher Grund. Dieser Jaques sah jedenfalls nicht so aus, als könne er sich eine Reise an die Algarve mit dem eigenen Auto leisten. Oder mit dem Flugzeug."
„Sie sind also ein Menschenfreund." Fernandes lächelte entwaffnend.
„Kann man schon sagen, ja."
„Hat Jaques Ihnen erzählt, wo er hinwollte?"
„Er wollte an die Algarve, nach Albufeira."
„Um Urlaub zu machen? Im Hotel? Oder wollte er jemanden besuchen?"
„Ein Hotel konnte er sich bestimmt nicht leisten. Er wollte zu einem Mädchen dort, das er übers Internet kennengelernt hatte. Sie hatte ihn angeblich eingeladen." Giacomo starrte auf die Tischplatte. „Ich dachte noch, in dem Alter kommt er sicher überall ohne Geld durch. Die Fahrt umsonst, den Urlaub oder was immer er vorhatte, umsonst..."
„Hat er den Namen des Mädchens erwähnt?"
„Ja, Cristina. Mit ihr hat er ja auch so lange telefoniert. Mit meinem Handy."
Fernandes nickte. „Das ist ein guter Anhaltspunkt. Hat er etwas Wichtiges gesagt?"
„Das kann ich Ihnen beim besten Willen nicht sagen. Ich weiß nur, dass er lange telefoniert hat. Hauptsächlich hat sie geredet. Das konnte ich natürlich nicht verstehen. Aber ich denke, die beiden hatten so etwas wie eine Beziehung. Oder bildeten sich das jedenfalls ein."
„Wie kann man sich eine Beziehung einbilden?"
Giacomo zuckte die Achseln. „Ich glaube nicht, dass sie sich schon jemals gesehen hatten. Wie denn auch, bei der Entfernung, einer in Frankreich, einer in Portugal. Auch wenn Jacques sich sehr auf sie gefreut hat."

Es klopfte an der Tür. Ein schlanker junger Mann mit Brille erschien und übergab Fernandes ein Schriftstück. Fernandes studierte es und nickte vor sich hin.
„Geben Sie Herrn Biancho das Handy zurück", wandte er sich anschließend an den jungen Mann.
„Ich bringe es sofort." Der junge Mann verließ das Zimmer.
„Ich hoffe, ich konnte Ihnen weiterhelfen." Giacomo saß nun kerzengerade auf seinem Stuhl. Wenn er das Handy hat, verschwindet er in Sekundenschnelle, dachte Fernandes.
„Ich glaube, Sie haben uns sehr geholfen", sagte er.

Die Handynummer gehörte einer Cristina Feirrera. Sie war leicht auf Facebook zu finden. Ihre Adresse zu ermitteln, war danach eine Kleinigkeit. Fernandes suchte sie noch am gleichen Tag mit seinem Kollegen Silva auf.
Zunächst öffnete niemand auf ihr Klingeln. Fernandes versuchte es noch einmal. Und noch einmal.
Beim dritten Mal rührte sich etwas hinter der Tür. Sie wurde langsam geöffnet und eine junge Frau stand vor ihnen. Fernandes sah auf den ersten Blick, dass sie geweint hatte.
„Entschuldigen Sie, Senhora. Wir sind von der Kriminalpolizei." Fernandes zückte seinen Ausweis. „Wir wollten zu Cristina Feirrera. Sind Sie das?"
Die junge Frau nickte. „Ich weiß schon, warum Sie hier sind."
Fernandes und Silva wechselten einen erstaunten Blick.
„Sie sind doch wegen Jaques hier? Er ist tot, ich habe es in der Zeitung gelesen... " Unvermittelt begann sie zu weinen.
Fernandes räusperte sich. „Kannten Sie ihn gut?"
Cristina schluchzte wild auf. „Wir wollten zusammenziehen, vielleicht sogar heiraten. Er war meine große Liebe und nun...." Sie wurde von einem Weinkrampf geschüttelt.
„Wie lange kannten Sie sich denn schon?" hakte Fernandes nach. „Entschuldigung, dürfen wir vielleicht hineinkommen?"
Die immer noch schluchzende Cristina hielt Ihnen die Tür auf.
„Wie lange kannten Sie ihn denn schon?" fragte Fernandes noch einmal in behutsamem Ton, nachdem er und Silva Platz genommen hatten.
„Eine ganze Ewigkeit. Eigentlich mein halbes Leben..." Und dann bekamen die beiden Beamten eine unglaubliche Geschichte zu hören.

Fortsetzung folgt

Der Mann am Strand Teil 5

„Wie haben Sie sich denn kennengelernt?" fragte Fernandes.
„Wir haben uns schon immer gekannt. Er war mein Seelenverwandter", antwortete Cristina.
„Was meinen Sie damit?" Fernandes runzelte die Stirn. „Sie müssen sich doch irgendwann kennengelernt haben."
„Das war gar nicht nötig. Jaques war schon immer in meinen Gedanken, in meinem Kopf, in meiner Seele. Er hat mich so geliebt.... "
Cristina schluchzte noch einmal kurz auf. „Ich war sein Leben. Das weiß ich ganz genau."
'Sie ist betrunken', dachte Fernandes, der aus dem Gestammel nicht schlau wurde. Jacques und Cristina hatten sich - nach Giacomos Worten jedenfalls - noch niemals gesehen. Was sollten also diese Übertreibungen?
„Er hatte sich auf den Weg gemacht, um mir einen Heiratsantrag zu machen", sprach Cristina weiter. „Das hat er mir natürlich nicht gesagt, es sollte ja eine Überraschung sein. Aber ich konnte in Jaques lesen wie in einem Buch. Weil ich wusste, was er vorhatte, wollte ich den Termin beim Standesamt schon machen, aber die meinten, Jaques müsste noch seine Papiere vorlegen. Das habe ich ihm dann auch gesagt."
Die beiden Beamten schwiegen. Fernandes fiel ein, dass Jacques' Papiere - sofern er überhaupt welche dabei hatte, denn Giacomo hatte sie seinen Angaben zufolge nicht gesehen - bis jetzt nicht gefunden worden waren. Aber er hielt es für nicht ratsam, Cristina darauf hinzuweisen.
Cristina wandte sich an Fernandes. „Sie kennen sich doch aus. Wenn man vorhatte zu heiraten und dann stirbt der Bräutigam - hat man da nicht Anspruch auf eine Witwenrente?"
Fernandes fiel der Unterkiefer herunter.
„Die ist ja total übergeschnappt", sagte Silva, als sie eine Stunde später wieder auf der Straße standen. Die Sonne brannte heiß vom Himmel und Silva wischte sich mit einem Taschentuch die Stirn ab.
„Entweder das oder geldgeil." Fernandes grinste.
„Selbst wenn sie diesen Unsinn mit der Witwenrente durchsetzen könnte - was ja sowieso unwahrscheinlich ist, weil sie niemals verheiratet waren - sie glaubt doch nicht im Ernst, dass bei diesem armen Schlucker viel zu holen war?" Silva schüttelte den Kopf. „Wenn Sie mich fragen, die war entweder besoffen, zugekifft oder beides. Oder ganz einfach verrückt."
Ehe Fernandes antworten konnte, klingelte sein Handy. Seine Sekretärin teilte ihm mit, dass sich eine angebliche Verwandte von Jaques aus Frankreich gemeldet habe. Gestern Abend hatten sie den Fall an die internationale Presse weitergegeben. Fernandes atmete auf. Er hatte sich bei dem Gedanken, dass der Verstorbene nicht in seiner Heimat beigesetzt werden konnte, nicht wohlgefühlt. Verwandte würden ihn mitnehmen können, sobald die Gerichtsmedizin ihn freigab.

Miguel betrachtete den nassen Rucksack. Er hatte ihn auf den Boden gelegt und überlegte seit zehn Minuten, ob er ihn öffnen sollte. Einerseits wollte er nichts Unappetitliches zutage fördern. Andererseits war seine Neugier geweckt. Warum warf jemand einen Rucksack in seinen Teich? Er hob ihn hoch und schnupperte daran. Er roch nach gar nichts. Ein wenig nach nasser Katze, dachte er und erschrak sich. Da hatte doch nicht etwa jemand neugeborene Katzen im Rucksack ertränken wollen? Hastig riss er den Reißverschluss auf. Er musste zweimal hinschauen. Und stand dann wie vom Donner gerührt da.

Im Rucksack befanden sich mehrere Bündel Geldscheine, ordentlich gewickelt. Allerdings - natürlich - vollkommen mit Wasser durchzogen
„Merda!" fluchte er laut.

Der Mann am Strand Teil 6
Lyon

Marcelina stand in der Diele vor dem Spiegel und probierte den schwarzen Hut mit Trauerflor noch einmal auf, den sie vorhin gekauft hatte. So recht wollte er nicht zu ihrem flammend roten Haar passen, das ihr lang den Rücken hinunterfloß und viel zu lebendig gegen das Schwarz wirkte. Immerhin wurde durch den Trauerflor ihr Gesicht verdeckt, was nur von Vorteil sein konnte. Sie seufzte tief auf.
Brian kam aus der Küche, trat hinter sie und streichelte ihr über den Rücken. „Du fliegst also morgen", sagte er leise. „Keine angenehme Aufgabe."
„Weiß Gott nicht." Marcelina drehte sich zu ihm um. „Aber das bin ich ihm schuldig. Außer mir hatte er ja niemanden mehr auf der Welt. Wer weiß, wohin meine nichtsnutzige Schwester seit einer Ewigkeit verschwunden ist."
„Sein Vater hat sich auch nicht gemeldet?"
Marcelina schüttelte den Kopf. „Sein Vater weiß vermutlich noch nicht mal, dass er einen Sohn hat... hatte. Madeline hat seinen Namen nie verraten. Ich fragte sie schließlich nicht mehr danach."
Sie schwiegen eine Weile, dann brach es aus Marcelina heraus.
„Warum ist dieser Trottel nur getrampt? Ich habe ihm gesagt, lass es sein, das ist zu gefährlich, jemand bringt dich wegen des Geldes noch um ....nimm den Flieger, innerhalb der EU darfst du 10.000 Euro im Handgepäck mitführen.... Aber er wollte ein richtiges Abenteuer erleben, so nach außen armer Schlucker, aber die Tasche voll Geld, wollte aber sehen, ob er auch ohne durchkommt. .. Und das kommt dabei heraus." Ihr stiegen die Tränen in die Augen.
„Hätte ich es nur verhindern können..."
Brian nahm seine Verlobte in die Arme. „Wie denn.... Jaques war volljährig. Du konntest ihm nichts mehr verbieten."
„Ich hätte es ihm ausreden sollen. Seit ich wusste, dass er sich mit soviel Geld auf den Weg machen wollte, hatte ich ein ungutes Gefühl."
„Wo hatte er das viele Geld eigentlich her?"
„Meine Mutter hatte Aktien und hat sie ihm in ihrem Testament vermacht. Das ist zwar jetzt schon über ein Jahr her. Aber erst vor zwei Monaten sind sie im Wert gestiegen und Jacques hat sie mit Gewinn verkauft."
„Das Geld hatte er nicht mehr bei sich?" vergewisserte sich Brian, der die Geschichte unglaublich fand. Und Marcelinas Neffen kreuzdämlich. Aber es ziemte sich in dieser Situation nicht, seine Gedanken auszusprechen.
„Sie haben gar nichts bei ihm gefunden."
Müde sah Marcelina ihn an. „Ein Wunder, dass sie ihm seine Klamotten gelassen haben."
„Glaubst du, es waren mehrere Täter?"
„Wer weiß das schon.... Dieser Kommissar war jedenfalls sehr zurückhaltend."
„Vielleicht erfährst du vor Ort morgen mehr", sagte Brian.

Im Fischerdorf an der Algarve

Mit klopfendem Herzen tippte Tamara die Nummer von Heikos Firma in ihr Handy. Hoffentlich kam Heiko nicht auf die Idee, sie hier, an einem nicht sehr belebten Strandstück, zu suchen. Er hatte sich nach einem ausgiebigen Mittagessen aufs Bett gelegt und war tatsächlich eingeschlafen. Das hatte Tamara ausgenutzt, um sich heimlich davon zu schleichen. Von ihrer Recherche musste er nichts wissen.
„Firma Taditeter und Partner", meldete sich eine fröhliche weibliche Stimme.
„Guten Tag, hier ist Tamara Diester. Könnte ich bitte Herrn Heiko Katter sprechen?"
„Wer ist da bitte?"
Tamara räusperte sich. Sogar in ihren Ohren hatte sich ihre Stimme krächzend angehört.
„Hier ist Tamara Diester."
„In welcher Angelegenheit möchten Sie Herrn Katter sprechen?"
„Ich... äh.... geschäftlich", stotterte Tamara, dann fing sie sich und sagte so forsch, wie sie nur konnte: „Ich wollte ihm einen Vorschlag machen. Ich kenne ihn und würde das lieber mit ihm persönlich besprechen."
„Herr Katter arbeitet leider nicht mehr bei uns", sagte die noch immer fröhliche Stimme. „Ich kann Sie aber an seinen Nachfolger verweisen."
Tamara war einen Moment lang verblüfft. „Nein danke", sagte sie schließlich, „ich werde ihn dann unter seiner privaten Nummer anrufen."
„Dann wünsche ich Ihnen noch einen schönen Tag! Auf Wiederhören!" Kurz bevor am anderen Ende aufgelegt wurde, schnappte Tamara noch die Worte: „Schon wieder einer... " auf. Was hatte das zu bedeuten?
Sie wählte die Festnetznummer von Heikos privater Adresse und war überrascht, als sich schon nach dem dritten Freizeichen eine Frau atemlos mit „Hallo?" meldete.
„Hallo", hier zog Tamara es vor, ihren Namen nicht zu nennen, „könnte ich bitte Heiko sprechen?"
„Wer ist da?"
„Charlotte. Ich bin eine Kollegin", log sie schnell.
Die Frau lachte. „Eine Kollegin? Wollen Sie mich auf den Arm nehmen? Heiko hat keine Kollegen mehr. Sie lesen wohl keine Zeitung?" Mit diesen Worten legte sie auf.
Verdattert sah Tamara auf ihr Handy. Auf diese Sätze konnte sie sich keinen Reim machen. Es war wohl kaum Heikos Frau gewesen.... Aber warum war eine Frau in seiner Wohnung?
Verärgert steckte sie das Handy ein. Sie war keinen Schritt weitergekommen und würde sich jetzt beeilen müssen, um wieder im Hotel zu sein, ehe Heiko ihr Verschwinden bemerkte oder sie musste sich eine gute Ausrede einfallen lassen wie: „Ich war spazieren und wollte dich nicht wecken."
Sie machte ein paar Schritte In Richtung Hotel und fuhr erschrocken zusammen. Wie aus dem Boden gewachsen stand auf einmal Heiko vor ihr. Und sah sie keineswegs freundlich an.
„Hast du mich erschreckt! Ich habe dich gar nicht kommen sehen." Stand er etwa schon länger da?
„Was machst du hier hinter meinem Rücken?"
Tamara wich einen Schritt zurück. Was war mit ihm los? Das war nicht der Heiko, den sie kannte.
„Ich war spazieren..... "
„Dass ich nicht lache! Wen hast du angerufen? Die Polizei?" Heiko sprang auf sie zu, hielt ihre Arme fest und zog das Handy aus ihrer Hosentasche.
„Heiko, spinnst du? Lass mich sofort los!"
Heiko lachte auf, aber es war nicht das Lachen, was sie von ihm gewohnt war, ein zärtliches, liebevolles Lachen, das sie gestern noch so glücklich gemacht hatte. Dieses Lachen ließ ihr Blut gefrieren. Eine eiskalte Hand legte sich um ihr Herz.
Lieber Gott, mach, dass das nicht wahr ist.

Fortsetzung folgt

Der Mann am Strand Teil 7

Eigentlich war es sein freier Tag. Aber schon beim Frühstück hatte Fernandes das Gefühl, dieser Tag würde völlig anders als geplant verlaufen.
Von seinem Balkon aus hatte er einen wunderbaren Blick auf den Strand von Faro, an dem sich so früh morgens noch keine Touristen tummelten. Fernandes genoß die Stille und die Aussicht und hatte sich bei seiner zweiten Tasse Kaffee gerade dazu entschlossen, einfach zu entspannen und nicht an den Fall in Albufeira zu denken, als das Telefon klingelte. Es wäre auch zu schön gewesen, um wahr zu sein...
„Entschuldigung, dass ich Sie heute stören muss, Herr Kommissar", erklang die Stimme seiner Sekretärin, „aber hier ist jemand, der Ihnen unbedingt etwas zeigen will. Er will auch mit Ihnen persönlich sprechen, also wie er sich ausdrückte, 'mit dem zuständigen Kommissar für unser Gebiet'." Er steht seit einer Stunde hier und lässt sich nicht auf morgen vertrösten."
Fernandes seufzte. „Wer ist es?"
„Er heißt Miguel da Silva."
Fernandes überlegte. „Ich glaube nicht, dass ich ihn kenne. Was will er mir denn zeigen?"
„Er hat einen Rucksack dabei, in dem angeblich jede Menge Geld ist."
„Ich komme." Wehmütig warf Fernandes noch einen Blick auf seinen Balkon, ehe er seine Freizeit- mit der Dienstkleidung vertauschte und sich auf den Weg ins Kommissariat machte.

„Schauen Sie, Herr Kommissar!"
Miguel packte den Rucksack, zog den Verschluss auf und schüttete den Inhalt auf den Boden. Erstaunt sah Fernandes auf die vielen Geldbündel, die aussahen, als ob sie einmal gründlich nass geworden und dann getrocknet worden seien. Das Geld war ziemlich zerknittert, aber ansonsten schien es keinen Schaden genommen zu haben.
„Wo haben Sie das her?"
„Aus meinem Teich, Herr Kommissar. Aber ich habe es nicht da hineingeworfen! Gestern wollte ich den Teich säubern, da habe ich den Rucksack im Wasser gesehen. Ich dachte, da hat jemand seinen Müll ins Wasser geworfen."
„Gestern? Warum kommen Sie erst heute?"
Miguel war verblüfft. „Warum ist das wichtig? Es war spätabends und ich wollte niemanden mehr stören."
„Wollten Sie das Geld nicht vielleicht behalten?" fragte Fernandes amüsiert.
„Natürlich nicht!" Miguel war entrüstet. „Ich dachte, es sei Müll! Ich habe den Rucksack nur aufgemacht, weil ich auf einmal Angst hatte, jemand wolle seine Katzen in meinem Teich ertränken. Aber dann war es zum Glück nur Geld."
Es klopfte an der Tür und Fernandes' Sekretärin steckte ihren Kopf zur Tür herein. „Entschuldigen Sie bitte, Herr Kommissar, aber Senhora le Butet ist da."
'Auch das noch', dachte Fernandes.
„Dauert das noch lange?" fragte eine gereizte Stimme hinter der Tür auf Französisch.
„Keineswegs!" rief Fernandes laut. „Sie können gleich hereinkommen." Er gab Miguel mit einer Handbewegung zu verstehen, dass er das Geld wieder in den Rucksack packen sollte. „Warten Sie bitte draußen. Ich schaue mir das später noch einmal an."
Miguel rührte sich nicht. „Ich habe schon über eine Stunde gewartet", sagte er. „Warum soll ich jetzt nochmal warten? Ich war zuerst da."
„Ja, aber hier geht es um einen Trauerfall. Die Dame ist extra von Frankreich hergeflogen. Wir hatten sie erst morgen erwartet."
Die Tür öffnete sich erneut. Eine Frau mit flammend rotem Haar und einem schwarzen Hut mit Trauerflor, durch den ihr Gesicht teilweise verdeckt wurde, stand auf der Schwelle. Fernandes vermochte nicht zu erkennen, ob ihr Gesichtsausdruck traurig oder wütend war.
„Ich möchte meinen Neffen abholen", sagte sie auf Französisch, an Fernandes gerichtet. „Ich meine...... Ich will seine Leiche überführen."
Miguel, der kein Wort Französisch verstand, schaute sie böse an. „Können Sie nicht warten, bis Sie dran sind?" blaffte er auf Portugiesisch.
„Senhor da Silva, ich sagte Ihnen doch, die Dame ist wegen eines Trauerfalles hier. Bitte etwas Respekt." Fernandes schaute den alten Miguel fest an. „Und jetzt sind Sie so nett und warten bitte draußen."
„Nein", sagte Miguel stur. Er hob mit der rechten Hand den Rucksack hoch, mit der anderen ein Geldbündel und legte beides auf den Tisch.
„Ich will erst.... "
Doch was er wollte, erfuhr niemand mehr, denn die Rothaarige stieß einen spitzen Schrei aus, in dem seine restlichen Worte untergingen.
„Was ist das? Heilige Maria, das ist Jaques' Rucksack! Und sein Geld! Und das ist der Täter! Großartig, Monsieur le Commissaire, gute Arbeit! Es tut mir leid, dass ich mich beschwert habe, weil ich warten musste."
„Was schreit die Verrückte da?" wollte Miguel wissen.
Aber Fernandes war viel zu verblüfft, um zu antworten.

Fortsetzung folgt

Der Mann am Strand 8. und letzter Teil

Ehe Fernandes überhaupt dazu kam, sich zu äußern, wurde an der Pforte Sturm geklingelt. Er hörte, wie sich seine Sekretärin nach dem Namen desjenigen erkundigte, der so dringend mit der Polizei sprechen wollte, dann summte der Türöffner und Cristina Ferreira stürmte in das Büro.
„Hallo, Herr Kommissar! Ich weiß, wer der Mörder ist", platzte sie heraus. „Pedro war es."
„Haben Sie Beweise?" fragte Fernandes gelassen.
Triumphierend zog Cristina einen Brief hervor. „Den hat Pedro mir geschrieben. Darin gesteht er alles."
„Darf ich das Schriftstück einmal sehen?" verlangte Fernandes. Er nahm den Brief an sich und überflog die wenigen Zeilen.

„Liebe Cristina,

ich habe mich entschlossen, dir etwas zu gestehen. Ich habe Jacques getötet, deinen angeblichen Bruder. Ich wusste, dass er nicht dein Bruder war, aber ich wollte ihn nicht töten. Er stand vor ein paar Tagen vor deiner Haustür, gerade, als ich zu dir kommen wollte. Ehe er noch klingeln konnte, sprach ich ihn an, und es stellte sich heraus, dass er bei dir übernachten wollte. Ich fragte ihn, was er bei meiner Freundin zu suchen hatte, und wir gerieten in Streit, dann haben wir uns geprügelt. Ich wollte ihn fortjagen, dabei lief er auf das Grundstück von Senhor da Silva, wir prügelten uns und er fiel in den Teich. Ich sprang hinterher und wir prügelten uns weiter. Der Teich ist ja nicht tief, ich hätte nie gedacht, dass darin jemand ertrinken kann. Als er nicht mehr auftauchte, habe ich ihn gesucht, an Land gezogen und Wiederbelebungsmaßnahmen versucht, aber es nutzte nichts mehr. Ich dachte, wenn er am Teich gefunden wird, werde ich sofort verdächtigt, deswegen habe ich ihn zum Strand gebracht. Es tut mir leid. Es war ein Unfall. Ich gehe fort.
Dein Pedro."
„Der Brief wird von einem Graphologen untersucht", sagte Fernandes. „Wir müssen feststellen, ob wirklich Pedro ihn geschrieben hat."
„Glauben Sie mir etwa nicht?" Cristina schien eher verwundert als darüber betroffen zu sein. „Ich meine... Er hat gestanden... Es ist doch klar?"
„Auch bei einem Geständnis braucht man Beweise."
Dann wandte Fernandes sich an Marcelina le Butet.
„Wir brauchen noch eine Zeugenaussage von Ihnen, da Sie den Rucksack wieder erkannt haben. Und ich wüsste auch gerne, warum Jaques so viel Geld dabei hatte."
„Verhaften Sie diesen Mann jetzt endlich?" fragte Marcelina in energischem Ton, doch Fernandes schüttelte den Kopf. „Er hat nur den Rucksack mit dem Geld gefunden und ihn hergebracht. Kein Grund, ihn zu verhaften."
Fernandes griff nach dem Telefon, rief den Rechtsmediziner an und beauftragte ihn, das Wasser in Miguels Teich zu untersuchen und festzustellen, ob Partikel davon in der Lunge des Toten nachzuweisen waren.
'Fürs erste kann Madame le Butet ihn nicht mitnehmen', dachte er.

Tamara war entsetzt zurückgewichen. Es konnte doch nicht sein, dass Heiko wirklich der Täter war..... Und wie hätte er das eigentlich anstellen sollen? Sie waren zusammen am Urlaubsort angekommen und hatten seitdem die Zeit gemeinsam verbracht.
„Das hättest du nicht von mir gedacht, was?" Heiko lachte höhnisch.
„Gib mir sofort mein Handy zurück!"
„Wozu? Damit du dann doch die Polizei anrufst?"
Tamara starrte ihn an. „Warum hast du den armen Kerl umgebracht?"
„Was? Ich habe überhaupt niemanden umgebracht. Du hast ja nicht mehr alle Tassen im Schrank."
Tamara war verwirrt. „Aber .....Warum hast du dann Angst, ich könnte die Polizei angerufen haben?"
Heiko ließ sich rückwärts in den Sand fallen und warf ihr das Handy hin. „Ruf die Polizei ruhig an, es ist sowieso alles egal. Ich schätze, wir werden uns einige Jahre nicht mehr sehen. Außer du kommst mich im Knast besuchen." Er saß im Sand, verschränkte die Arme über den Knien und ließ seinen Kopf darauf fallen.
„Heiko, was zum Teufel ist eigentlich los? Wenn du nicht der Täter bist, musst du doch nicht ins Gefängnis."
„Schon mal was davon gehört, dass man auch andere Taten begehen kann?" antwortete er dumpf. „Ich habe verdammt großen Mist gebaut, habe in meiner Firma Geld unterschlagen. Deswegen hat man mich entlassen. Ich wollte den Urlaub dazu nutzen, mal endlich über alles nachzudenken und was ich nun mit meinem Leben anfangen kann. Ich hatte gehofft, eventuell hierbleiben zu können. Vielleicht unter anderem Namen. Und ich hatte gehofft, du würdest mir vielleicht dabei helfen, vielleicht bei mir bleiben, auch wenn ich dir die Wahrheit sage. Ich hatte vor, dir das ganz in Ruhe zu sagen und alles Weitere mit dir zu besprechen. Und dann taucht der tote Kerl am Strand auf und alles verläuft ganz anders und du hast nur noch ein Thema und hältst mich schließlich sogar für einen Mörder. .....verdammte Scheiße."
„Wieso hast du Geld unterschlagen?"
„Hab mich verspukuliert, ich hatte ein paar Wetten laufen. Pferderennen. Eigentlich hatte ich immer todsichere Tipps. Dann habe ich paarmal aufs falsche Pferd gesetzt und viel verloren. Aber ich wollte immer wieder wetten und dazu brauchte ich Geld. Also habe ich es mir aus der Firmenkasse ... geliehen. Ich wollte es ja zurückgeben, sobald ich wieder gewonnen hatte. Das passierte nur nie. Eine Kollegin kam dahinter und sagte dem Abteilungsleiter Bescheid und der dem Chef und dann wurde mir fristlos gekündigt. Auch meine Vermieterin bekam Wind davon und kündigte mir die Wohnung. Angeblich wegen Eigenbedarf, aber ich bin mir sicher, dass irgendwer ihr die ganze Geschichte gesteckt hat und sie mir deswegen gekündigt hat. Wenigstens nicht fristlos, zwei Monate bleiben mir jetzt noch. Ist aber sowieso egal, wenn ich wegen Unterschlagung in den Knast gehe."
Tamara war wie vom Donner gerührt. Einerseits war Heiko kein Mörder - wie sie richtig vermutet hatte, hätte er gar nicht die Möglichkeit dazu gehabt, ohne dass sie es mitbekommen hätte, seit sie im Fischerdorf an der Algarve angekommen waren. Aber dass er viel Geld unterschlagen haben sollte, behagte ihr auch nicht.
Heiko sah sie nun wieder an. „Ich habe verdammten Mist gebaut, Tamara. Willst du mich trotzdem noch?"
Langsam setzte sie sich neben ihn in den Sand. „Ich habe keine Ahnung", sagte sie.

September 2016

Faro


Fernandes saß am Frühstückstisch und schlug die Zeitung auf. Heute war sein erster Urlaubstag. Seine Koffer waren gepackt; morgen ging es nach Frankreich. Marcelina le Butet hatte ihn eingeladen, zum Dank dafür, dass er den Fall so schnell aufgeklärt hatte.
Es klingelte. Das musste Silva sein, dem er noch einige Instruktionen mit auf den Weg geben wollte. Silva sollte ihn während seines Urlaubes vertreten.
Bald saßen die beiden Männer bei einer Kanne Kaffee am Tisch und besprachen noch einmal den Albufeira-Fall.
„Diese Cristina Feirrera hat wirklich Riesenglück gehabt", sagte Silva. „Fälscht ein Geständnis und führt uns so aber auf die richtige Fährte."
„Sie wird damit trotzdem nicht einfach so davonkommen. Auch wenn sie sich in eine Art Liebeswahn dem Toten gegenüber reingesteigert hat. Die psychologische Untersuchung deswegen ist auch noch nicht ganz abgeschlossen." Fernandes schenkte sich Kaffee nach. Silva winkte dankend ab.
„Meinen Sie nicht, sie hat diesen Liebeswahn nur vorgespielt?"
„Möglich wäre es. Vielleicht wollte sie auch ihrem Freund eins auswischen... Das wissen wir nicht."
„Ein Unfall war es immerhin wirklich, Pedro hatte nicht die Absicht, Jacques zu töten."
„Ich denke auch, dass er einfach nicht damit gerechnet hat, dass ein Erwachsener in einem Teich etrinken kann."
Die beiden Männer schwiegen eine Weile, dann tippte Silva auf die Zeitung, die Fernandes aufgeschlagen auf dem Tisch liegen gelassen hatte. „Hier steht was Interessantes drin. Ist zwar nicht unser Ressort, aber vielleicht haben Sie es ja gelesen. In Albufeira soll sich ein Betrügerpärchen herumtreiben."
„Ich war gerade erst auf der zweiten Seite." Fernandes blätterte die Zeitung durch. Unter „Lokales" sprang ihm die Meldung entgegen, dass ein Mann und eine Frau in mehreren Pensionen logiert haben sollten, ohne die Zeche zu bezahlen. Möglicherweise würde es sich bei dem Mann um einen Deutschen handeln, der in seiner Heimat schon Unterschlagungen begangen haben sollte.
Ein unscharfes Bild des Pärchens war auch abgebildet. Fernandes betrachtete es.
„Erinnert mich an jemanden", sagte er.
„Wie gesagt, ist ja nicht unser Ressort."
Fernandes nickte. Er hatte auch nicht die Absicht, Silva seine Entdeckung zu erzählen. Auch wenn das Bild nicht besonders scharf war, er hatte die beiden längst erkannt. Sie hatten damals den toten Mann am Strand gefunden.
Eine Stunde später verabschiedete sich Silva.
„Schönen Urlaub wünsche ich Ihnen!"
„Vielen Dank!" Fernandes schloss die Tür, ging zum Tisch, nahm die Zeitung und warf sie ins Altpapier.

ENDE
 
Zuletzt bearbeitet von einem Moderator:

ahorn

Mitglied
Hallo SilberneDelfine,
wird ja spannend. Heiko mit in den Reigen der Verdächtigen aufzunehmen bringt Salz in die Suppe.

Schau dir die Dialoge an, welche nach mein Geschmack zu sehr den Text dominieren.
Fällt dir etwas auf?
Vertausche Tamara und Heiko.
Die Dialoge haben keine Persönlichkeit, keine Eigenheiten. Nicht sie sprechen, sondern der Autor.

Werde zu Fernandes, Heiko oder Tamara. Brich die Dialoge auf und erzähle. Erzähl von Fernandes Arbeit. Schreibe mit Tamaras Worten über ihre Beziehung zu Heiko. Egal was, aber bringe Leben in die Bude. ;)

Liebe Grüße
Ahorn
 
Hallo ahorn,

danke für deinen Kommentar und deine Tipps, auch für die, die ich schon im Vorfeld erhalten hatte :) Du hast sicher gesehen, dass ich etwas davon verwendet habe.

Ich schreibe eigentlich zum ersten Mal einen Krimi bzw. versuche es. Mein Fokus liegt momentan eher darauf, die Aufklärung plausibel rüber zu bringen. Da ist es ein bisschen zuviel des Guten, jetzt auch noch Heikos und Tamaras Beziehung im zweiten Teil zu dramatisieren, Es sollen ja höchstens vier oder fünf Teile werden, kein Roman.
Ich finde aber auch nicht, dass man die Dialoge vertauschen kann. Tamara benimmt sich weiblich und Heiko männlich.... :cool:

.
Schau dir die Dialoge an, welche nach mein Geschmack zu sehr den Text dominieren.
Fällt dir etwas auf?
Vertausche Tamara und Heiko.
Die Dialoge haben keine Persönlichkeit, keine Eigenheiten. Nicht sie sprechen, sondern der Autor.
Ich habe gelernt, dass Dialoge einen Text dominieren sollen.... "Show, don't tell" geht so am besten und am einfachsten. Da würde ich ungern auf Text mit weniger Dialogen umschwenken.

Was ich mir aber merken werde: "Nicht sie sprechen, sondern der Autor." Daran werde ich arbeiten.

LG SilberneDelfine
 
Zuletzt bearbeitet:
Ich habe in der Geschichte geschrieben, dass der Rechtsmediziner Süßwasser in den Lungen des Toten gefunden hat. Nun hat mich jemand darauf hingewiesen, dass Süßwasser in der Lunge nicht nachweisbar ist. Weiß jemand mehr darüber?
 

jon

Mitglied
Teammitglied
Das erscheint mit unlogisch. Warum sollte das nicht nachweisbar sein? Meine Überlegung dazu: Man kann Wasser oder Reste davon in der Lunge finden. Man kann es analysieren, die gefundenen Stoffe geben Auskunft über die Quelle. Allein destiliertes Wasser könnte nach einiger Zeit per Osmose vollständig/rückstandslos durch die Lungenbläschen ins Blut diffundiert sein.
 

jon

Mitglied
Teammitglied
Ich habe gelernt, dass Dialoge einen Text dominieren sollen.... "Show, don't tell" geht so am besten und am einfachsten. Da würde ich ungern auf Text mit weniger Dialogen umschwenken.
Da hat dir jemand was Falsches erzählt. Erzähltes kann auch ganz ohne Dialoge auskommen.
"Show, don't tell" ist okay, aber auch kein Dogma. Die Leser heute sind stark von Film und Fernsehen geprägt - dort werden Geschichten szenisch dargeboten, Text ahmt das gern nach.
Es ist wie immer eine Frage des Maßes und des Charakters des Gesamttextes.

Wenn man szenisch schreibt und sich in der Szene Leute unterhalten, dann gehört diese Unterhaltung vorwiegend als Dialog rein. Erzählende Zusammenfassungen kann es aber geben, wenn der Leser Inhalte schon kennt oder es um Beiwerk geht.

Sowas wie:
(Wir lasen gerade, wie Egon einen Engel traf. Dann …)
Egon eilte zu Alfred und erzählte ihm von der Begegnung.
„Du spinnst!", sagte Alfred und lachte.


Oder sowas:
(Wir lasen gerade den Dialog der Ermittler über die mögliche Todesursache. Dann …)
„Warten wir ab, was die SpuSi noch findet", sagte Krämer und stand auf. „Ich hab Kaffeedurst. Kommst du mit?"
Schnerzel nickte. Krämer begann, von seinem Baby zu erzählen. Schnerzel nickte auch dazu, als interessiere es ihn, dass Pröppchen, wie Kärmer seine Tochter nannte, gestern schon dreimal gelächelt hatte statt nur zweimal wie am Tag davor.
 

ahorn

Mitglied
Hallo SilberneDelfine, hallo jon,

Jon mein Herz geht auf. Ich als bekennender Klugscheißer. :)

‚Show, don’t tell‘ ist angesagt. Oh nein schrecklich, dann habe ich, bei meiner Christa voll den Trend missachtet - kein gesprochen Wort auf den ersten 50 Seiten. o_O
Mal Ernst. Dies ist doch langweilig. Keine Abwechslung. Keine indirekte Rede in der man Fakten oder Falschnachrichten verstecken kann. Keine Handlungsstränge des Protagonisten.
Das nebenbei.

Zu deinem Text SilberneDelfine.
Ich finde aber auch nicht, dass man die Dialoge vertauschen kann. Tamara benimmt sich weiblich und Heiko männlich
Es ging mir nicht um die Adjektive, die sie benutzen, sondern um den Dialog als solches.
Sie sind ein Paar - wielange und in welch Beziehung sie stecken lässt du den Leser leider im Dunkel. Sie kommunizieren aber wie gute Freunde. Keine Dominanz. Sie schnattert nicht. Er süllert sie nicht voll. Beinahe ein Gespräch wie unter Geschäftspartner, dabei sind sie im Urlaub beim Abendessen.
Davon abgesehen. Sie ist Übersetzerin, damit gehe ich davon aus, dass sie sprachgewandt ist. Quatsch sie ist im Urlaub.;)

Sieh an, meine Freundin spielt Detektiv. Verdächtigst du mich?«
Eine wunderbare geschlossene Frage. Eine Frage, die sie beantwortet.
Sie ist eine Frau. Sie ist intelligent.
Angenommen die beiden wären frisch verliebt und in ihrem ersten Urlaub. Würde sie die Hand für ihn ins Feuer legen? Würde sie mit ja oder nein (nicht) antworten. Glaube kaum.
Was würde sie tun? Ausweichen.
»Ist der Sonnenuntergang nicht romantisch« oder »Sind die Blumen auf dem Tisch nicht allerliebst«
Bei einem langjährigen Ehepaar würde die Ablenkung liebevoller klingen.
»Klecker nicht« oder »Kannst du zum Essen kein anders Hemd anziehen.«
Wie würde seine Reaktion sein?
Entweder er vergisst es oder er wiederholt seine Frage.
Sie ist eine Frau. Frauen sind intelligent.
Verallgemeinern.
»Steckt nicht in jedem ein Mörder« oder »Wer hat noch nie daran gedacht, jemanden umzubringen.«
Entweder er vergisst es oder er wiederholt seine Frage erneut.
Die Frage beantworten sie in der Pflicht. Dennoch eine Hintertür aufbehalten.
»Nein. Das traue ich dir nicht zu.«

Ein Hinweis zu dem ‚die Protagonisten sprechen wie der Autor‘
„Die sind toll«, bemerkte sie. „Schade, dass wir an unserem ersten Tag das Meer nicht so erlebt haben. Ich muss immer noch an den armen Mann denken. Er war so jung.... »
„Manche müssen eben früher gehen.«
„Heiko!« Tamara war schockiert. „Wie kannst du so etwas sagen?«
„Ist doch so. Manche Menschen werden steinalt und andere sterben jung. So ist das Leben.«
„Natürlich nicht!« Tamara widersprach so heftig und gestikulierte dabei so stark, dass sie ihr noch gefülltes Weinglas umstieß und der Wein sich auf das Tischtuch ergoss.
Fällt die etwas auf?
Nebenbei.
Die Szene mit dem Weinglas hätte ich ihm gegeben. Weshalb sollte sie aufgebracht sein? Es sei denn, sie ist die Mörderin.

Da ist es ein bisschen zu viel des Guten, jetzt auch noch Heikos und Tamaras Beziehung im zweiten Teil zu dramatisieren
Es geht nicht um ihre Beziehung, sondern um die Personen. Wenn dein Text 10 Seiten länger wird egal!
Logik.
Es ist ein Paar im Urlaub und er will auf einmal Detektiv spielen. Ist dies sein Hobby?

Liebe Grüße
Ahorn
 
Sie sind ein Paar - wielange und in welch Beziehung sie stecken lässt du den Leser leider im Dunkel
Hallo ahorn,

das sollte sowieso im dritten Teil kommen. Nicht so ungeduldig :)

Da sind tatsächlich viele "so" im Dialog. Ist mir echt nicht aufgefallen.... Ich muss dir recht geben.

. Die Szene mit dem Weinglas hätte ich ihm gegeben. Weshalb sollte sie aufgebracht sein? Es sei denn, sie ist die Mörderin.
Stimmt auch, er sollte sich aufregen, dass sie ihn verdächtigt.

Aber den Text 10 Seiten länger machen? Oweia.... Ich bin doch eigentlich vom "Weglassen" überzeugt.

LG SilberneDelfine
 
Ich habe gerade den 3. Teil eingestellt.

Hallo @jon,

danke für deine Antwort im Spoiler gestern.

Einen wirklichen Beweis für diese These habe ich bis jetzt auch nicht gefunden, deshalb gehe ich davon aus, dass Süßwasser doch in der Lunge nachzuweisen ist und werde deswegen dann nichts umschreiben.

Hallo @ahorn,

habe mich jetzt bemüht, mehr Inhalt zu bringen und für meinen Geschmack schon fast ausschweifend geschrieben... Bin gespannt, was du dazu sagst.

LG SilberneDelfine
 

ahorn

Mitglied
Applauso. ;)
Zumindest habe ich den ersten Ansatz gelesen - ist ja schon spät. Das knallt!

Kleinigkeit. Du so'test.

Vorweg:

Trotzdem war es unüberlegt und fast schon unverschämt von ihr gewesen, ihm die Frage an den Kopf zu werfen, wieso er so schnell gesehen hatte, dass der junge Mann tot war.
Nicht fast schon. Nicht ihre Scham abmildern.
Trotzdem war es unüberlegt, unverschämt von ihr gewesen, ihm die Frage an den Kopf zu werfen.
auf
wieso er so schnell gesehen hatte, dass der junge Mann tot war
kanst du verzichten, wenn dieses die zentralle Frage zuvor war.

Und weil sie das wusste, hatte sie so hektisch reagiert und das Weinglas umgestoßen bei der Beteuerung, dass sie ihn nicht verdächtigen würde.
Alternative zum Überlegen:
Weil sie dieses sogleich erkannte, hatte sie derart reagiert. Sie bedauerte den Kellern, der extra für sie eine saubere Tischdecke auflegen musste.

Heiko war mit deren Mann befreundet und deswegen auch auf der Party gewesen.
Füllsatz! Ist dieser Sachverhalt für deine Geschichte wichtig?

Morgen ziehe ich mir den Rest rein.

Mit einem zweiten Applauso und
liebe Grüße
Ahorn
 

ahorn

Mitglied
Hallo SilberneDelfine,
noch einmal Hochachtung für deine Szene mit Tamara. Ich habe sie mehrmals gelesen und muss sagen, du hast die Szene plastisch und nachvollziehbar geschildert. :)

Nachvollziehbar, aber nicht glaubhaft. :(
Warum? Ich möchte dir meinen Standpunkt erläutern.
Der erste Lapsus ist mehr ein technischer.

Bis zu dem Satz:
»Ich sollte mich schämen«, dachte sie.
Erzählst du aus der Perspektive von Tamara, aber dieser Satz ist aus Erzählerperspektive – sie denkt bereits.
Murmeln, flüstern als inquit (Toll, was man alles von jon lernt :D) wäre passender. Nebenbei, ich halte nicht viel davon, Gedanken in wörtliche Rede zu setzen – hört ja keiner. Der Satz an sich ist wichtig. Eine Handlung könnte diesen gleichfalls unterstreichen.
Sie lehnte sich ans Fenster, hauchte ihren Atem gegen das Glas und malte ein Herz.
Erzeuge Emotionen.

Die fehlenden Emotionen sind der zweite Punkt.
Tamara schämt sich, kann deshalb nicht schlafen, steht auf und geht zum Fenster. Damit distanziert sie sich räumlich von Heiko. Abstand gewinnen. Trotzdem ist sie emotional geladen.
Sie sind drei Monate zusammen. Ihr erster Urlaub. Sie denkt an den Tag, an dem sie ihn kennengelernt hat. Drei Monate, wenn dies nicht Liebe auf den ersten Blick ist? ;)
Aber an was denkt, an was erinnert sie sich?
An die Worte ihrer Freundin. Liebe ist Emotion.
Sinniert sie wirklich über die Worte ihrer Freundin?
Nein! An sein Aftershave, das Glitzern in seinen Augen, sein Lächeln, wie er sie im Tanze wiegte oder an den ersten Kuss.
Denkt diese junge Frau in dieser Situation an seine Arbeit. Export hat nichts Erotisches. Wenn er Bäcker wäre, sie ihn in der Backstube aufgesucht hätte, sie das Kneten des Teiges mit den Liebkosungen seiner Hände vergliche, dann gegebenenfalls.
Genauso wie die Sache mit seiner Telefonnummer. Wo ist die emotionale Beziehung.
All diese Fakten sind wichtig, sonst hättest du sie nicht geschrieben. Bringe diese mit Emotioen zusammen.

Sie schildert sogar, wie er aussieht. Wem erzählt sie dieses? Sich selber. Warum?
Sie braucht sich nur umzudrehen, dann sieht sie ihn.

Bringe die Szene von der kognitiven auf eine emotionale Ebene. Schreibe sie vielleicht zuerst in der ersten Person, stelle dir vor, nein, werde Tamara. Transformiere die wörtliche Rede in eine indirekte Rede. Wenn es dir zusagt, wandels du den Text von der ersten in die dritte Person. Lege beide Texte nebeneinander, entscheide dann, welcher dir besser gefällt.

Ich schau mir in der Zwischenzeit die Ferreira an.

Liebe Grüße
Ahorn
 
Erzählst du aus der Perspektive von Tamara, aber dieser Satz ist aus Erzählerperspektive – sie denkt bereits.
Hallo ahorn,

ich erzähle aus verschiedenen Perspektiven. Multipersonal oder eher auktorial. Heißt, ich kann aus verschiedenen Perspektiven erzählen und auch erzählen, dass sie "dachte". Eigentlich ist nämlich alles aus Erzählerperspektive - auktorial eben. Der Erzähler kann praktisch jedem Protagonisten in den Kopf schauen.

Mehr folgt....

LG SilberneDelfine
 
Zuletzt bearbeitet:
So, weiter im Text :)

Nebenbei, ich halte nicht viel davon, Gedanken in wörtliche Rede zu setzen – hört ja keiner. Der Satz an sich ist wichtig. Eine Handlung könnte diesen gleichfalls unterstreichen.
Sie lehnte sich ans Fenster, hauchte ihren Atem gegen das Glas und malte ein Herz.
Erzeuge Emotionen.
Ist aber nicht mein Stil, so zu schreiben ;) ich finde auch nicht, dass das Emotionen erzeugt. Eine Frau, in den Zwanzigern, die beruflich fest im Leben steht, malt ein Herz gegen das Glas? (Es müsste übrigens dann "auf das Glas" heißen.) Sorry, aber das Herz malen finde ich für Tamara kindisch....würde eher zu einer 16-jährigen passen.

Gedanken muss man nicht (mehr) in wörtliche Rede setzen, das stimmt. Oder doch? Der Duden sagt dazu, dass wörtliche Rede und Gedanken in Anführungszeichen gesetzt werden.

Ich sollte mich schämen, dachte Tamara, hätte ich zwar auch schreiben können. Aber nicht, weil es keiner hört - du hörst es ja auch nicht, wenn sich zwei Personen in einer Geschichte unterhalten.

Nein! An sein Aftershave, das Glitzern in seinen Augen, sein Lächeln, wie er sie im Tanze wiegte oder an den ersten Kuss.
Vielleicht....

Ja, da sind die Emotionen etwas (zu) flach gehalten. Da hast du recht. Ich bin halt eher ein Vernunftmensch, das kommt in meinen Geschichten durch.

Sie schildert sogar, wie er aussieht. Wem erzählt sie dieses? Sich selber. Warum?
Nein, sie erzählt es den Lesern. Letztens wollte ein Leser namens ahorn mehr Inhalt. Ich habe mich bemüht, mehr Informationen zu liefern. Jetzt auch nicht richtig? ;)

Schreibe sie vielleicht zuerst in der ersten Person, stelle dir vor, nein, werde Tamara.
Wenn ich das wollte, hätte ich aus der rein personalen Perspektive geschrieben. Den Rat hast du auch schon anderen gegeben. Ich finde ihn ehrlich gesagt für eine Geschichte, in der mehrere Personen mitspielen, aus deren Sicht erzählt wird, nicht so gut.
Das kann einfach nicht klappen, zu jeder Person zu "werden", wenn auktorial erzählt wird.

Liebe Grüße
SilberneDelfine
 
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ahorn

Mitglied
Hallo SilberneDeflfine

Nein, sie erzählt es den Lesern. Letztens wollte ein Leser namens ahorn mehr Inhalt. Ich habe mich bemüht, mehr Informationen zu liefern. Jetzt auch nicht richtig?
Nie kann man es dem ahorn richigt machen. o_O

Du hast alles richtig gemacht. Du lieferst dem Leser informationen die er nicht hatte. Toll!
Aber - immer dieses aber :mad: - die Szene ist dermassen gut, dass du sie mit zuviel Information kaput machst. Manchmal ist weniger besser. Warum bringst du die Infos nicht an einer anderen Stelle unter. Ich glaube wir werden noch mehr von Tamara hören. Ich wiederhole mich Emotionen.
Deshalb der Tipp mit der ersten Person. In dieser Szene macht es Sinn Tamara zu werden.

Nein, sie erzählt es den Lesern.
Dem Leser? Für Tamara gibt es keinen Leser, es sei denn, du schreibst in der ersten Person.
Für den Erzähles gibt es ein Leser.

Der Duden sagt dazu, dass wörtliche Rede und Gedanken in Anführungszeichen gesetzt werden.
Korrekt! Wenn der Erzähler erzählt. In diesem Fall denkt aber Tamara und sie denkt bereits. Das würde heißen, du springst für einen Satz von Tamara zum Erzähler und zurück.
Kunstgriff, Eigengespräch.
Ich sollte mich schämen, dachte sie sich.
Nebenbei. Ein Herz zu malen ist nicht kindisch, machen sogar achzigjährige.
War nur ein Beispiel. Sie schloß die Augen. Geht geleichsam.

Schieb diesen Kram mit personalen, auktorial, multipersonal Perspektive weg. Welch ein Leser weis das schon. Willst du nicht, wie du es mir geschreiben hast, einfach Freude bereiten.;)

Ich finden deinen Geschichte, deinen Text gut, hol mehr raus, dann wird er sehr gut.

Liebe Grüße
Ahorn
 

jon

Mitglied
Teammitglied
Ich klinke mich mal hier ein, ahorn und SilberneDelfine.

Nein, „diesen Kram mit personalen, auktorial, multipersonal Perspektive" bitte nicht einfach wegschieben(*). Der normale Leser kennt zwar die Begriffe wirklich nicht und wird Perspektiv-Verletzungen auch nicht unbedingt bemerken, aber er wird bei erheblichen Verletzungen stolpern oder zu unaufgeräumte Perspektivmischungen als wirr, unruhig oder laienhaft erzählt empfinden.

Zu diesem Satz mit Tamara: Doch, sie denkt. Das Ganze wird eben nicht von innen oder gar von Tamara erzählt, sondern mit einer Kamera, die auch das Innere sehen kann (aber nicht oft im Bild hat). Das heißt, es ist völlig okay, analog zu „Nö“, sagte Tamara. auch „Das stimmt doch gar nicht“, dachte Tamara. zu schreiben.
Ahorn hat insofern recht, dass sich inzwischen auch ein Stil breitgemacht hat, der sich fast nur noch der Form nach von der Ich-Jetzt-Perspektive unterscheidet - die Kamera sitzt gewissermaßen direkt im Kopf des Point of View und zwar in dem Moment, in dem die Dinge passieren. In diesen Texten ist es durchaus üblich, die Gedanken auch einfach „nackt“ (ohne Inquit-Formal) hinzuschreiben - meist werden sie kursiv markiert, manchmal (vor allem, wenn der Autor nicht sauber zwischen direkten und indirketen Gedanken trennt) nichtmal das. Ich empfinde diese Art zu erzählen als wenig geschmeidig und assoziiere es mit ChickLit, Schmöker-Romance etc.

Zu den Formalien: Ja, Duden sagt, dass auch wörtliche Gedanken in echte Anführungszeichen gehören oder ohne Markierung dastehen. Es hat sich aber eingebürgert, halbe Anführungszeichen zu benutzen oder den wörtlichen Gedanken kursiv zu setzen. Das hat den Vorteil, dass man eben nicht zur Unterscheidung immer dazusagen muss, was gesprochen und was nur gedacht wird. Insbesondere sowas ist dann möglich:
„Was wilst du mit dem Typen?“
,Hat er eben Typ gesagt?‘
„Das ist doch nur eine halbe Protion!“
„Im Gegensatz zu dir?“ Sie musterte demonstrativ Egons knochigen Körper.



* Jedenfalls die Perspektiven nicht - die Fachbegriffe sind nur Kommunikationshilfe. Sie sind zudem ohnehin nur grob - außer der Ich-Perspektive und einem personell erkennbaren, externen Erzähler (der klassische "auktoriale Erzähler") chancieren die (ich nenne sie gern) Kamera-Erzählweisen je nach Nähe und Fokussierung.
Die Kamera kann wie im Film völlig von außen auf die komplette Szene gucken (mit Großaufnahmen und Totalen), kann eine Figur "verfolgen", kann der Figur auf der Schulter sitzen oder in ihrem Kopf … Es kann eine bewegliche Kamera sein, die ihre Entfernung varriiert und z. B. bei reinen Handlungen wie eine Filmkamera nur das optisch Sichtbare zeigt, aber an oder in den Kopf des PoV schaut, wenn dieser gerade sehr emotional wird oder Gedanken wälzt. Diese Kamera kann übrigens auch den PoV ändern (eigentlich ist sie ja der PoV), indem sie z. B. mit Figur A in eine Szene hineingeht, die Szene mit etwas Abstand „filmt“ und mit Figur B die Szene wieder verlässt.
Wichtig bei all dem ist, sich als Autor immer darüber klar zu sein, was die Kamera wahrnimmt. Das heißt nicht nur, dass die Kamera auf der Schulter von A nicht sehen kann, was B hinter der verschlossenen Tür macht, es heißt auch, dass die A-Kamera nicht „wahrnimmt", was A nicht wahrnimmt - sie sieht z. B. nur dann, dass der Himmel wolkenverhangen ist, wenn die Figur A das bemerkt.
Das ist übrigens ein wesentlicher Unterschied zwischen Film und Text: Im Film muss alles vorhanden sein - der Himmel, die Wolken, die Steine auf dem Weg, das Unrkaut am Wegesrand. Im Text ist nur das zu sehen, was für irgendwas relevant ist (die Stimmung, die Wahrnehmung des PoV, die Kulisse in „Kulissen-Texten“ wie z. B. Reisebeschreibungen).



Nachtrag: Zum Thema Perspektiven steht hier was in der LL.
 
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