Ciconia
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Der Mann aus Wladiwostok
(Aktuelle Version)
Ein eiskalter, stechender Novemberwind pfeift durch das Industriegebiet am Stadtrand, in dem ich etwas zu erledigen hatte. Ich trage heute zum ersten Mal in diesem Jahr Mütze und Schal, trotzdem möchte ich beim Warten auf den Bus nicht im Freien stehen.
Der Mann im Buswartehäuschen vor dem kleinen Einkaufscenter wirkt äußerlich unauffällig. Er besetzt raumgreifend den mittleren von drei Metallsitzen, sodass für mich nur ein halber Sitz am Rand übrig bleibt. Das ist schon in Ordnung, der Bus müsste in wenigen Minuten kommen.
„Schöne Mütze haben Sie, so wie meine“, spricht er mich sofort an.
Ich schaue zu ihm und seiner abgegriffenen Pudelmütze hinüber und sehe dann, dass er eine größere, stark ausgebeulte Einkaufstasche zwischen seinen Füßen hält. Er beugt sich näher zu mir her, Zigarettengestank nimmt mir fast den Atem.
„Zugig heute. Zugluft ist schlecht, darf man nicht zwei Fenster auf einmal aufmachen, ist nicht gut.“
Sein Deutsch ist fast fehlerfrei. Nur ein harter Akzent mit stark rollendem „R“ verrät eine Herkunft wahrscheinlich jenseits der russischen Grenze.
„Wussten Sie, dass man kein Leitungswasser trinken darf? Das ist die reinste Kloake, das Wasser geht durch die Toilette und kommt durch den Wasserhahn wieder raus. Alles voller Keime. Das dürfen Sie nur abgekocht trinken. Verstehen Sie, was ich meine?“
Diesen Satz wird er in den nächsten Minuten noch an viele seiner Ausführungen hängen. Ich nicke.
„Woanders gibt’s Wasser kostenlos, in Deutschland muss man für alles zahlen.“
„Wo kommen Sie denn her?“ frage ich, um auch mal etwas zu sagen.
Er überlegt ein paar Sekunden.
„Aus der Türkei!“
Zweifelnd schaue ich ihn an, zum ersten Mal näher. Er muss früher ein gutaussehender Mann gewesen sein. Seine braunen Augen blicken hellwach, sein Lächeln ist sympathisch, ein wenig verschmitzt. Aber die besten Jahre hat er definitiv hinter sich, er wirkt verlebt und seine Kleidung ein wenig abgewetzt.
Er lächelt und kann seine gelben lückenhaften Zähne dabei nicht verbergen.
„Aus der Türkei?“, frage ich ungläubig.
„Ja, ja, Schwarzes Meer, kennen Sie?“
Ich nicke höflich.
„Wissen Sie, wie man in Afrika Wasser findet? Gibt man Affen Salzsteine zum Schlecken, da kriegen die Durst und laufen in den Wald. Und die Eingeborenen hinterher, bis die Affen das Wasser gefunden haben. Versehen Sie, was ich meine?“
Allmählich sehe ich ein, dass es keinen Sinn macht, auf seine Ausführungen einzugehen, und höre schweigend zu. Längere Pausen zum Antworten gibt er mir sowieso nicht.
„Wladiwostok, da komm ich her“, schwadroniert er dann weiter.
Ich bin mir ziemlich sicher, dass Wladiwostok nicht am Schwarzen Meer liegt, lasse das aber unkommentiert. Nicht immer kann ich seinen weitschweifenden Erzählungen folgen. Nun ist er im Kaukasus angekommen. Das passt schon eher zur Türkei, weniger zu Wladiwostok.
„Ich hab zwanzig Jahre bei der Bahn gearbeitet, Züge rangiert und alles Mögliche. Und Hotelmanager war ich auch, Mechaniker, Techniker ... bin überall rumgekommen.“
Er wirkt plötzlich nachdenklich.
„Und was machen Sie dann hier?“
„Jetzt bin ich Rentner.“ Wieder dieses schelmische Lächeln. Seine Geschichten machen ihm offensichtlich selbst am meisten Spaß.
Im Rentenalter ist er bestimmt noch nicht, aber er ist schwer einzuschätzen. Wieder beugt er sich sehr nah zu mir herüber. Jetzt wird mir die Nähe zu viel, ich muss aufstehen, die Beine vertreten.
„Hier ist so langweilig. Keine Disco und so“, spricht er auch aus drei Metern Entfernung weiter auf mich ein.
„Disco? Im Rentenalter?“ Ich drehe mich zu ihm um. Er lächelt gedankenverloren.
„Mein Großvater war Bürgermeister in Hamburg“, startet er die nächste Offensive, „sein Denkmal steht am Gänsemarkt. Jungfernstieg, Gänsemarkt, Hamburg, kennen Sie?"
Ich nicke. Ja, dort steht das Lessing-Denkmal, fällt mir ein.
„Wie hieß der denn?“
„Das verrate ich nicht!“ Triumphierendes Lächeln.
„Der steht da, Gänsemarkt, hat ganz lange Stiefel an, bis hier (er zeigt an die Hüften), Jungfernstieg, Gänsemarkt, Hamburg, müssen Sie mal hinfahren.“
Eine frierende alte Frau kommt zu uns in den Unterstand. Schnell wendet sich der Mann nun ihr zu.
„Schöne braune Augen haben Sie“, sagt er, „wie ich.“
Die Frau schaut etwas verstört.
Langsam biegt der Bus um die Ecke. Fast fünf Minuten Verspätung, wie ich erst jetzt bemerke. War mir gar nicht aufgefallen bei all den Geschichten.
Der Mann aus Wladiwostok will nicht mitfahren. Ich sehe noch, wie er sich eine neue Zigarette dreht. Seine schmutziggrauen Handschuhe sind praktischerweise fingerlos.
Und während der Bus sich in Bewegung setzt, beginne ich zu grübeln, wie das Leben dieses Mannes wirklich verlaufen sein könnte.
(Aktuelle Version)
Ein eiskalter, stechender Novemberwind pfeift durch das Industriegebiet am Stadtrand, in dem ich etwas zu erledigen hatte. Ich trage heute zum ersten Mal in diesem Jahr Mütze und Schal, trotzdem möchte ich beim Warten auf den Bus nicht im Freien stehen.
Der Mann im Buswartehäuschen vor dem kleinen Einkaufscenter wirkt äußerlich unauffällig. Er besetzt raumgreifend den mittleren von drei Metallsitzen, sodass für mich nur ein halber Sitz am Rand übrig bleibt. Das ist schon in Ordnung, der Bus müsste in wenigen Minuten kommen.
„Schöne Mütze haben Sie, so wie meine“, spricht er mich sofort an.
Ich schaue zu ihm und seiner abgegriffenen Pudelmütze hinüber und sehe dann, dass er eine größere, stark ausgebeulte Einkaufstasche zwischen seinen Füßen hält. Er beugt sich näher zu mir her, Zigarettengestank nimmt mir fast den Atem.
„Zugig heute. Zugluft ist schlecht, darf man nicht zwei Fenster auf einmal aufmachen, ist nicht gut.“
Sein Deutsch ist fast fehlerfrei. Nur ein harter Akzent mit stark rollendem „R“ verrät eine Herkunft wahrscheinlich jenseits der russischen Grenze.
„Wussten Sie, dass man kein Leitungswasser trinken darf? Das ist die reinste Kloake, das Wasser geht durch die Toilette und kommt durch den Wasserhahn wieder raus. Alles voller Keime. Das dürfen Sie nur abgekocht trinken. Verstehen Sie, was ich meine?“
Diesen Satz wird er in den nächsten Minuten noch an viele seiner Ausführungen hängen. Ich nicke.
„Woanders gibt’s Wasser kostenlos, in Deutschland muss man für alles zahlen.“
„Wo kommen Sie denn her?“ frage ich, um auch mal etwas zu sagen.
Er überlegt ein paar Sekunden.
„Aus der Türkei!“
Zweifelnd schaue ich ihn an, zum ersten Mal näher. Er muss früher ein gutaussehender Mann gewesen sein. Seine braunen Augen blicken hellwach, sein Lächeln ist sympathisch, ein wenig verschmitzt. Aber die besten Jahre hat er definitiv hinter sich, er wirkt verlebt und seine Kleidung ein wenig abgewetzt.
Er lächelt und kann seine gelben lückenhaften Zähne dabei nicht verbergen.
„Aus der Türkei?“, frage ich ungläubig.
„Ja, ja, Schwarzes Meer, kennen Sie?“
Ich nicke höflich.
„Wissen Sie, wie man in Afrika Wasser findet? Gibt man Affen Salzsteine zum Schlecken, da kriegen die Durst und laufen in den Wald. Und die Eingeborenen hinterher, bis die Affen das Wasser gefunden haben. Versehen Sie, was ich meine?“
Allmählich sehe ich ein, dass es keinen Sinn macht, auf seine Ausführungen einzugehen, und höre schweigend zu. Längere Pausen zum Antworten gibt er mir sowieso nicht.
„Wladiwostok, da komm ich her“, schwadroniert er dann weiter.
Ich bin mir ziemlich sicher, dass Wladiwostok nicht am Schwarzen Meer liegt, lasse das aber unkommentiert. Nicht immer kann ich seinen weitschweifenden Erzählungen folgen. Nun ist er im Kaukasus angekommen. Das passt schon eher zur Türkei, weniger zu Wladiwostok.
„Ich hab zwanzig Jahre bei der Bahn gearbeitet, Züge rangiert und alles Mögliche. Und Hotelmanager war ich auch, Mechaniker, Techniker ... bin überall rumgekommen.“
Er wirkt plötzlich nachdenklich.
„Und was machen Sie dann hier?“
„Jetzt bin ich Rentner.“ Wieder dieses schelmische Lächeln. Seine Geschichten machen ihm offensichtlich selbst am meisten Spaß.
Im Rentenalter ist er bestimmt noch nicht, aber er ist schwer einzuschätzen. Wieder beugt er sich sehr nah zu mir herüber. Jetzt wird mir die Nähe zu viel, ich muss aufstehen, die Beine vertreten.
„Hier ist so langweilig. Keine Disco und so“, spricht er auch aus drei Metern Entfernung weiter auf mich ein.
„Disco? Im Rentenalter?“ Ich drehe mich zu ihm um. Er lächelt gedankenverloren.
„Mein Großvater war Bürgermeister in Hamburg“, startet er die nächste Offensive, „sein Denkmal steht am Gänsemarkt. Jungfernstieg, Gänsemarkt, Hamburg, kennen Sie?"
Ich nicke. Ja, dort steht das Lessing-Denkmal, fällt mir ein.
„Wie hieß der denn?“
„Das verrate ich nicht!“ Triumphierendes Lächeln.
„Der steht da, Gänsemarkt, hat ganz lange Stiefel an, bis hier (er zeigt an die Hüften), Jungfernstieg, Gänsemarkt, Hamburg, müssen Sie mal hinfahren.“
Eine frierende alte Frau kommt zu uns in den Unterstand. Schnell wendet sich der Mann nun ihr zu.
„Schöne braune Augen haben Sie“, sagt er, „wie ich.“
Die Frau schaut etwas verstört.
Langsam biegt der Bus um die Ecke. Fast fünf Minuten Verspätung, wie ich erst jetzt bemerke. War mir gar nicht aufgefallen bei all den Geschichten.
Der Mann aus Wladiwostok will nicht mitfahren. Ich sehe noch, wie er sich eine neue Zigarette dreht. Seine schmutziggrauen Handschuhe sind praktischerweise fingerlos.
Und während der Bus sich in Bewegung setzt, beginne ich zu grübeln, wie das Leben dieses Mannes wirklich verlaufen sein könnte.
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