Ciconia
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Die Geschichte mit der Hypotenuse
(Aktuelle Version)
Siebzig Kilometer Landstraße und ein lästiger Termin liegen vor mir, als ich am späten Vormittag übelgelaunt in mein kleines rotes Auto steige. Erst mal suche ich im Radio nach „Oldies but Goodies“, die sind immer gut fürs Gemüt.
Ein paar Sekunden bin ich abgelenkt gewesen. Beim nächsten Blick in den Rückspiegel zucke ich zusammen. Direkt hinter mir sitzen zwei lebhaft gestikulierende junge Burschen mit Baseballkappen. Nein, nicht auf dem Rücksitz. Aber das nachfolgende Auto hält einen so geringen Abstand, dass ich die Milchgesichter der beiden sehr gut erkennen kann. Die jungen Kerle fahren einen ramponierten Kleintransporter mit offener Ladefläche. Strauchgut schwankt gefährlich über die Fahrerkabine. Der Beifahrer hat die Füße auf das Armaturenbrett gelegt, er stopft sich gerade etwas in den Mund, das nach einem sehr dicken Wurstbrot aussieht. Sein hyperaktiver Chauffeur hängt so nah an der Windschutzscheibe, als wolle er mich anschieben. Zappelnd setzt er immer wieder zum Überholen an, jedoch hindern ihn Kurven, Überholverbote, geschlossene Ortschaften und entgegenkommende Fahrzeuge daran. Fast eine Viertelstunde lang steckt er hinter dem kleinen roten Auto fest.
Korrekterweise möchte ich anmerken, dass ich in Situationen, in denen ich mich durch andere Verkehrsteilnehmer genötigt fühle, zur strikten Einhaltung aller Verkehrsregeln neige, mich nicht einschüchtern lasse und in Ausnahmefällen sogar etwas unterhalb der erlaubten Höchstgeschwindigkeit bleibe. Seitdem ich nicht mehr jeden Morgen dem Geld hinterherfahren muss, sondern ein großzügig bemessenes regelmäßiges Monatseinkommen aus der Hauptstadt beziehe, hetzt mich niemand mehr.
Offensichtlich sind die Verfolger mit meiner Fahrweise überhaupt nicht einverstanden. Gestik und Mimik lassen auf Äußerungen wie: „Die Olle schieben wir jetzt von der Straße!“ schließen. Derweil lausche ich hingebungsvoll John Denvers „Country roads“, die mich an sehr schöne alte Zeiten erinnern.
Etwa nach der Hälfte der Strecke kommt eine Ampelanlage in Sicht. Hier muss ich rechts auf eine querende Vorfahrtsstraße abbiegen. Ich kenne die Straßenführung seit Jahren gut, vermute aber stark, dass auch die Burschen nicht ortsfremd sind. Kurz vor der Kreuzung führt eine schmale Zufahrt im spitzen Winkel nach rechts zu einem Rastplatz, der wiederum auf der gegenüberliegenden Seite in die Vorfahrtsstraße einmündet. Nicht schwer zu ahnen, was jetzt kommen wird.
Natürlich enttäuschen mich die Pfiffikusse nicht, sie biegen wie erwartet mit einem halsbrecherischen Manöver auf den Rastplatz ab. Im selben Augenblick erkenne ich die Gunst der Stunde: Die Ampel an der Kreuzung ist an diesem Tag außer Betrieb, von links scheint niemand zu kommen. Wagemutig ziehe ich mein Auto mit quietschenden Reifen um die Ecke, trete das Gaspedal voll durch und komme zeitgleich mit dem Pick-up an der Ausfahrt des Rastplatzes an. Pech nur für die beiden, dass sie im letzten Moment ihre rasante Fahrt durch eine Vollbremsung beenden müssen, um sich und andere nicht zu gefährden – denn das kleine rote Auto hat natürlich Vorfahrt. So weit hatten die Smarties wohl nicht gedacht. Freundlich lächelnd rausche ich vorbei und ignoriere ein kräftiges Zucken im rechten Mittelfinger.
Der Fahrer liegt über dem Lenkrad, als wolle er sich dort festbeißen, den Beifahrer kann ich nicht mehr sehen. Wahrscheinlich bückt er sich gerade nach seiner Trinkflasche, die er kurz vor dem Abbiegen noch in der Hand hielt. Auf der Ladefläche des Kleintransporters ist das Grünzeug in bedenkliche Schräglage geraten. Doppeltes Pech für die Jungs: Ein weiteres Auto hat sich hinter meines gesetzt, auch ihm müssen sie Vorfahrt gewähren. Wo das plötzlich hergekommen ist, erschließt sich mir wirklich nicht. Ich kann doch meine Augen nicht überall haben!
Zufrieden genieße ich die Weiterfahrt in einem gemütlichen Tempo und beobachte im Rückspiegel, wie die beiden Rüpel nun meinen Hintermann bedrängen. Im Radio läuft das letzte Stück von „Oldies but Goodies“. Für den Rest des Tages bin ich äußerst gut gelaunt, auch mein Termin endet längst nicht so unangenehm wie befürchtet. Der Rückweg am Nachmittag verläuft dann erstaunlicherweise ohne besondere Vorkommnisse.
Abends muss ich allerdings eine Sache nachschlagen, die mich seit dem Manöver am Mittag beschäftigt. Mathematik gehörte zwar nie zu meinen Lieblingsfächern, doch der simple Satz des Pythagoras ist selbst mir in Erinnerung geblieben sind: a-Quadrat plus b-Quadrat gleich c-Quadrat. Folglich (und hier bestätigt mich Wikipedia) könnte man sich die beiden Landstraßen als zwei Seiten, also Katheten, eines rechtwinkligen Dreiecks vorstellen, sodass die Strecke über den Rastplatz die Hypotenuse ergibt.
Also müsste nach meiner Berechnung die Summe
der Seitenlänge a gleich Strecke auf der bisher befahrenen Landstraße
plus der Seitenlänge b gleich Strecke auf der Vorfahrtsstraße bis zur Rastplatzausfahrt
theoretisch länger sein als die Hypotenuse c gleich Strecke über den Rastplatz.
Irgendwie scheint es mir heute gelungen zu sein, dieses Prinzip auszuhebeln. Ob Pythagoras irrte? Oder reicht hier etwa die einfache Geometrie gar nicht und man müsste dreidimensional rechnen? Vielleicht mit Vektorieller Analytischer Geometrie, dem Albtraum meiner letzten Schuljahre? Na ja, egal. Wichtig ist doch, dass ich de facto schneller war als die zwei Halbstarken.
Und noch eine Erklärung finde ich bei Wikipedia:
„Schadenfreude scheint eine dominante Rolle beim Erhalt von Gerechtigkeit und der Bestrafung von Normverstößen in menschlichen Gesellschaften zu spielen. …
Es werden geschlechterspezifische Unterschiede in Entstehung und Motivation angenommen.“
Ach! Hätte denn ein Mann in dieser Situation anders empfunden?
(Aktuelle Version)
Siebzig Kilometer Landstraße und ein lästiger Termin liegen vor mir, als ich am späten Vormittag übelgelaunt in mein kleines rotes Auto steige. Erst mal suche ich im Radio nach „Oldies but Goodies“, die sind immer gut fürs Gemüt.
Ein paar Sekunden bin ich abgelenkt gewesen. Beim nächsten Blick in den Rückspiegel zucke ich zusammen. Direkt hinter mir sitzen zwei lebhaft gestikulierende junge Burschen mit Baseballkappen. Nein, nicht auf dem Rücksitz. Aber das nachfolgende Auto hält einen so geringen Abstand, dass ich die Milchgesichter der beiden sehr gut erkennen kann. Die jungen Kerle fahren einen ramponierten Kleintransporter mit offener Ladefläche. Strauchgut schwankt gefährlich über die Fahrerkabine. Der Beifahrer hat die Füße auf das Armaturenbrett gelegt, er stopft sich gerade etwas in den Mund, das nach einem sehr dicken Wurstbrot aussieht. Sein hyperaktiver Chauffeur hängt so nah an der Windschutzscheibe, als wolle er mich anschieben. Zappelnd setzt er immer wieder zum Überholen an, jedoch hindern ihn Kurven, Überholverbote, geschlossene Ortschaften und entgegenkommende Fahrzeuge daran. Fast eine Viertelstunde lang steckt er hinter dem kleinen roten Auto fest.
Korrekterweise möchte ich anmerken, dass ich in Situationen, in denen ich mich durch andere Verkehrsteilnehmer genötigt fühle, zur strikten Einhaltung aller Verkehrsregeln neige, mich nicht einschüchtern lasse und in Ausnahmefällen sogar etwas unterhalb der erlaubten Höchstgeschwindigkeit bleibe. Seitdem ich nicht mehr jeden Morgen dem Geld hinterherfahren muss, sondern ein großzügig bemessenes regelmäßiges Monatseinkommen aus der Hauptstadt beziehe, hetzt mich niemand mehr.
Offensichtlich sind die Verfolger mit meiner Fahrweise überhaupt nicht einverstanden. Gestik und Mimik lassen auf Äußerungen wie: „Die Olle schieben wir jetzt von der Straße!“ schließen. Derweil lausche ich hingebungsvoll John Denvers „Country roads“, die mich an sehr schöne alte Zeiten erinnern.
Etwa nach der Hälfte der Strecke kommt eine Ampelanlage in Sicht. Hier muss ich rechts auf eine querende Vorfahrtsstraße abbiegen. Ich kenne die Straßenführung seit Jahren gut, vermute aber stark, dass auch die Burschen nicht ortsfremd sind. Kurz vor der Kreuzung führt eine schmale Zufahrt im spitzen Winkel nach rechts zu einem Rastplatz, der wiederum auf der gegenüberliegenden Seite in die Vorfahrtsstraße einmündet. Nicht schwer zu ahnen, was jetzt kommen wird.
Natürlich enttäuschen mich die Pfiffikusse nicht, sie biegen wie erwartet mit einem halsbrecherischen Manöver auf den Rastplatz ab. Im selben Augenblick erkenne ich die Gunst der Stunde: Die Ampel an der Kreuzung ist an diesem Tag außer Betrieb, von links scheint niemand zu kommen. Wagemutig ziehe ich mein Auto mit quietschenden Reifen um die Ecke, trete das Gaspedal voll durch und komme zeitgleich mit dem Pick-up an der Ausfahrt des Rastplatzes an. Pech nur für die beiden, dass sie im letzten Moment ihre rasante Fahrt durch eine Vollbremsung beenden müssen, um sich und andere nicht zu gefährden – denn das kleine rote Auto hat natürlich Vorfahrt. So weit hatten die Smarties wohl nicht gedacht. Freundlich lächelnd rausche ich vorbei und ignoriere ein kräftiges Zucken im rechten Mittelfinger.
Der Fahrer liegt über dem Lenkrad, als wolle er sich dort festbeißen, den Beifahrer kann ich nicht mehr sehen. Wahrscheinlich bückt er sich gerade nach seiner Trinkflasche, die er kurz vor dem Abbiegen noch in der Hand hielt. Auf der Ladefläche des Kleintransporters ist das Grünzeug in bedenkliche Schräglage geraten. Doppeltes Pech für die Jungs: Ein weiteres Auto hat sich hinter meines gesetzt, auch ihm müssen sie Vorfahrt gewähren. Wo das plötzlich hergekommen ist, erschließt sich mir wirklich nicht. Ich kann doch meine Augen nicht überall haben!
Zufrieden genieße ich die Weiterfahrt in einem gemütlichen Tempo und beobachte im Rückspiegel, wie die beiden Rüpel nun meinen Hintermann bedrängen. Im Radio läuft das letzte Stück von „Oldies but Goodies“. Für den Rest des Tages bin ich äußerst gut gelaunt, auch mein Termin endet längst nicht so unangenehm wie befürchtet. Der Rückweg am Nachmittag verläuft dann erstaunlicherweise ohne besondere Vorkommnisse.
Abends muss ich allerdings eine Sache nachschlagen, die mich seit dem Manöver am Mittag beschäftigt. Mathematik gehörte zwar nie zu meinen Lieblingsfächern, doch der simple Satz des Pythagoras ist selbst mir in Erinnerung geblieben sind: a-Quadrat plus b-Quadrat gleich c-Quadrat. Folglich (und hier bestätigt mich Wikipedia) könnte man sich die beiden Landstraßen als zwei Seiten, also Katheten, eines rechtwinkligen Dreiecks vorstellen, sodass die Strecke über den Rastplatz die Hypotenuse ergibt.
Also müsste nach meiner Berechnung die Summe
der Seitenlänge a gleich Strecke auf der bisher befahrenen Landstraße
plus der Seitenlänge b gleich Strecke auf der Vorfahrtsstraße bis zur Rastplatzausfahrt
theoretisch länger sein als die Hypotenuse c gleich Strecke über den Rastplatz.
Irgendwie scheint es mir heute gelungen zu sein, dieses Prinzip auszuhebeln. Ob Pythagoras irrte? Oder reicht hier etwa die einfache Geometrie gar nicht und man müsste dreidimensional rechnen? Vielleicht mit Vektorieller Analytischer Geometrie, dem Albtraum meiner letzten Schuljahre? Na ja, egal. Wichtig ist doch, dass ich de facto schneller war als die zwei Halbstarken.
Und noch eine Erklärung finde ich bei Wikipedia:
„Schadenfreude scheint eine dominante Rolle beim Erhalt von Gerechtigkeit und der Bestrafung von Normverstößen in menschlichen Gesellschaften zu spielen. …
Es werden geschlechterspezifische Unterschiede in Entstehung und Motivation angenommen.“
Ach! Hätte denn ein Mann in dieser Situation anders empfunden?
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