Ciconia
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Die Tagesklinik von Dr. psych. Ronald Erbenreiter lag inmitten eines größeren Industriegebietes am Stadtrand. Grünes gab es rundherum sehr wenig, sah man vom verschmutzten Straßenbegleitgrün ab. Die Patienten der Klinik störte das nicht. Ihr Blick für die Natur war ihnen schon vor langer Zeit abhanden gekommen. Aber manchmal schrieben sie noch darüber. Denn Schreiben war ihr Leben.
Der Zulauf war größer gewesen als von Dr. Erbenreiter erwartet. Seine Stammtischbrüder, die vor gut zwanzig Jahren jede Wette eingegangen wären, dass diese Idee nicht durchführbar sein würde, waren mittlerweile verstummt. Einige sogar für immer.
Dabei war der Aufwand für Dr. Erbenreiter minimal gewesen: Ein Trockenbauer hatte eine von Erbenreiter günstig ersteigerte alte Fabrikhalle innerhalb weniger Tage in genau hundert apfelgrüne Parzellen von je vier Quadratmetern aufgeteilt. Der Psychologe nannte Grün die Farbe der Natur, Harmonie und Natürlichkeit. Sie entstresse, beruhige und entspanne.
Dazu kamen drei Toiletten, ein Drucker- und Server-Raum sowie ein größerer Gemeinschaftsraum. Die Kabelverlegung stellte sich als größte Investition heraus. Das Internet steckte noch in den Kinderschuhen und war für private Anwender kaum verfügbar.
Die Kabinen wurden mit PCs der allerersten Generation ausgestattet, die Erbenreiter günstig aus einer Firmenauflösung ergattert hatte. Für die Kabine, in der sich ein billiger Stuhl und ein ebensolcher kleiner Schreibtisch befanden, wie auch deren Reinigung und die WC-Benutzung wurde eine monatliche Pauschale von DM 70,00 erhoben.
Wer ein klares Krankheitsbild wie Burnout, Depressionen oder auch nur vorübergehende Behinderungen nachwies, konnte sich DM 40,-- von der Krankenkasse erstatten lassen. Schreiben war neuerdings als Therapie anerkannt. Dafür hatte auch der einflussreiche Erbenreiter, Betreiber einer florierenden Praxis für Psychotherapie und Vorsitzender der kassenärztlichen Vereinigung eines norddeutschen Bundeslandes, gesorgt.
Personal gab es außer dem Verwalter-Ehepaar, das auch für einige andere Betriebe in der Umgebung tätig war, nicht. Frau Schmocker übernahm stundenweise die Rezeption und leistete Reinigungsarbeiten. Wenn Herr Schmocker, ein Allround-Handwerker mit rudimentären EDV-Kenntnissen, morgens um 7:00 Uhr die Halle aufschloss, harrten schon die ersten fünf bis zehn Patienten, überwiegend Rentner, auf Einlass. Manche blieben bis zum Betriebsschluss um 22:00 Uhr. Berufstätige kamen oft erst am späten Nachmittag nach Feierabend oder für eine kurze Mittagspause. Man konnte kommen und gehen wann und so oft man wollte. Es kam manchmal auch vor, dass sich Patienten über Nacht einschließen ließen, wenn sie über längeren Werken brüteten.
Und nichts Anderes wollten seine Patienten: Schreiben, schreiben, schreiben. Erbenreiter hatte lange gegrübelt, wie er den Austausch der Werke untereinander regeln könnte, aber bald gemerkt, dass kaum jemand Lust verspürte, Mitpatienten kennenzulernen. Man wollte nur ungestört schreiben können, unbehelligt von lästigen Ehepartnern, Kindern oder Nachbarn.
Aber Erbenreiter war nicht nur ein guter Psychotherapeut, sondern auch ein überaus cleverer Geschäftsmann. Als er nach wenigen Jahren feststellen musste, dass die Patientenzahlen zurückgingen, sei es wegen natürlichen Ablebens oder, in selteneren Fällen, weil man den Spaß am Schreiben unerklärlicherweise doch verloren hatte, suchte er nach einem neuen Geschäftsfeld.
Im Bekanntenkreis traf er auf Tom, einen jungen Mann, der nach einem Psychologiestudium seit sieben Jahren an seiner Diplomarbeit bastelte und bei der Auswahl verschiedener Themen bisher keine glückliche Hand bewiesen hatte. Zusammen mit seinem Freund Kevin, einem Informatikstudenten, erstellte Tom in kürzester Zeit ein Konzept, das Erbenreiter sofort überzeugte. Die Zauberformel hieß „Mehr Wettbewerb!“. Erbenreiter, der zwar einiges von Psychologie, aber wenig von Technik verstand, ließ die zwei jungen Männer gewähren.
In einer kurzen „Betriebspause“ von zwei Wochen schuf Kevin ein Intranet, das alle Rechner der Klinik miteinander verband. Somit konnten nun jeder alle Werke der anderen Autoren einsehen. Doch dies war nur der erste Schritt.
Im zweiten Schritt schrieb Tom Wettbewerbe aus. Die anfänglichen Bereiche Lyrik und Prosa wurden ständig weiter unterteilt, sodass sich wirklich jeder ein für ihn passendes Genre auswählen konnte. Werke wurden untereinander bewertet. Die Freude am Schreiben zog merklich an, man traf sich jetzt sogar häufig im früher gemiedenen Gemeinschaftsraum, debattierte miteinander und schloss Freundschaften. Allerdings gab es jetzt vereinzelt auch Missgunst und Neid auf die besser bewerteten Mitstreiter.
Was Erbenreiter noch mehr freute, waren die steigenden Zahlen der Neuanmeldungen, denn der Ruf der Tagesklinik verbesserte sich allein durch Mundpropaganda ständig. Irgendwann gab es dann sogar Wartezeiten. Und so kam der Tag, an dem Erbenreiter tatsächlich überlegte, die Klinik zu erweitern. Er ließ sich Kostenvoranschläge unterbreiten, rechnete hin und her, zögerte aufgrund seines Alters aber lange Zeit, noch einmal etwas Neues zu wagen. Oft saß er mit Tom zusammen, und beide erkannten schnell, dass die Altersstruktur zu sehr in Schieflage geraten war – die Patienten bestanden jetzt fast ausschließlich aus Rentnern.
Es müsse schleunigst eine neue, jüngere Zielgruppe gefunden werden, meinte Tom, und Erbenreiter stimmte ihm zu. Aber wie?
Das Internet hatte sich in den vergangenen Jahren ausgebreitet, man konnte nun auch on-line Nachrichten tauschen, ohne das Haus verlassen zu müssen. Wie wäre es, meinte Tom, wenn die physische Anwesenheit neuer Mitglieder gar nicht mehr nötig sei, sondern diese von überall her Zugang auf das Netzwerk der Klinik hätten? Jüngere Leute brauchten meistens keinen ruhigen Rückzugsort, sie würden überall schreiben und lesen. Bei einem für alle Parteien zufriedenstellenden Monatsobolus wäre dies durchaus zum Vorteil von Erbenreiter, ohne dass er weiter investieren müsste.
Und so geschah es. Kevin und zwei weitere EDV-Fachleute erarbeiteten die technischen Voraussetzungen, ein wenig Werbung wurde auch gemacht, und schon liefen junge Autoren Erbenreiter die Bude ein. Statt langweiliger Reimgedichte wurden jetzt auch Rap-Songs und experimentelle Unverständlichkeiten eingestellt und die Wertungen farbenfroh gestaltet. Bestehende Freundschaften unter den Alten vertieften sich, die Kommentare unter den Jüngeren klangen flapsiger – und letztlich schien für fast alle etwas dabei zu sein.
Nur ein knappes Dutzend Alte der ersten Generation, allesamt Kassenpatienten, blieben übrig im Klinikgebäude mit den grünen Räumen. Und wenn sie mittlerweile nicht gestorben sind, dann schreiben und dichten sie dort noch heute.
Der Zulauf war größer gewesen als von Dr. Erbenreiter erwartet. Seine Stammtischbrüder, die vor gut zwanzig Jahren jede Wette eingegangen wären, dass diese Idee nicht durchführbar sein würde, waren mittlerweile verstummt. Einige sogar für immer.
Dabei war der Aufwand für Dr. Erbenreiter minimal gewesen: Ein Trockenbauer hatte eine von Erbenreiter günstig ersteigerte alte Fabrikhalle innerhalb weniger Tage in genau hundert apfelgrüne Parzellen von je vier Quadratmetern aufgeteilt. Der Psychologe nannte Grün die Farbe der Natur, Harmonie und Natürlichkeit. Sie entstresse, beruhige und entspanne.
Dazu kamen drei Toiletten, ein Drucker- und Server-Raum sowie ein größerer Gemeinschaftsraum. Die Kabelverlegung stellte sich als größte Investition heraus. Das Internet steckte noch in den Kinderschuhen und war für private Anwender kaum verfügbar.
Die Kabinen wurden mit PCs der allerersten Generation ausgestattet, die Erbenreiter günstig aus einer Firmenauflösung ergattert hatte. Für die Kabine, in der sich ein billiger Stuhl und ein ebensolcher kleiner Schreibtisch befanden, wie auch deren Reinigung und die WC-Benutzung wurde eine monatliche Pauschale von DM 70,00 erhoben.
Wer ein klares Krankheitsbild wie Burnout, Depressionen oder auch nur vorübergehende Behinderungen nachwies, konnte sich DM 40,-- von der Krankenkasse erstatten lassen. Schreiben war neuerdings als Therapie anerkannt. Dafür hatte auch der einflussreiche Erbenreiter, Betreiber einer florierenden Praxis für Psychotherapie und Vorsitzender der kassenärztlichen Vereinigung eines norddeutschen Bundeslandes, gesorgt.
Personal gab es außer dem Verwalter-Ehepaar, das auch für einige andere Betriebe in der Umgebung tätig war, nicht. Frau Schmocker übernahm stundenweise die Rezeption und leistete Reinigungsarbeiten. Wenn Herr Schmocker, ein Allround-Handwerker mit rudimentären EDV-Kenntnissen, morgens um 7:00 Uhr die Halle aufschloss, harrten schon die ersten fünf bis zehn Patienten, überwiegend Rentner, auf Einlass. Manche blieben bis zum Betriebsschluss um 22:00 Uhr. Berufstätige kamen oft erst am späten Nachmittag nach Feierabend oder für eine kurze Mittagspause. Man konnte kommen und gehen wann und so oft man wollte. Es kam manchmal auch vor, dass sich Patienten über Nacht einschließen ließen, wenn sie über längeren Werken brüteten.
Und nichts Anderes wollten seine Patienten: Schreiben, schreiben, schreiben. Erbenreiter hatte lange gegrübelt, wie er den Austausch der Werke untereinander regeln könnte, aber bald gemerkt, dass kaum jemand Lust verspürte, Mitpatienten kennenzulernen. Man wollte nur ungestört schreiben können, unbehelligt von lästigen Ehepartnern, Kindern oder Nachbarn.
Aber Erbenreiter war nicht nur ein guter Psychotherapeut, sondern auch ein überaus cleverer Geschäftsmann. Als er nach wenigen Jahren feststellen musste, dass die Patientenzahlen zurückgingen, sei es wegen natürlichen Ablebens oder, in selteneren Fällen, weil man den Spaß am Schreiben unerklärlicherweise doch verloren hatte, suchte er nach einem neuen Geschäftsfeld.
Im Bekanntenkreis traf er auf Tom, einen jungen Mann, der nach einem Psychologiestudium seit sieben Jahren an seiner Diplomarbeit bastelte und bei der Auswahl verschiedener Themen bisher keine glückliche Hand bewiesen hatte. Zusammen mit seinem Freund Kevin, einem Informatikstudenten, erstellte Tom in kürzester Zeit ein Konzept, das Erbenreiter sofort überzeugte. Die Zauberformel hieß „Mehr Wettbewerb!“. Erbenreiter, der zwar einiges von Psychologie, aber wenig von Technik verstand, ließ die zwei jungen Männer gewähren.
In einer kurzen „Betriebspause“ von zwei Wochen schuf Kevin ein Intranet, das alle Rechner der Klinik miteinander verband. Somit konnten nun jeder alle Werke der anderen Autoren einsehen. Doch dies war nur der erste Schritt.
Im zweiten Schritt schrieb Tom Wettbewerbe aus. Die anfänglichen Bereiche Lyrik und Prosa wurden ständig weiter unterteilt, sodass sich wirklich jeder ein für ihn passendes Genre auswählen konnte. Werke wurden untereinander bewertet. Die Freude am Schreiben zog merklich an, man traf sich jetzt sogar häufig im früher gemiedenen Gemeinschaftsraum, debattierte miteinander und schloss Freundschaften. Allerdings gab es jetzt vereinzelt auch Missgunst und Neid auf die besser bewerteten Mitstreiter.
Was Erbenreiter noch mehr freute, waren die steigenden Zahlen der Neuanmeldungen, denn der Ruf der Tagesklinik verbesserte sich allein durch Mundpropaganda ständig. Irgendwann gab es dann sogar Wartezeiten. Und so kam der Tag, an dem Erbenreiter tatsächlich überlegte, die Klinik zu erweitern. Er ließ sich Kostenvoranschläge unterbreiten, rechnete hin und her, zögerte aufgrund seines Alters aber lange Zeit, noch einmal etwas Neues zu wagen. Oft saß er mit Tom zusammen, und beide erkannten schnell, dass die Altersstruktur zu sehr in Schieflage geraten war – die Patienten bestanden jetzt fast ausschließlich aus Rentnern.
Es müsse schleunigst eine neue, jüngere Zielgruppe gefunden werden, meinte Tom, und Erbenreiter stimmte ihm zu. Aber wie?
Das Internet hatte sich in den vergangenen Jahren ausgebreitet, man konnte nun auch on-line Nachrichten tauschen, ohne das Haus verlassen zu müssen. Wie wäre es, meinte Tom, wenn die physische Anwesenheit neuer Mitglieder gar nicht mehr nötig sei, sondern diese von überall her Zugang auf das Netzwerk der Klinik hätten? Jüngere Leute brauchten meistens keinen ruhigen Rückzugsort, sie würden überall schreiben und lesen. Bei einem für alle Parteien zufriedenstellenden Monatsobolus wäre dies durchaus zum Vorteil von Erbenreiter, ohne dass er weiter investieren müsste.
Und so geschah es. Kevin und zwei weitere EDV-Fachleute erarbeiteten die technischen Voraussetzungen, ein wenig Werbung wurde auch gemacht, und schon liefen junge Autoren Erbenreiter die Bude ein. Statt langweiliger Reimgedichte wurden jetzt auch Rap-Songs und experimentelle Unverständlichkeiten eingestellt und die Wertungen farbenfroh gestaltet. Bestehende Freundschaften unter den Alten vertieften sich, die Kommentare unter den Jüngeren klangen flapsiger – und letztlich schien für fast alle etwas dabei zu sein.
Nur ein knappes Dutzend Alte der ersten Generation, allesamt Kassenpatienten, blieben übrig im Klinikgebäude mit den grünen Räumen. Und wenn sie mittlerweile nicht gestorben sind, dann schreiben und dichten sie dort noch heute.
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