Ciconia
Mitglied
Am Genueser Flughafen rollte mein Koffer als einer der ersten vom Band. Wenige Minuten später bestieg ich den Zug nach Rapallo. Von dort würde mich ein Taxi an mein Ziel bringen.
Die frühherbstliche Landschaft rauschte vorbei, ohne dass ich viel davon wahrnahm. Ich ging noch einmal meine selbst auferlegte Mission durch. Mein Mann hatte mein Vorhaben als völlig verrückt eingestuft, mich aber nicht daran hindern können. Was bewog mich also zu dieser Kurzreise?
Nach dem Tod meiner Tante Clara, der Schwester meiner Mutter, fand ich zahlreiche Kurzgeschichten, die sie in ihren letzten Jahren - nach dem Umzug aus Berlin zurück in unser norddeutsches Lauenbek - geschrieben hatte, überwiegend Reisegeschichten, speziell aus Italien. Dazu gab es das Foto eines gutaussehenden jungen Mannes namens Rico aus Portofino mit einer Widmung aus dem Jahre 1967. Vor allem aber gab es die kryptische Aussage der Tante, dass sie eine Tochter namens Ricarda (1968 geboren wie ich) gleich nach der Geburt zur Adoption freigegeben hatte. Leider war es mir vor ihrem überraschenden Tod nicht mehr vergönnt gewesen, nähere Einzelheiten zu erfahren, doch vermutete ich einen Zusammenhang zwischen den Namen Rico und Ricarda. Clara war mir zum Schluss sehr ans Herz gewachsen; ich wollte ihr letztes Rätsel unbedingt lösen. Nachdem mir das Lesen ihrer Geschichten immerhin einen kleinen Hinweis gegeben hatte, entschloss ich mich für eine Recherche vor Ort.
Im Internet war ich auf der Suche nach Hotels in Portofino dank Claras Beschreibungen sehr schnell fündig geworden. Das Hotel Sarasoni gab es tatsächlich immer noch, der Inhaber damals wie heute: Enrico Sarasoni. Ich buchte ein Zimmer für zwei Nächte.
Mittlerweile dämmerte es, als ich klopfenden Herzens die Hotelhalle betrat. Das Haus gefiel mir, nicht zu modern, aber keineswegs mehr so verschlafen und plüschig wie von Clara beschrieben. Man sprach Deutsch, und so brauchte ich nicht meine miserablen Italienisch-Kenntnisse bemühen. Der nächste Tag würde aufregend werden, deshalb unternahm ich an diesem Abend nichts mehr.
Am nächsten Morgen war der Frühstückssaal nur zur Hälfte besetzt, die Hauptsaison sicher längst vorbei. Ich hatte die erste Tasse Kaffee noch nicht ausgetrunken, als ich einen gutaussehenden Mann mittleren Alters grüßend durch die Reihen schreiten sah, der mich zum ersten Mal an diesem Tag aus der Fassung brachte. Sein freundliches „Buon giorno, signora“ konnte ich nur mit einem vor Aufregung leise gekrächzten „Buon giorno“ erwidern: Er war dem Rico auf Claras Foto wie aus dem Gesicht geschnitten. Meine Gedanken rotierten. Wie sollte ich vorgehen, ohne Porzellan zu zerschlagen?
Die Rezeptionistin zuckte nicht mit der Wimper, sondern stellte nur eine Frage, als ich darum bat, Signor Sarasoni in einer privaten Angelegenheit sprechen zu dürfen. „Den Junior oder den Senior?“ Im selben Moment wurde mir die Entscheidung abgenommen. Der gutaussehende Mann aus dem Frühstücksraum, offensichtlich Sarasoni junior, bog mit einem freundlichen Lächeln um die Ecke.
„Wie kann ich Ihnen helfen, Signora?“, fragte er in fast akzeptfreiem Deutsch.
„Das ist eine längere Geschichte. Hätten Sie vielleicht ein paar Minuten Zeit?“
Kleine Schweißperlen bildeten sich auf meiner Stirn, mein Herz klopfte bis zum Hals. Er blieb verbindlich und schleuste mich in einen kleinen Nebenraum.
Ich lehnte den angebotenen Kaffee ab, kam schnell zur Sache. Aus meiner Handtasche zog ich vorsichtig das Foto von Claras Rico und legte es auf den Tisch. Ich passte auf, dass er die Widmung auf der Rückseite nicht lesen konnte.
„Ich suche eigentlich diesen Mann.“
Enrico junior stutzte einen Augenblick, dann begann er schallend zu lachen.
„Oh, mio Dio, im ersten Moment habe ich geglaubt, das sei ich … Aber ich denke mal, das ist ein Jugendfoto meines Vaters. Was hat er denn angestellt?“
Nun wurde auch ich ein wenig lockerer. Bedacht um jedes Wort begann ich zu erzählen, dass ich dieses Foto im Nachlass meiner Tante Clara gefunden hatte und sie ihn gut gekannt haben musste. Und weil mich das Schicksal meiner Tante sehr berührte …
Enrico junior erlöste mich und bewahrte mich vor weiteren unklugen Sätzen.
„Signora – wie war gleich der Name?“
„Oh, Entschuldigung, Signor Sarasoni, ich hab mich vor lauter Aufregung gar nicht vorgestellt. Ich bin Jutta Ahrens aus Hamburg.“
„Gut, Signora Ahrens, dann reiche ich Sie mal an meinen Vater weiter. Sehen Sie den älteren Herrn dort draußen auf der Terrasse? Das ist Enrico senior. Der wird Ihnen vielleicht etwas über Ihre Tante Clara sagen können.“
Er schmunzelte immer noch belustigt und führte mich hinaus in den Garten. Mir wurden die Knie weich.
Er wechselte einige schnelle Worte auf Italienisch mit seinem Vater, von denen ich nur „Amburgo“ verstand. Der Ältere sah sich erstaunt um, erhob sich und reichte mir die Hand.
„Enrico Sarasoni“, stellte er sich mit sonorer Stimme vor. Ich hätte ihn trotz seines Alters sofort erkannt. Sein Lächeln war genauso charmant wie auf dem alten Foto. Er gefiel mir sehr, dieser elegante alte Herr, der jetzt Ende siebzig sein musste. Wie hätte er Clara heute gefallen?
Er forderte mich auf, mich zu ihm zu setzen. Ich entschuldigte mich für die Störung und fragte dann nach kurzem Zögern, ob er sich an Clara erinnerte, Clara aus Berlin, die in den Sechzigerjahren mehrere Male in Portofino Urlaub gemacht hatte.
„Dieses Foto habe ich bei ihr gefunden.“
Er musste offensichtlich nicht lange überlegen.
„Clara, carissima …“, murmelte er leise. „Wo ist sie?“
Nun sprudelten meine Erzählungen, ich berichtete von Clara, von ihren letzten Lebensjahren in Lauenbek, dass sie mir viel von Italien erzählt und zum Schluss näher gestanden hatte als meine Mutter. Und dass sie leider vor einigen Monaten verstorben sei. Ricarda erwähnte ich nicht.
Der alte Herr hörte schweigend zu. Sein Blick ging in die Ferne, ruhte auf den zypressenbewachsenen Berghängen. Dann warf er noch einmal einen Blick auf das Foto, fand auch die Widmung. Er räusperte sich, bevor er leise anfing zu sprechen. Sein Deutsch war nicht perfekt, aber ich konnte erkennen, dass er sich sehr bemühte, die richtigen Worte zu finden.
„1967? Das muss der letzte Sommer gewesen sein, den sie hier verbrachte. Es war eine schöne Zeit, wir waren sehr verliebt. Vielleicht hätte ich sie sogar geheiratet. Doch nach Berlin konnte ich nicht ziehen, ich musste ja dieses Hotel von meinem Vater übernehmen. Mein Sohn ist nun schon die dritte Generation im Hotel Sarasoni, und die vierte spielt dort drüben gerade im Garten.“
Stolz klang aus seiner Stimme.
„Clara wollte aber nicht hier bleiben. Dieses Fischerdorf, hat sie Portofino immer genannt. Sie brauchte die Großstadt. Oder hätten Sie sich Clara als Hoteliersgattin vorstellen können?“
Nein, wirklich nicht. Ich musste laut lachen. Enrico lachte leise mit.
„Bald darauf habe ich dann meine spätere Frau kennengelernt, übrigens auch eine Deutsche. Von Clara habe ich nie mehr gehört. Wirklich sehr schade. Ich hab noch oft an sie gedacht. Aber sie war konsequent. Und das kleine Fischerdorf hat sich doch ganz gut entwickelt, oder?“
Vom Haus her näherte sich eine hübsche dunkelhaarige Frau von etwa Mitte dreißig. Sie entschuldigte sich für die Störung und fragte ihren Vater etwas, das ich nicht verstand.
„Ja, ich komme gleich“, antwortete er auf Deutsch.
„Das ist übrigens meine Tochter Ricarda, mein Ein und Alles, sie kommt ganz nach ihrer Mutter.“
Ich zuckte zusammen.
„Leider ist meine Frau vor zehn Jahren gestorben, verunglückt auf dieser verdammten Küstenstraße. Aber sie hat mir diese hübsche Tochter und zwei gute Söhne hinterlassen. So lebe ich heute ganz zufrieden, und wenn ich Lust habe, kümmere ich mich ein wenig um das Hotel.“
„Ricarda, welch hübscher Name!“
„Ja, in unserer Familie waren die Leute immer ein wenig einfallslos. Der älteste Sohn heißt seit Generationen Enrico, die älteste Tochter Ricarda.“
Wieder schmunzelte er. Er wusste ganz offensichtlich nichts von einer anderen Ricarda, und ich beglückwünschte mich, nichts davon erwähnt zu haben. Enrico Sarasoni schien mit sich und der Welt im Reinen. Er hatte offensichtlich ein zufriedenes Leben geführt. Was für Clara nur bedingt galt.
Nun bedauerte er, sich verabschieden zu müssen, und er klang glaubhaft. Auch ich hätte gern noch ein wenig weitergeplaudert. Ich bedankte mich überschwänglich für seine Zeit und das Gespräch.
„Es war nett, Sie als Verwandte von Clara kennenzulernen, auch wenn Sie mir die traurige Nachricht von ihrem Tod überbracht haben. Vielleicht können Sie mal mit Ihrer Familie hier Urlaub machen, Sie sind jederzeit herzlich willkommen.“
Was hatte ich mehr erwartet? Es hätte schlimmer ausgehen können.
Den Rest des Tages verbrachte ich, noch immer aufgewühlt, mit einem ausgedehnten Spaziergang durch die Umgebung und den malerischen kleinen Ort. Auf Claras Spuren, dachte ich wehmütig. Wie oft mochte sie hier unterwegs gewesen sein? Ich konnte sehr gut nachempfinden, dass es ihr in Portofino gut gefallen hatte, vor allem wegen des liebenswerten Rico.
Den Kopf voller Eindrücke flog ich am nächsten Vormittag zurück nach Hamburg. Rico kannte ich nun zwar, aber Claras Geheimnis blieb weiterhin ungelöst.
Und dann wurde mir die Lösung plötzlich ohne mein eigenes Zutun direkt vor die Füße, in diesem Fall zunächst in meinen Briefkasten, geworfen. Ich hatte mich eigentlich damit abgefunden, nichts mehr über Ricarda zu erfahren. Da erhielt ich drei Wochen später eine Traueranzeige von einer Britta Döhring aus Kiel, die um ihren Vater Jürgen trauerte. Ich brauchte einen Augenblick, bis ich begriff, um wen es sich handelte: Onkel Jürgen, der älteste Bruder meines Vaters, das schwarze Schaf der Familie. Er war in jungen Jahren wegen eines Zerwürfnisses mit den Eltern für alle Zeiten aus Lauenbek verschwunden. Mein Vater hatte ihn immer nur „Der Vertreter“ genannt, denn angeblich schlug er sich als Handelsvertreter für verschiedenste Produkte durchs Land und Leben. Genaueres wusste man nicht und wollte man auch nicht wissen.
Mein Bruder zeigte kein Interesse an der Beerdigung dieses Onkels, und so fuhr ich zwei Tage später allein nach Kiel. Schon aus Neugierde auf die unbekannte Cousine, von der bisher niemand in unserer Familie gewusst hatte.
Wir verstanden uns auf Anhieb gut, als wir uns beim Leichenschmaus längere Zeit unterhielten. Ihre Mutter war vor zwei Jahren verstorben, seitdem hatte Britta den krebskranken Vater allein gepflegt. Er sei tapfer gewesen, erzählte sie, nur kurz vor seinem Tod sei er ungewohnt sentimental geworden.
Während sie sprach, überlegte ich die ganze Zeit, an wen mich ihre Gesichtszüge erinnerten. Mein erster Verdacht schien mir so absurd, dass ich ihn sofort wieder verwarf.
„Ein schräger Vogel war er ja manchmal“, fuhr sie belustigt und ohne Punkt und Komma fort, "was der sich manchmal für Dinge geleistet hat … Meine Mutter hat immer behauptet, dass er es war, der mich unbedingt Ricarda nennen wollte. Sie hatten wohl schon die Hoffnung auf ein Kind aufgegeben, als es dann doch noch klappte. Den Namen hab ich aber gleich nach meiner Volljährigkeit ändern lassen, weil ich ihn für ein norddeutsches Mädchen bescheuert fand. Er hat mich übrigens in seinen letzten Tagen gebeten, die verbliebene Verwandtschaft ausfindig zu machen. Ich wusste ja bisher kaum etwas über die Lauenbeker Sippe.
Und dann – halt dich fest!- hat er mir kurz vor seinem Tod noch etwas gestanden: Er hatte eine uneheliche Tochter, die von der Mutter zur Adoption weggegeben wurde. Und weißt du, wer diese Mutter war?“
Sie legte eine Pause ein, bevor sie triumphierend fortfuhr:
„Deine Tante Clara!“
Ich musste mich wirklich an der Tischkante festhalten. Dann ließ ich mir von Britta erst einmal einen Schnaps nachschenken. Tante Clara und Onkel Jürgen? Das erklärte, warum Clara sich ihr Leben lang in Schweigen hüllte.
Onkel Jürgen hatte wohl immer schon für Clara geschwärmt, ohne dass Clara zu Lauenbeker Zeiten an ihm interessiert gewesen wäre. Kurz nach ihrer Rückkehr aus Portofino 1967, bei einer von Jürgens Dienstreisen, musste es dann in Berlin zu einer kurzen Affäre gekommen sein. Jürgen war zu diesem Zeitpunkt schon ein paar Jahre verheiratet. War Clara sich später überhaupt sicher über den Erzeuger des Mädchens gewesen? Wäre ihr ein Kind von Rico lieber gewesen? Daher der Name Ricarda, auf dem sie offensichtlich bestanden hatte?
„Der Vertreter“, dachte ich, wie passend, und unterdrückte ein hysterisches Lachen.
„Sag mal, wie alt bist du eigentlich?“, fragte ich Britta, nachdem sie endlich eine Atempause einlegte. Nur zur Sicherheit, dachte ich.
„Im März bin ich 50 geworden. Warum?“
Die ganze Wahrheit hatte Onkel Jürgen ihr also doch nicht gebeichtet. Aber ich werde schweigen wie ein Grab, auch wenn ich mich jetzt öfter mit Britta treffe. Da sie kein Auto besitzt, hole ich sie manchmal ab und fahre mit ihr – wie früher mit Clara – durch die Gegend. Die Tatsache, dass wir sozusagen doppelte Cousinen sind, nämlich mütterlicher- und väterlicherseits, wird allerdings ewig mein Geheimnis bleiben.
Die frühherbstliche Landschaft rauschte vorbei, ohne dass ich viel davon wahrnahm. Ich ging noch einmal meine selbst auferlegte Mission durch. Mein Mann hatte mein Vorhaben als völlig verrückt eingestuft, mich aber nicht daran hindern können. Was bewog mich also zu dieser Kurzreise?
Nach dem Tod meiner Tante Clara, der Schwester meiner Mutter, fand ich zahlreiche Kurzgeschichten, die sie in ihren letzten Jahren - nach dem Umzug aus Berlin zurück in unser norddeutsches Lauenbek - geschrieben hatte, überwiegend Reisegeschichten, speziell aus Italien. Dazu gab es das Foto eines gutaussehenden jungen Mannes namens Rico aus Portofino mit einer Widmung aus dem Jahre 1967. Vor allem aber gab es die kryptische Aussage der Tante, dass sie eine Tochter namens Ricarda (1968 geboren wie ich) gleich nach der Geburt zur Adoption freigegeben hatte. Leider war es mir vor ihrem überraschenden Tod nicht mehr vergönnt gewesen, nähere Einzelheiten zu erfahren, doch vermutete ich einen Zusammenhang zwischen den Namen Rico und Ricarda. Clara war mir zum Schluss sehr ans Herz gewachsen; ich wollte ihr letztes Rätsel unbedingt lösen. Nachdem mir das Lesen ihrer Geschichten immerhin einen kleinen Hinweis gegeben hatte, entschloss ich mich für eine Recherche vor Ort.
Im Internet war ich auf der Suche nach Hotels in Portofino dank Claras Beschreibungen sehr schnell fündig geworden. Das Hotel Sarasoni gab es tatsächlich immer noch, der Inhaber damals wie heute: Enrico Sarasoni. Ich buchte ein Zimmer für zwei Nächte.
Mittlerweile dämmerte es, als ich klopfenden Herzens die Hotelhalle betrat. Das Haus gefiel mir, nicht zu modern, aber keineswegs mehr so verschlafen und plüschig wie von Clara beschrieben. Man sprach Deutsch, und so brauchte ich nicht meine miserablen Italienisch-Kenntnisse bemühen. Der nächste Tag würde aufregend werden, deshalb unternahm ich an diesem Abend nichts mehr.
Am nächsten Morgen war der Frühstückssaal nur zur Hälfte besetzt, die Hauptsaison sicher längst vorbei. Ich hatte die erste Tasse Kaffee noch nicht ausgetrunken, als ich einen gutaussehenden Mann mittleren Alters grüßend durch die Reihen schreiten sah, der mich zum ersten Mal an diesem Tag aus der Fassung brachte. Sein freundliches „Buon giorno, signora“ konnte ich nur mit einem vor Aufregung leise gekrächzten „Buon giorno“ erwidern: Er war dem Rico auf Claras Foto wie aus dem Gesicht geschnitten. Meine Gedanken rotierten. Wie sollte ich vorgehen, ohne Porzellan zu zerschlagen?
Die Rezeptionistin zuckte nicht mit der Wimper, sondern stellte nur eine Frage, als ich darum bat, Signor Sarasoni in einer privaten Angelegenheit sprechen zu dürfen. „Den Junior oder den Senior?“ Im selben Moment wurde mir die Entscheidung abgenommen. Der gutaussehende Mann aus dem Frühstücksraum, offensichtlich Sarasoni junior, bog mit einem freundlichen Lächeln um die Ecke.
„Wie kann ich Ihnen helfen, Signora?“, fragte er in fast akzeptfreiem Deutsch.
„Das ist eine längere Geschichte. Hätten Sie vielleicht ein paar Minuten Zeit?“
Kleine Schweißperlen bildeten sich auf meiner Stirn, mein Herz klopfte bis zum Hals. Er blieb verbindlich und schleuste mich in einen kleinen Nebenraum.
Ich lehnte den angebotenen Kaffee ab, kam schnell zur Sache. Aus meiner Handtasche zog ich vorsichtig das Foto von Claras Rico und legte es auf den Tisch. Ich passte auf, dass er die Widmung auf der Rückseite nicht lesen konnte.
„Ich suche eigentlich diesen Mann.“
Enrico junior stutzte einen Augenblick, dann begann er schallend zu lachen.
„Oh, mio Dio, im ersten Moment habe ich geglaubt, das sei ich … Aber ich denke mal, das ist ein Jugendfoto meines Vaters. Was hat er denn angestellt?“
Nun wurde auch ich ein wenig lockerer. Bedacht um jedes Wort begann ich zu erzählen, dass ich dieses Foto im Nachlass meiner Tante Clara gefunden hatte und sie ihn gut gekannt haben musste. Und weil mich das Schicksal meiner Tante sehr berührte …
Enrico junior erlöste mich und bewahrte mich vor weiteren unklugen Sätzen.
„Signora – wie war gleich der Name?“
„Oh, Entschuldigung, Signor Sarasoni, ich hab mich vor lauter Aufregung gar nicht vorgestellt. Ich bin Jutta Ahrens aus Hamburg.“
„Gut, Signora Ahrens, dann reiche ich Sie mal an meinen Vater weiter. Sehen Sie den älteren Herrn dort draußen auf der Terrasse? Das ist Enrico senior. Der wird Ihnen vielleicht etwas über Ihre Tante Clara sagen können.“
Er schmunzelte immer noch belustigt und führte mich hinaus in den Garten. Mir wurden die Knie weich.
Er wechselte einige schnelle Worte auf Italienisch mit seinem Vater, von denen ich nur „Amburgo“ verstand. Der Ältere sah sich erstaunt um, erhob sich und reichte mir die Hand.
„Enrico Sarasoni“, stellte er sich mit sonorer Stimme vor. Ich hätte ihn trotz seines Alters sofort erkannt. Sein Lächeln war genauso charmant wie auf dem alten Foto. Er gefiel mir sehr, dieser elegante alte Herr, der jetzt Ende siebzig sein musste. Wie hätte er Clara heute gefallen?
Er forderte mich auf, mich zu ihm zu setzen. Ich entschuldigte mich für die Störung und fragte dann nach kurzem Zögern, ob er sich an Clara erinnerte, Clara aus Berlin, die in den Sechzigerjahren mehrere Male in Portofino Urlaub gemacht hatte.
„Dieses Foto habe ich bei ihr gefunden.“
Er musste offensichtlich nicht lange überlegen.
„Clara, carissima …“, murmelte er leise. „Wo ist sie?“
Nun sprudelten meine Erzählungen, ich berichtete von Clara, von ihren letzten Lebensjahren in Lauenbek, dass sie mir viel von Italien erzählt und zum Schluss näher gestanden hatte als meine Mutter. Und dass sie leider vor einigen Monaten verstorben sei. Ricarda erwähnte ich nicht.
Der alte Herr hörte schweigend zu. Sein Blick ging in die Ferne, ruhte auf den zypressenbewachsenen Berghängen. Dann warf er noch einmal einen Blick auf das Foto, fand auch die Widmung. Er räusperte sich, bevor er leise anfing zu sprechen. Sein Deutsch war nicht perfekt, aber ich konnte erkennen, dass er sich sehr bemühte, die richtigen Worte zu finden.
„1967? Das muss der letzte Sommer gewesen sein, den sie hier verbrachte. Es war eine schöne Zeit, wir waren sehr verliebt. Vielleicht hätte ich sie sogar geheiratet. Doch nach Berlin konnte ich nicht ziehen, ich musste ja dieses Hotel von meinem Vater übernehmen. Mein Sohn ist nun schon die dritte Generation im Hotel Sarasoni, und die vierte spielt dort drüben gerade im Garten.“
Stolz klang aus seiner Stimme.
„Clara wollte aber nicht hier bleiben. Dieses Fischerdorf, hat sie Portofino immer genannt. Sie brauchte die Großstadt. Oder hätten Sie sich Clara als Hoteliersgattin vorstellen können?“
Nein, wirklich nicht. Ich musste laut lachen. Enrico lachte leise mit.
„Bald darauf habe ich dann meine spätere Frau kennengelernt, übrigens auch eine Deutsche. Von Clara habe ich nie mehr gehört. Wirklich sehr schade. Ich hab noch oft an sie gedacht. Aber sie war konsequent. Und das kleine Fischerdorf hat sich doch ganz gut entwickelt, oder?“
Vom Haus her näherte sich eine hübsche dunkelhaarige Frau von etwa Mitte dreißig. Sie entschuldigte sich für die Störung und fragte ihren Vater etwas, das ich nicht verstand.
„Ja, ich komme gleich“, antwortete er auf Deutsch.
„Das ist übrigens meine Tochter Ricarda, mein Ein und Alles, sie kommt ganz nach ihrer Mutter.“
Ich zuckte zusammen.
„Leider ist meine Frau vor zehn Jahren gestorben, verunglückt auf dieser verdammten Küstenstraße. Aber sie hat mir diese hübsche Tochter und zwei gute Söhne hinterlassen. So lebe ich heute ganz zufrieden, und wenn ich Lust habe, kümmere ich mich ein wenig um das Hotel.“
„Ricarda, welch hübscher Name!“
„Ja, in unserer Familie waren die Leute immer ein wenig einfallslos. Der älteste Sohn heißt seit Generationen Enrico, die älteste Tochter Ricarda.“
Wieder schmunzelte er. Er wusste ganz offensichtlich nichts von einer anderen Ricarda, und ich beglückwünschte mich, nichts davon erwähnt zu haben. Enrico Sarasoni schien mit sich und der Welt im Reinen. Er hatte offensichtlich ein zufriedenes Leben geführt. Was für Clara nur bedingt galt.
Nun bedauerte er, sich verabschieden zu müssen, und er klang glaubhaft. Auch ich hätte gern noch ein wenig weitergeplaudert. Ich bedankte mich überschwänglich für seine Zeit und das Gespräch.
„Es war nett, Sie als Verwandte von Clara kennenzulernen, auch wenn Sie mir die traurige Nachricht von ihrem Tod überbracht haben. Vielleicht können Sie mal mit Ihrer Familie hier Urlaub machen, Sie sind jederzeit herzlich willkommen.“
Was hatte ich mehr erwartet? Es hätte schlimmer ausgehen können.
Den Rest des Tages verbrachte ich, noch immer aufgewühlt, mit einem ausgedehnten Spaziergang durch die Umgebung und den malerischen kleinen Ort. Auf Claras Spuren, dachte ich wehmütig. Wie oft mochte sie hier unterwegs gewesen sein? Ich konnte sehr gut nachempfinden, dass es ihr in Portofino gut gefallen hatte, vor allem wegen des liebenswerten Rico.
Den Kopf voller Eindrücke flog ich am nächsten Vormittag zurück nach Hamburg. Rico kannte ich nun zwar, aber Claras Geheimnis blieb weiterhin ungelöst.
Und dann wurde mir die Lösung plötzlich ohne mein eigenes Zutun direkt vor die Füße, in diesem Fall zunächst in meinen Briefkasten, geworfen. Ich hatte mich eigentlich damit abgefunden, nichts mehr über Ricarda zu erfahren. Da erhielt ich drei Wochen später eine Traueranzeige von einer Britta Döhring aus Kiel, die um ihren Vater Jürgen trauerte. Ich brauchte einen Augenblick, bis ich begriff, um wen es sich handelte: Onkel Jürgen, der älteste Bruder meines Vaters, das schwarze Schaf der Familie. Er war in jungen Jahren wegen eines Zerwürfnisses mit den Eltern für alle Zeiten aus Lauenbek verschwunden. Mein Vater hatte ihn immer nur „Der Vertreter“ genannt, denn angeblich schlug er sich als Handelsvertreter für verschiedenste Produkte durchs Land und Leben. Genaueres wusste man nicht und wollte man auch nicht wissen.
Mein Bruder zeigte kein Interesse an der Beerdigung dieses Onkels, und so fuhr ich zwei Tage später allein nach Kiel. Schon aus Neugierde auf die unbekannte Cousine, von der bisher niemand in unserer Familie gewusst hatte.
Wir verstanden uns auf Anhieb gut, als wir uns beim Leichenschmaus längere Zeit unterhielten. Ihre Mutter war vor zwei Jahren verstorben, seitdem hatte Britta den krebskranken Vater allein gepflegt. Er sei tapfer gewesen, erzählte sie, nur kurz vor seinem Tod sei er ungewohnt sentimental geworden.
Während sie sprach, überlegte ich die ganze Zeit, an wen mich ihre Gesichtszüge erinnerten. Mein erster Verdacht schien mir so absurd, dass ich ihn sofort wieder verwarf.
„Ein schräger Vogel war er ja manchmal“, fuhr sie belustigt und ohne Punkt und Komma fort, "was der sich manchmal für Dinge geleistet hat … Meine Mutter hat immer behauptet, dass er es war, der mich unbedingt Ricarda nennen wollte. Sie hatten wohl schon die Hoffnung auf ein Kind aufgegeben, als es dann doch noch klappte. Den Namen hab ich aber gleich nach meiner Volljährigkeit ändern lassen, weil ich ihn für ein norddeutsches Mädchen bescheuert fand. Er hat mich übrigens in seinen letzten Tagen gebeten, die verbliebene Verwandtschaft ausfindig zu machen. Ich wusste ja bisher kaum etwas über die Lauenbeker Sippe.
Und dann – halt dich fest!- hat er mir kurz vor seinem Tod noch etwas gestanden: Er hatte eine uneheliche Tochter, die von der Mutter zur Adoption weggegeben wurde. Und weißt du, wer diese Mutter war?“
Sie legte eine Pause ein, bevor sie triumphierend fortfuhr:
„Deine Tante Clara!“
Ich musste mich wirklich an der Tischkante festhalten. Dann ließ ich mir von Britta erst einmal einen Schnaps nachschenken. Tante Clara und Onkel Jürgen? Das erklärte, warum Clara sich ihr Leben lang in Schweigen hüllte.
Onkel Jürgen hatte wohl immer schon für Clara geschwärmt, ohne dass Clara zu Lauenbeker Zeiten an ihm interessiert gewesen wäre. Kurz nach ihrer Rückkehr aus Portofino 1967, bei einer von Jürgens Dienstreisen, musste es dann in Berlin zu einer kurzen Affäre gekommen sein. Jürgen war zu diesem Zeitpunkt schon ein paar Jahre verheiratet. War Clara sich später überhaupt sicher über den Erzeuger des Mädchens gewesen? Wäre ihr ein Kind von Rico lieber gewesen? Daher der Name Ricarda, auf dem sie offensichtlich bestanden hatte?
„Der Vertreter“, dachte ich, wie passend, und unterdrückte ein hysterisches Lachen.
„Sag mal, wie alt bist du eigentlich?“, fragte ich Britta, nachdem sie endlich eine Atempause einlegte. Nur zur Sicherheit, dachte ich.
„Im März bin ich 50 geworden. Warum?“
Die ganze Wahrheit hatte Onkel Jürgen ihr also doch nicht gebeichtet. Aber ich werde schweigen wie ein Grab, auch wenn ich mich jetzt öfter mit Britta treffe. Da sie kein Auto besitzt, hole ich sie manchmal ab und fahre mit ihr – wie früher mit Clara – durch die Gegend. Die Tatsache, dass wir sozusagen doppelte Cousinen sind, nämlich mütterlicher- und väterlicherseits, wird allerdings ewig mein Geheimnis bleiben.
Zuletzt bearbeitet: