Ciconia
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Ende einer Reise
(Aktuelle Version)
Charlotte ließ einen der beiden Fensterflügel ihres Hotelzimmers gekippt, um dem gleichmäßigen Rauschen der Brandung lauschen zu können. Gewöhnlich half ihr dies beim Einschlafen.
An diesem Abend wollte sich kein Schlaf einstellen, zu vieles kreiste nach dem heutigen unerfreulichen Telefongespräch mit Wolfgang in ihrem Kopf, zu viele Grübeleien über die Zukunft. Vor einer Woche war sie hier auf der Insel angekommen, in einem Hotel, in dem sie sich bei früheren Besuchen im Februar immer wohlgefühlt hatte. Sogar das Wetter meinte es gut, die Temperaturen stiegen in fast frühlingshafte Höhen. Doch Entspannung fand sie auch bei stundenlangen Strandwanderungen nicht. Charlotte fühlte sich unkonzentriert, unruhig, unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen.
Ihre Reise glich diesmal eher einer Flucht, einer Flucht vor dem ewig missgelaunten Ehemann und seinen Wutausbrüchen. Er kam nicht klar mit seinem Rentnerdasein, war zu einem bösen alten Mann geworden, der allmählich jede Lust am Dasein verlor und ihr mit seinen ständigen Nörgeleien den Alltag zur Hölle machte. Oft hatte sie überlegt, wie ein Leben ohne Wolfgang aussehen könnte, aber nie die Stärke gefunden, wirklich den Absprung zu wagen. Sie empfand sich mittlerweile als zu alt, zu kraftlos, um noch einmal von vorn zu beginnen. Fünfunddreißig anstrengende Ehejahre mit einem schwierigen Partner hatten vieles in ihr zerbrochen und ihr die Hoffnung auf bessere Tage restlos genommen. Sie fühlte sich seit Monaten so verzagt, dass sie neuerdings zu Antidepressiva griff, bisher ohne spürbaren Erfolg. Ihr Hausarzt hatte sie beim Verschreiben des Medikamentes allerdings sehr eindringlich darauf hingewiesen, dass sich ihr Zustand nur bessern könne, wenn auch ihre Lebenssituation einigermaßen frei von Belastungen sein würde.
Charlotte wälzte sich im Bett. Vielleicht setzte sie sich selbst zu sehr unter Druck, grübelte sie, denn sie musste in diesem Urlaub unbedingt eine endgültige Lösung finden. Sie konnte nicht mehr wie bisher weitermachen. Die Vorstellung, morgen wieder in die trostlose Atmosphäre ihres Zuhauses zurückkehren zu müssen, bereitete ihr jetzt schon Angst. Die Alternative, wieder allein zu leben und völlig auf sich gestellt zu sein, behagte ihr genauso wenig.
Die Zeit verrann, an Schlaf war endgültig nicht mehr zu denken. Je länger Charlotte nachdachte, desto klarer schien sich eine ganz einfache und schnelle Lösung aller ihrer Probleme herauszukristallisieren.
Entschlossen stand Charlotte auf, sie wollte nicht länger zögern. Sie begann zügig ihren Koffer vollzustopfen, ohne jede erkennbare Ordnung. Wenigstens das Zimmer sollte aufgeräumt aussehen. Die wärmsten Kleidungsstücke zog sie an: eine Wollstrumpfhose, darüber die neue Thermohose, einen dünnen Rolli, einen dicken Norwegerpullover, zum Schluss die Steppjacke mit Kapuze, zusätzlich Schal und Mütze. Sie stieg in die gefütterten Winterstiefel und wollte als letztes die Handschuhe überstreifen, als sie noch einmal innehielt. Auf einen Zettel aus ihrem Notizblock kritzelte sie eine kurze Nachricht.
Niemand bemerkte, wie Charlotte aus der Tür des Nebengebäudes in die Dunkelheit verschwand. Sie folgte der schwach erleuchteten Strandpromenade bis zur Seebrücke. Am Ende der Bucht steuerte ein Schiff den Fährhafen an – die Skandinavienfähre, also musste es gegen fünf Uhr sein, dachte sie. Charlottes Tritte in den groben Stiefeln hallten auf den Bohlen der Seebrücke. Noch etwa hundert Meter, dann würde sie ihr Ziel erreicht haben. Die matte Brückenbeleuchtung wies ihr den Weg.
Sie kletterte über die Absperrung, die den Anleger der Bäderschiffe sicherte. Weitere zehn Stufen bis zum Ponton. Die Wellen klatschten heftig an die Pfeiler der Brücke.
Charlotte zögerte keine Sekunde vor dem Sprung. Schon die nächste große Woge drückte sie komplett unter das eiskalte Wasser, füllte die Kapuze, saugte sich in den schweren Wintersachen fest.
Vier Stunden später fand ein Zimmermädchen in Charlottes Zimmer den Zettel mit Wolfgangs Namen und Telefonnummer. „Bitte benachrichtigen“ stand darunter. Mehr nicht.
(Aktuelle Version)
Charlotte ließ einen der beiden Fensterflügel ihres Hotelzimmers gekippt, um dem gleichmäßigen Rauschen der Brandung lauschen zu können. Gewöhnlich half ihr dies beim Einschlafen.
An diesem Abend wollte sich kein Schlaf einstellen, zu vieles kreiste nach dem heutigen unerfreulichen Telefongespräch mit Wolfgang in ihrem Kopf, zu viele Grübeleien über die Zukunft. Vor einer Woche war sie hier auf der Insel angekommen, in einem Hotel, in dem sie sich bei früheren Besuchen im Februar immer wohlgefühlt hatte. Sogar das Wetter meinte es gut, die Temperaturen stiegen in fast frühlingshafte Höhen. Doch Entspannung fand sie auch bei stundenlangen Strandwanderungen nicht. Charlotte fühlte sich unkonzentriert, unruhig, unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen.
Ihre Reise glich diesmal eher einer Flucht, einer Flucht vor dem ewig missgelaunten Ehemann und seinen Wutausbrüchen. Er kam nicht klar mit seinem Rentnerdasein, war zu einem bösen alten Mann geworden, der allmählich jede Lust am Dasein verlor und ihr mit seinen ständigen Nörgeleien den Alltag zur Hölle machte. Oft hatte sie überlegt, wie ein Leben ohne Wolfgang aussehen könnte, aber nie die Stärke gefunden, wirklich den Absprung zu wagen. Sie empfand sich mittlerweile als zu alt, zu kraftlos, um noch einmal von vorn zu beginnen. Fünfunddreißig anstrengende Ehejahre mit einem schwierigen Partner hatten vieles in ihr zerbrochen und ihr die Hoffnung auf bessere Tage restlos genommen. Sie fühlte sich seit Monaten so verzagt, dass sie neuerdings zu Antidepressiva griff, bisher ohne spürbaren Erfolg. Ihr Hausarzt hatte sie beim Verschreiben des Medikamentes allerdings sehr eindringlich darauf hingewiesen, dass sich ihr Zustand nur bessern könne, wenn auch ihre Lebenssituation einigermaßen frei von Belastungen sein würde.
Charlotte wälzte sich im Bett. Vielleicht setzte sie sich selbst zu sehr unter Druck, grübelte sie, denn sie musste in diesem Urlaub unbedingt eine endgültige Lösung finden. Sie konnte nicht mehr wie bisher weitermachen. Die Vorstellung, morgen wieder in die trostlose Atmosphäre ihres Zuhauses zurückkehren zu müssen, bereitete ihr jetzt schon Angst. Die Alternative, wieder allein zu leben und völlig auf sich gestellt zu sein, behagte ihr genauso wenig.
Die Zeit verrann, an Schlaf war endgültig nicht mehr zu denken. Je länger Charlotte nachdachte, desto klarer schien sich eine ganz einfache und schnelle Lösung aller ihrer Probleme herauszukristallisieren.
Entschlossen stand Charlotte auf, sie wollte nicht länger zögern. Sie begann zügig ihren Koffer vollzustopfen, ohne jede erkennbare Ordnung. Wenigstens das Zimmer sollte aufgeräumt aussehen. Die wärmsten Kleidungsstücke zog sie an: eine Wollstrumpfhose, darüber die neue Thermohose, einen dünnen Rolli, einen dicken Norwegerpullover, zum Schluss die Steppjacke mit Kapuze, zusätzlich Schal und Mütze. Sie stieg in die gefütterten Winterstiefel und wollte als letztes die Handschuhe überstreifen, als sie noch einmal innehielt. Auf einen Zettel aus ihrem Notizblock kritzelte sie eine kurze Nachricht.
Niemand bemerkte, wie Charlotte aus der Tür des Nebengebäudes in die Dunkelheit verschwand. Sie folgte der schwach erleuchteten Strandpromenade bis zur Seebrücke. Am Ende der Bucht steuerte ein Schiff den Fährhafen an – die Skandinavienfähre, also musste es gegen fünf Uhr sein, dachte sie. Charlottes Tritte in den groben Stiefeln hallten auf den Bohlen der Seebrücke. Noch etwa hundert Meter, dann würde sie ihr Ziel erreicht haben. Die matte Brückenbeleuchtung wies ihr den Weg.
Sie kletterte über die Absperrung, die den Anleger der Bäderschiffe sicherte. Weitere zehn Stufen bis zum Ponton. Die Wellen klatschten heftig an die Pfeiler der Brücke.
Charlotte zögerte keine Sekunde vor dem Sprung. Schon die nächste große Woge drückte sie komplett unter das eiskalte Wasser, füllte die Kapuze, saugte sich in den schweren Wintersachen fest.
Vier Stunden später fand ein Zimmermädchen in Charlottes Zimmer den Zettel mit Wolfgangs Namen und Telefonnummer. „Bitte benachrichtigen“ stand darunter. Mehr nicht.
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