Ciconia
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Fenster zum Strand
(Aktuelle Version)
In manchen sternklaren Nächten, wenn ich allein im schummrigen Zimmer am Fenster saß, auf die Geräusche von nebenan lauschte, wenn durch die halb geöffnete Tür im besten Fall ein leises Schnarchen, im schlimmsten Fall ein halblautes Stöhnen zu hören war, weil Georg trotz starker Medikamente vor Schmerzen nicht in den Schlaf finden konnte, sah ich wiederholt einen großen schlanken Mann auf dem Höhenweg vor unserem Haus vorbeieilen. Im frühen Herbst trug er zunächst eine Prinz-Heinrich-Mütze, später dann, im ungewöhnlich kalten November, hatte er die Kapuze seines dunklen Anoraks fest zugezogen, was ihm, bis er irgendwann in der Dunkelheit zum Strandabgang verschwand, eine unnatürliche, ja fast unheimliche Kontur gab.
In solchen Stunden genoss ich das ungestüme Tosen des Meeres, es übertönte manchmal sogar die Laute aus dem Nebenzimmer, und ich bildete mir einen Moment lang ein, mein Leben sei in bester Ordnung, alles würde weitergehen wie bis vor einem halben Jahr.
Durch die kahlen Bäume am Strandhang konnte ich die See mehr erahnen als erkennen, nur wenn sich die Wogen in mondhellen stürmischen Nächten auftürmten, sah ich für einen Augenblick gischtgelbe Schaumkronen wütend auftauchen und erschöpft wieder verschwinden. Genau wie die Gestalt mit der Kapuze stets rasch aus meinem Blickfeld verschwand, dieser Mensch, von dem ich nichts wusste, denn wir wohnten erst seit dem Frühjahr hier an der Steilküste und Georgs plötzliche Krankheit verhinderte vieles, vor allem neue Freundschaften. Ich überlegte mir so manches Mal, was ihn zu später Stunde hinaustrieb und wohin ihn sein Gang führte – auf demselben Weg zurückkommen sah ich ihn nie, solange ich auch wachend am Fenster saß. Oder hatte mich ab und zu die Müdigkeit übermannt und ich war kurz eingenickt?
Es wurde mir zur Gewohnheit, bei meinen stillen Betrachtungen und den Überlegungen, wie es weitergehen sollte, wenn Georg endgültig keine Kraft mehr haben würde und mich allein ließe in diesem erst halbfertig eingerichteten Haus, auf den Mann in der dunklen Wetterjacke zu warten und seine Silhouette zu verfolgen, bis ihn die Nacht verschluckt hatte. Niemals war er in Begleitung, nicht einmal ein Hund folgte ihm. Seine Haltung erinnerte mich stark an den jungen Georg, seinen betont aufrechten Gang, die weit ausholenden Schritte. Wie gern war ich früher mit ihm unterwegs gewesen, wie gern waren wir gereist, wie viele Kilometer mochten wir im Laufe von Jahrzehnten zusammen gewandert sein!
Gegen Ende des Jahres konnte ich absehen, dass Georg den Kampf verlieren würde. Eine Woche vor Weihnachten schlief er ruhig ein, in einer dieser Nächte, die ich reglos und grübelnd am Fenster saß. Der Unbekannte mit der Kapuze schien diesmal besonders langsam vorbeizugehen, zum ersten Mal deuchte mir, er habe seinen Kopf leicht in meine Richtung gewandt.
Ich war vorbereitet auf das, was mich nun erwartete, ich hatte schließlich monatelang Zeit zum Nachdenken gehabt. Nach Georgs Beerdigung, an der nur der engste Familienkreis teilnahm, verbrachte ich einige Tage bei meiner Tochter und dem Schwiegersohn, und eigentlich ließen wir dieses Fest nur wegen der Enkelkinder nicht ausfallen. Die Leere, die sich während der vergangenen Monate in mir breit gemacht hatte, wuchs sich zu einer völligen innerlichen Starre aus.
Anfang Januar kehrte ich zurück in unser Haus, das für mich allein viel zu groß war und das mir ohne Georg unwohnlich und abweisend vorkam. Noch sah ich mich nicht in der Lage, Pläne für die Zukunft zu fassen. Den einsamen Spaziergänger vergaß ich schnell.
Frühling und Sommer vergingen, aber die Jahreszeiten erreichten mich nicht mehr. Blumen und Pflanzen im Vorgarten, die ich in unserem ersten Sommer gehegt und gepflegt hatte, waren mir gleichgültig geworden, wie überhaupt so vieles andere auch. Meine Gesundheit verschlechterte sich zusehends, eine andauernde bleierne Hoffnungslosigkeit erfasste mich.
So nahm ich die Diagnose, die mein Arzt mir an einem sonnigen Oktobertag mitteilte, mit Fassung und, ja, Gleichgültigkeit entgegen. Ich kehrte nachmittags in dem unglaublich beruhigenden Bewusstsein heim, dass es nun nichts mehr zu planen gab.
Spätabends saß ich wieder einmal gedankenverloren am Fenster. Ich starrte über das unruhige Meer und nahm die dunkle Kapuzengestalt erst wahr, als sie direkt vor dem Haus stand. Für einen Moment schien sie zu verweilen, dann entfernte sie sich zügig mit gleichmäßigen Schritten zum Strand. Kurz stutzte ich, doch dann ergriff mich eine tiefe, wohltuende Ruhe. Jetzt wusste ich es gewiss: Georg würde nicht mehr lange auf mich warten müssen.
(Aktuelle Version)
In manchen sternklaren Nächten, wenn ich allein im schummrigen Zimmer am Fenster saß, auf die Geräusche von nebenan lauschte, wenn durch die halb geöffnete Tür im besten Fall ein leises Schnarchen, im schlimmsten Fall ein halblautes Stöhnen zu hören war, weil Georg trotz starker Medikamente vor Schmerzen nicht in den Schlaf finden konnte, sah ich wiederholt einen großen schlanken Mann auf dem Höhenweg vor unserem Haus vorbeieilen. Im frühen Herbst trug er zunächst eine Prinz-Heinrich-Mütze, später dann, im ungewöhnlich kalten November, hatte er die Kapuze seines dunklen Anoraks fest zugezogen, was ihm, bis er irgendwann in der Dunkelheit zum Strandabgang verschwand, eine unnatürliche, ja fast unheimliche Kontur gab.
In solchen Stunden genoss ich das ungestüme Tosen des Meeres, es übertönte manchmal sogar die Laute aus dem Nebenzimmer, und ich bildete mir einen Moment lang ein, mein Leben sei in bester Ordnung, alles würde weitergehen wie bis vor einem halben Jahr.
Durch die kahlen Bäume am Strandhang konnte ich die See mehr erahnen als erkennen, nur wenn sich die Wogen in mondhellen stürmischen Nächten auftürmten, sah ich für einen Augenblick gischtgelbe Schaumkronen wütend auftauchen und erschöpft wieder verschwinden. Genau wie die Gestalt mit der Kapuze stets rasch aus meinem Blickfeld verschwand, dieser Mensch, von dem ich nichts wusste, denn wir wohnten erst seit dem Frühjahr hier an der Steilküste und Georgs plötzliche Krankheit verhinderte vieles, vor allem neue Freundschaften. Ich überlegte mir so manches Mal, was ihn zu später Stunde hinaustrieb und wohin ihn sein Gang führte – auf demselben Weg zurückkommen sah ich ihn nie, solange ich auch wachend am Fenster saß. Oder hatte mich ab und zu die Müdigkeit übermannt und ich war kurz eingenickt?
Es wurde mir zur Gewohnheit, bei meinen stillen Betrachtungen und den Überlegungen, wie es weitergehen sollte, wenn Georg endgültig keine Kraft mehr haben würde und mich allein ließe in diesem erst halbfertig eingerichteten Haus, auf den Mann in der dunklen Wetterjacke zu warten und seine Silhouette zu verfolgen, bis ihn die Nacht verschluckt hatte. Niemals war er in Begleitung, nicht einmal ein Hund folgte ihm. Seine Haltung erinnerte mich stark an den jungen Georg, seinen betont aufrechten Gang, die weit ausholenden Schritte. Wie gern war ich früher mit ihm unterwegs gewesen, wie gern waren wir gereist, wie viele Kilometer mochten wir im Laufe von Jahrzehnten zusammen gewandert sein!
Gegen Ende des Jahres konnte ich absehen, dass Georg den Kampf verlieren würde. Eine Woche vor Weihnachten schlief er ruhig ein, in einer dieser Nächte, die ich reglos und grübelnd am Fenster saß. Der Unbekannte mit der Kapuze schien diesmal besonders langsam vorbeizugehen, zum ersten Mal deuchte mir, er habe seinen Kopf leicht in meine Richtung gewandt.
Ich war vorbereitet auf das, was mich nun erwartete, ich hatte schließlich monatelang Zeit zum Nachdenken gehabt. Nach Georgs Beerdigung, an der nur der engste Familienkreis teilnahm, verbrachte ich einige Tage bei meiner Tochter und dem Schwiegersohn, und eigentlich ließen wir dieses Fest nur wegen der Enkelkinder nicht ausfallen. Die Leere, die sich während der vergangenen Monate in mir breit gemacht hatte, wuchs sich zu einer völligen innerlichen Starre aus.
Anfang Januar kehrte ich zurück in unser Haus, das für mich allein viel zu groß war und das mir ohne Georg unwohnlich und abweisend vorkam. Noch sah ich mich nicht in der Lage, Pläne für die Zukunft zu fassen. Den einsamen Spaziergänger vergaß ich schnell.
Frühling und Sommer vergingen, aber die Jahreszeiten erreichten mich nicht mehr. Blumen und Pflanzen im Vorgarten, die ich in unserem ersten Sommer gehegt und gepflegt hatte, waren mir gleichgültig geworden, wie überhaupt so vieles andere auch. Meine Gesundheit verschlechterte sich zusehends, eine andauernde bleierne Hoffnungslosigkeit erfasste mich.
So nahm ich die Diagnose, die mein Arzt mir an einem sonnigen Oktobertag mitteilte, mit Fassung und, ja, Gleichgültigkeit entgegen. Ich kehrte nachmittags in dem unglaublich beruhigenden Bewusstsein heim, dass es nun nichts mehr zu planen gab.
Spätabends saß ich wieder einmal gedankenverloren am Fenster. Ich starrte über das unruhige Meer und nahm die dunkle Kapuzengestalt erst wahr, als sie direkt vor dem Haus stand. Für einen Moment schien sie zu verweilen, dann entfernte sie sich zügig mit gleichmäßigen Schritten zum Strand. Kurz stutzte ich, doch dann ergriff mich eine tiefe, wohltuende Ruhe. Jetzt wusste ich es gewiss: Georg würde nicht mehr lange auf mich warten müssen.
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