Gendai Haiku

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Stabile Seitenlage.
Kein Lied beim Wiegen
zum Ufer rüber.



Hinweis:
Zwar habe ich mich an die klassische Silbenzahl gehalten, aber die drastische Themenwahl und ihre beißende 'Kommentierung' haben mich veranlasst, das Gedicht als Gendai einzustufen. Diese ultramoderne Haikuvariante wird unter Feste Formen aber nicht angeboten, weshalb ich das Gedicht ins Experimentelle gestellt habe.
 

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Mitglied
Als Gendai Haiku sehe ich es recht stimmig verortet, lieber Kristian,

und bis auf das sprachlich etwas saloppe "rüber" gefällt mir sehr, was ich da lese.
Eigentlich bräuchtest du das "rüber" überhaupt nicht, wenn du das "zum" durch ein "ans" ersetztest. Oder führe ich deine Idee dann schon zu weit ins Abseits?
Meine Gedanken beim Lesen waren in Richtung des Wiegens ans andere Ufer (des Styx) unterwegs. Vielleicht scheint mir das "rüber" auch deshalb zu locker-lässig, wenn du verstehst, was ich meine.

Auf jeden Fall gerne gelesen und mich in Flusstiefen mitnehmen lassen.
LG,
Claudia
 
zum Ufer rüber klingt wie ein Rettungsbefehl ... obgleich nichts mehr zu retten gibt: die Umweltkatastrophe hat unzählige Fische das Leben gekostet, sie befinden sich (so böse!) bereits in stabiler Seitenlage und treiben im Wasser ohne (Wiegen)Lied. Wie zynisch!
Das ganze Gedicht ist eine wütende Abrechnung, die sich der Bosheit bedient, um überhaupt noch gehört zu werden. Ein gefälliges Haiku kann so etwas nicht anbieten, es wandelt sich zum Gendai, das knallhart moderne Themen zu bearbeiten in der Lage ist.

Danke, liebe Claudia, für Deinen interessanten Besuch!

Kristian
 

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zum Ufer rüber klingt wie ein Rettungsbefehl ... obgleich nichts mehr zu retten gibt: die Umweltkatastrophe hat unzählige Fische das Leben gekostet, sie befinden sich (so böse!) bereits in stabiler Seitenlage und treiben im Wasser ohne (Wiegen)Lied. Wie zynisch!
Ah! Ja - so ergibt die Wortwahl definitiv mehr Sinn, lieber Kristian.

An Fische hatte ich gar nicht gedacht, war ich doch ganz bei mir und beim Menschsein beim Lesen. Das Wiegen fand ich in diesem Zusammenhang dann auch doppelt gut, denn ich hatte Menschen, Flüsse und die Reise (in stabiler Seitenlage) ins Jenseits im Hinterkopf und da spielte auch der Gedanke an Nil und Ägypter mit hinein - und damit das Wiegen des Herzens des Verstorbenen durch Anubis auf der Waage der Gerechtigkeit.

Zynisch ist dein Gendai Haiku in der Tat. Das verleiht ihm aber auch diese Wucht, die ich - trotz leichter Fehlinterpretation - wahrgenommen habe. Als Experiment sehe ich deinen Text aber nicht. Dafür ist er viel zu zielsicher.

LG,
Claudia
 

sufnus

Mitglied
Hi Kristian,
Dein Gedicht zielt für mich recht stark auf die pointenhafte Schlusszeile, die sozusagen den rettungsdientslichen Begriff der ersten Zeile erklärt und eine Art "Auflösung" bietet. Das ist für mich insgesamt ein sehr abgeschlossener, kommentarhafter Text. Er mag durchaus auf unterschiedliche Szenarien "anwendbar" sein, aber es gibt keine völlig alternative Lesart zum finalen RIP.
Inwieweit diese Geschlossenheit bei Gendais zulässig (oder gar gefordert) ist, weiß ich nicht, da ich in der japanischen Lyrik nicht allzu bewandert bin. Mir persönlich gefällt aber den beispielhaften (traditionellen) Haikus und Senryus gerade besonders gut, dass sie insgesamt offen bleiben und weder in die geistige Sackgasse einer ausdeutbaren Symbolik noch in die eines hermetischen Dadaismus einbiegen. Alles bleibt konkret und doch in der Schwebe.
Ob das alles jetzt bedeutet, dass mir Gendais nicht so recht munden oder eher heißt, dass ich spezifisch diesen Text als etwas "eng" empfinde, kann ich letztlich wegen siehe oben nicht so recht sagen.
Auf alle Fälle hat Fees zweiter Kommentar meinem Lese-Erleben aber sehr gut getan! :) Während ich die Verbindung von Styx (et al.) und Wiegenlied rezipiert und durchaus als ganz schönen Bezug goutiert habe, war mir die Doppelbedeutung des Wiegens im Hinblick auf ägyptische Todesmythologie entgangen. Das ist ein sehr cooler dritter Bezugsraum - ob es nun absichtsvoll so angelegt wurde oder als serendipidinöses Momentum in den Text hineingefahren ist. :)
LG!
S.
 
Hallo sufnus,

in Kürze soviel: Gendai nimmt ganz oft die so genannten Vorgaben eines Haiku aufs Korn, feuert aus allen Rohren, um eigentlich nur mäßig zu zerstören, was sinnvoll und logisch ist: Es würde seine eigene Grundlage, nämlich das klassische Haiku, auslöschen - und damit sich selbst. Niemand will das, und doch gab/gibt es immer wieder 'Versuche', das Haiku zu knacken, um interessanterweise über Umwege eines freien Dreizeilers (der durchaus senryû oder Gendai sein könnte) wieder zu ihm zurückzukehren. Ich finde das psychologisch bemerkenswert ...

Nein, zulässig ist im Gendai wohl sehr viel, auch 'ausdeutbare Symbolik' oder 'hermetischer Dadaismus'. Im Haiku allerdings ein no go!
Es sei noch erwähnt, dass in Japan Gendai nicht ganz so radikal praktiziert wird wie in der westlichen Welt. Wer geht schon gerne an seine eigenen Wurzeln!

Danke für Deine Meinung!

Kr.
 



 
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