Versuch einer Erinnerung
Oft trügt die Erinnerung, vor allem, wenn Jahrzehnte seit einem einschneidenden Ereignis vergangen sind oder man zum Zeitpunkt dieses Ereignisses noch sehr jung war. Es bleiben nur einzelne Szenen im Gedächtnis, Bruchstücke, aus denen sich nicht der genaue Ablauf einer Nacht rekonstruieren ließe, die man aber sein Leben lang nicht vergessen wird.
Landratten mögen eine andere Vorstellung von dem haben, was in der Nacht vom 16. auf den 17. Februar 1962 in Norddeutschland passierte. Sie mögen meinen, die Bevölkerung habe vor Angst geschrien und Kinder hätten geweint ob der Gefahr. Nein, so war es nicht. Jedenfalls nicht in dem Landstrich, in dem ich diese Nacht erlebte. Für mich war sie … ein wenig gruselig und ein wenig abenteuerlich. Man möge mir diese Einschätzung verzeihen. Ich war zwar kein kleines Kind mehr, aber eben doch noch ein Kind.
Vielleicht habe ich wirklich einiges vergessen, vielleicht ist einiges im Laufe der Jahre durch Erzählungen hinzugekommen. Aber in meiner Erinnerung sehe ich folgendes:
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Unruhige Wellen spielten mit der Deichkuppe. Mal endeten sie direkt unterhalb, mal züngelten sie leicht über den Rand. Der Fluss hatte sich in eine endlose bewegte See verwandelt und allerhand Unrat mit sich gerissen: Äste, Bretterverschläge, Plastikteile, Eimer. Ein voller Mond erhellte diese unwirkliche Szenerie. Mitternacht musste schon vorbei sein.
Auf dem Deich konnte ich mich nur mit Mühe gegen den Sturm behaupten, und doch siegte die Neugier. Ich hätte nicht dort sein sollen, aber die Erwachsenen waren zu beschäftigt, um uns Kinder unter Kontrolle zu halten. Sie schaufelten Sandsäcke, zusammen mit Bundeswehrsoldaten, die im Laufe des Abends eingetroffen waren. Von der Straße hörte man Kommandos und aufgeregtes Stimmengewirr. Erste Anwohner verließen mit vollbepackten Autos das Dorf. Ich ging ein paar Schritte, hüpfte über ankommende Wellen, musste Obacht geben, keine nassen Füße zu bekommen. Ich spürte in diesem Moment keine Angst, denn ich erkannte keine Gefahr. Hochwasser gab es immer mal wieder, nur dieses war halt ein wenig höher als sonst. Längere Zeit starrte ich fasziniert auf den bewegten Fluss und sein Treibgut.
Plötzlich fröstelte ich, und schuld daran war nicht nur der eiskalte Wind, der durch meinen dünnen Anorak pfiff. Was, wenn der Deich nun bräche? Hastig lief ich vom Deich hinüber zu den Erwachsenen an der Straße, deren Stimmen inzwischen ruhiger geworden waren. Man hatte Stellen, an denen bereits Wasser durch den Deich sickerte, erfolgreich absichern können.
Meine Mutter, für einen Augenblick erschöpft auf eine Schaufel gestützt, sah mich herankommen und schickte mich sofort nach Hause. Ich gehorchte widerwillig, fand aber trotz großer Müdigkeit nicht in den Schlaf. Zu sehr wirkten die Bilder dieser Nacht nach. Erst als die Eltern zurückkehrten und mir erzählten, dass das Schlimmste überstanden sei und das Wasser wieder abliefe, schlief ich ermattet ein. Zu diesem Zeitpunkt wussten wir noch nicht, welche Tragödien sich nur einige Kilometer weiter ereignet hatten.
Zwei Tage später, am Sonntag, konnte die kleine Dorfkirche nicht alle Gottesdienstbesucher fassen, die ihrem ansonsten fremden Herrgott dafür danken wollten, dass er sie in der Sturmflutnacht behütet hatte. Ich lauschte andächtig den wortgewaltigen Ausführungen des Pastors. Noch einmal durchlebte ich jenen traumgleichen Moment im Sturm auf dem Deich, der mir ganz allein gehörte.
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So könnte es gewesen sein. Die Szene mit dem Vollmond, der sich auf dem unruhigen dunklen Fluss spiegelte, habe ich jedenfalls noch ganz deutlich vor Augen.