Ciconia
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Jahrestag auf Helgoland
(Aktuelle Version)
12. Oktober - Ausflug mit Luisa nach Helgoland
Ein Mann in sportlicher Kapuzenjacke marschiert an diesem Freitagmorgen mit entschlossenen Schritten und betont aufrechter Haltung zum Anleger der Helgoland-Fähre. Die ins Gesicht gegrabene Traurigkeit, betont durch dunkle Augenringe und tiefe Falten um die Mundwinkel, will nicht recht zu seinem forschen Auftreten passen. Er mag um die sechzig sein.
Auf dem Wasser, das behäbig elbabwärts fließt, glitzert die frühe Oktobersonne. Der Mann kramt eine altmodische Sonnenbrille aus seinem Rucksack und blickt einige Minuten gedankenverloren über den Fluss.
Aus Richtung Hamburg rauscht der Katamaran “Halunder Jet“ heran. Nur wenige Fahrgäste steigen hier am Willkomm Höft zu, die Mehrzahl der Passagiere ist seit den Landungsbrücken an Bord. Der Mann auf seinem Fensterplatz verfolgt das Ablegemanöver. Die Wasserjets quirlen das träge Elbwasser auf und deuten an, was sie später auf hoher See leisten werden.
An Backbord ducken sich Fachwerkhäuser hinter den Deich, rot-weiße Leuchttürme ragen stolz darüber hinaus. Das Alte Land ... Im Frühling zur Kirschblüte war der Mann oft mit seiner Frau dort. Luisa hat die Spaziergänge auf den Deichen sehr gemocht.
Brunsbüttel, der Nord-Ostsee-Kanal ... Er steht in Gedanken vertieft auf dem engen offenen Oberdeck und erinnert sich an die Norwegen-Kreuzfahrt im vorletzten Sommer. Zum ersten Mal an diesem Tag kämpft er mit den Tränen.
Der Zwischenhalt in Cuxhaven lenkt ihn vorübergehend ab. Er beobachtet das hektische Treiben am Kai. Gutgelaunte Wochenend-Touristen drängen auf den Katamaran. Sein Blick gleitet wehmütig zum Feuerschiff Elbe 1. Drei Jahre liegt nun schon die Museumsfahrt zurück.
Nach dem Ablegen protzt der Katamaran auf dem offenen Meer mit Höchstgeschwindigkeit. Er zieht eine dichte weiße Gischtwolke hinter sich her, deren ausdünnende Spur am Horizont in der Mittagssonne bronzen funkelt. Die See ist ruhig, beinahe spiegelglatt. Das hätte Luisa gefallen. Sie wurde schnell seekrank, trotzdem liebte sie das Meer. Noch eine knappe Stunde bis Helgoland.
Im warmen Salon döst der Mann ein wenig und hängt seinen Träumen nach. Unwirklich und geheimnisvoll taucht irgendwann der Felsen aus dem Meer auf. Die bunten Hummerbuden am Kai begrüßen die Ankommenden. Der Mann wartet, bis die Fähre alle Passagiere ausgespuckt hat und geht als Letzter von Bord. Er hat keine Eile.
Das kleine Fischrestaurant an der Ecke ... Auch heute sind einige Tische auf der Terrasse gedeckt, die milde Sonne lädt zum Sitzen ein. Er bestellt Pannfisch und Bratkartoffeln, Luisas Lieblingsgericht, wenn sie an der Küste unterwegs waren.
Die zollfrei angebotenen Waren in der Hauptgeschäftsstraße interessieren ihn anschließend wenig. Er nimmt den Aufzug zum Oberland und schlägt zielstrebig den üblichen Rundweg ein, den sie so oft gegangen sind. Die Bank mit Blick auf die Lange Anna ... Ihr Lieblingsplatz wird gerade frei. Ein junges Paar schlendert händchenhaltend davon. Der Mann verweilt eine gute halbe Stunde und blickt versonnen auf das Wasser. Als sie vor einem Jahr zum letzten Mal zusammen hier waren, fiel Luisa der Rundgang schon schwer. Die Krankheit war weit fortgeschritten. Trotzdem hatte sie darauf bestanden, noch einmal nach Helgoland zu fahren. Heute ist er froh, dass er ihr diese Bitte erfüllen konnte.
Von einem vorbeituckernden Ausflugsboot schallt eine Lautsprecherstimme über die Klippen herauf und reißt ihn aus seinen Erinnerungen. Wie unbeschwert das fröhliche Lachen der Touristen klingt!
Zeit zum Weitergehen. Der Weg führt ihn vorbei an der idyllisch gelegenen Kleingartenkolonie zurück zur Geschäftsstraße. Vor einem Fotoladen bleibt er lange stehen und betrachtet die Auslagen. Ein Fernglas hätten sie damals auf der Kreuzfahrt gern dabei gehabt. Braucht er das jetzt noch? Der Mann hat sich schon einige Schritte entfernt, als er plötzlich innehält. Entschlossen kehrt er um und verlässt bald darauf das Geschäft mit einem Fernglas.
Der kleine Cafégarten ... Ihm bleibt nur ein Viertelstündchen für einen Kaffee, dann hastet er zum Anleger. Tagesgäste nützen in der Hafenstraße die letzte Möglichkeit, zollfrei einzukaufen, und eilen mit vollgestopften Tüten zur Fähre. Der Mann belässt es bei einer kleinen Flasche Cognac. Er nimmt sich vor, abends ein Gläschen auf Luisa zu trinken.
Der Katamaran legt ab. Vom Oberdeck schaut der Mann eine Weile zu, wie der Jet kraftvoll schaumige weiße Gischt aufwirbelt. Die Insel verschwindet langsam am Horizont. Bis Cuxhaven steht er regungslos mit hochgezogener Kapuze an der Reling. Container-Riesen gleiten fast lautlos hinaus aufs offene Meer.
Die schönste Stunde des Tages ... In der Elbmündung taucht die tiefstehende Abendsonne das Wasser in kräftige Farben, von blutrot bis satt goldgelb. Wie Scherenschnitte wirken in dieser Kulisse die Konturen der unzähligen Windräder in der flachen Landschaft. In diesem stimmungsvollen Licht hat der Mann vor einem Jahr eines der letzten Fotos seiner Frau aufgenommen: Luisa unter der Schiffsflagge, in ihrem roten Anorak, mit wind- und sonnengeröteten Wangen und trotz der ständigen Schmerzen liebevoll lächelnd. Es wird immer sein Lieblingsfoto bleiben.
Allmählich bricht die Dämmerung herein, die Kühle lässt ihn frösteln. Im Salon bestellt der Mann ein Bier. Nach dem ersten tiefen Schluck zieht er ein dickes blaues Notizbuch und einen Kugelschreiber aus dem Rucksack. Er hat das Tagebuch in den vergangenen Monaten fast vollgeschrieben, nur wenige Seiten sind noch frei.
„Meine liebe Luisa“, beginnt er diesen Eintrag wie alle vorigen, „ich habe heute endlich etwas getan, das mir sehr wichtig war: Ich bin allein nach Helgoland gefahren. Der Jahrestag unseres Ausflugs schien mir gut geeignet, um möglichst alles noch einmal so zu erleben wie damals. Du hast mir in deinen letzten Wochen häufig gesagt, ich müsse auch ohne dich Freude am Leben finden. Der heutige Tag war mein erster Versuch.
Ich habe mir übrigens endlich ein Fernglas gekauft. Vielleicht werde ich eines Tages wieder die Kraft haben, eine größere Reise zu unternehmen. Wohin auch immer – du wirst stets dabei sein. In Liebe dein Reinhard.“
Der Mann schließt das Tagebuch und verstaut es sorgfältig im Rucksack. Schon tauchen die Lichter des Schulauer Fährhauses in der Ferne auf, er ist bereit zum Aussteigen. Die wenigen Fahrgäste verlieren sich eilig in der Dunkelheit, der Katamaran braust in Richtung Hamburg davon.
Am Ufer schaut der Mann lange Zeit über den dunklen Strom. Morgen wird er wieder zum Friedhof gehen, aber der Weg wird ihm dieses Mal leichter fallen.
(Aktuelle Version)
12. Oktober - Ausflug mit Luisa nach Helgoland
Ein Mann in sportlicher Kapuzenjacke marschiert an diesem Freitagmorgen mit entschlossenen Schritten und betont aufrechter Haltung zum Anleger der Helgoland-Fähre. Die ins Gesicht gegrabene Traurigkeit, betont durch dunkle Augenringe und tiefe Falten um die Mundwinkel, will nicht recht zu seinem forschen Auftreten passen. Er mag um die sechzig sein.
Auf dem Wasser, das behäbig elbabwärts fließt, glitzert die frühe Oktobersonne. Der Mann kramt eine altmodische Sonnenbrille aus seinem Rucksack und blickt einige Minuten gedankenverloren über den Fluss.
Aus Richtung Hamburg rauscht der Katamaran “Halunder Jet“ heran. Nur wenige Fahrgäste steigen hier am Willkomm Höft zu, die Mehrzahl der Passagiere ist seit den Landungsbrücken an Bord. Der Mann auf seinem Fensterplatz verfolgt das Ablegemanöver. Die Wasserjets quirlen das träge Elbwasser auf und deuten an, was sie später auf hoher See leisten werden.
An Backbord ducken sich Fachwerkhäuser hinter den Deich, rot-weiße Leuchttürme ragen stolz darüber hinaus. Das Alte Land ... Im Frühling zur Kirschblüte war der Mann oft mit seiner Frau dort. Luisa hat die Spaziergänge auf den Deichen sehr gemocht.
Brunsbüttel, der Nord-Ostsee-Kanal ... Er steht in Gedanken vertieft auf dem engen offenen Oberdeck und erinnert sich an die Norwegen-Kreuzfahrt im vorletzten Sommer. Zum ersten Mal an diesem Tag kämpft er mit den Tränen.
Der Zwischenhalt in Cuxhaven lenkt ihn vorübergehend ab. Er beobachtet das hektische Treiben am Kai. Gutgelaunte Wochenend-Touristen drängen auf den Katamaran. Sein Blick gleitet wehmütig zum Feuerschiff Elbe 1. Drei Jahre liegt nun schon die Museumsfahrt zurück.
Nach dem Ablegen protzt der Katamaran auf dem offenen Meer mit Höchstgeschwindigkeit. Er zieht eine dichte weiße Gischtwolke hinter sich her, deren ausdünnende Spur am Horizont in der Mittagssonne bronzen funkelt. Die See ist ruhig, beinahe spiegelglatt. Das hätte Luisa gefallen. Sie wurde schnell seekrank, trotzdem liebte sie das Meer. Noch eine knappe Stunde bis Helgoland.
Im warmen Salon döst der Mann ein wenig und hängt seinen Träumen nach. Unwirklich und geheimnisvoll taucht irgendwann der Felsen aus dem Meer auf. Die bunten Hummerbuden am Kai begrüßen die Ankommenden. Der Mann wartet, bis die Fähre alle Passagiere ausgespuckt hat und geht als Letzter von Bord. Er hat keine Eile.
Das kleine Fischrestaurant an der Ecke ... Auch heute sind einige Tische auf der Terrasse gedeckt, die milde Sonne lädt zum Sitzen ein. Er bestellt Pannfisch und Bratkartoffeln, Luisas Lieblingsgericht, wenn sie an der Küste unterwegs waren.
Die zollfrei angebotenen Waren in der Hauptgeschäftsstraße interessieren ihn anschließend wenig. Er nimmt den Aufzug zum Oberland und schlägt zielstrebig den üblichen Rundweg ein, den sie so oft gegangen sind. Die Bank mit Blick auf die Lange Anna ... Ihr Lieblingsplatz wird gerade frei. Ein junges Paar schlendert händchenhaltend davon. Der Mann verweilt eine gute halbe Stunde und blickt versonnen auf das Wasser. Als sie vor einem Jahr zum letzten Mal zusammen hier waren, fiel Luisa der Rundgang schon schwer. Die Krankheit war weit fortgeschritten. Trotzdem hatte sie darauf bestanden, noch einmal nach Helgoland zu fahren. Heute ist er froh, dass er ihr diese Bitte erfüllen konnte.
Von einem vorbeituckernden Ausflugsboot schallt eine Lautsprecherstimme über die Klippen herauf und reißt ihn aus seinen Erinnerungen. Wie unbeschwert das fröhliche Lachen der Touristen klingt!
Zeit zum Weitergehen. Der Weg führt ihn vorbei an der idyllisch gelegenen Kleingartenkolonie zurück zur Geschäftsstraße. Vor einem Fotoladen bleibt er lange stehen und betrachtet die Auslagen. Ein Fernglas hätten sie damals auf der Kreuzfahrt gern dabei gehabt. Braucht er das jetzt noch? Der Mann hat sich schon einige Schritte entfernt, als er plötzlich innehält. Entschlossen kehrt er um und verlässt bald darauf das Geschäft mit einem Fernglas.
Der kleine Cafégarten ... Ihm bleibt nur ein Viertelstündchen für einen Kaffee, dann hastet er zum Anleger. Tagesgäste nützen in der Hafenstraße die letzte Möglichkeit, zollfrei einzukaufen, und eilen mit vollgestopften Tüten zur Fähre. Der Mann belässt es bei einer kleinen Flasche Cognac. Er nimmt sich vor, abends ein Gläschen auf Luisa zu trinken.
Der Katamaran legt ab. Vom Oberdeck schaut der Mann eine Weile zu, wie der Jet kraftvoll schaumige weiße Gischt aufwirbelt. Die Insel verschwindet langsam am Horizont. Bis Cuxhaven steht er regungslos mit hochgezogener Kapuze an der Reling. Container-Riesen gleiten fast lautlos hinaus aufs offene Meer.
Die schönste Stunde des Tages ... In der Elbmündung taucht die tiefstehende Abendsonne das Wasser in kräftige Farben, von blutrot bis satt goldgelb. Wie Scherenschnitte wirken in dieser Kulisse die Konturen der unzähligen Windräder in der flachen Landschaft. In diesem stimmungsvollen Licht hat der Mann vor einem Jahr eines der letzten Fotos seiner Frau aufgenommen: Luisa unter der Schiffsflagge, in ihrem roten Anorak, mit wind- und sonnengeröteten Wangen und trotz der ständigen Schmerzen liebevoll lächelnd. Es wird immer sein Lieblingsfoto bleiben.
Allmählich bricht die Dämmerung herein, die Kühle lässt ihn frösteln. Im Salon bestellt der Mann ein Bier. Nach dem ersten tiefen Schluck zieht er ein dickes blaues Notizbuch und einen Kugelschreiber aus dem Rucksack. Er hat das Tagebuch in den vergangenen Monaten fast vollgeschrieben, nur wenige Seiten sind noch frei.
„Meine liebe Luisa“, beginnt er diesen Eintrag wie alle vorigen, „ich habe heute endlich etwas getan, das mir sehr wichtig war: Ich bin allein nach Helgoland gefahren. Der Jahrestag unseres Ausflugs schien mir gut geeignet, um möglichst alles noch einmal so zu erleben wie damals. Du hast mir in deinen letzten Wochen häufig gesagt, ich müsse auch ohne dich Freude am Leben finden. Der heutige Tag war mein erster Versuch.
Ich habe mir übrigens endlich ein Fernglas gekauft. Vielleicht werde ich eines Tages wieder die Kraft haben, eine größere Reise zu unternehmen. Wohin auch immer – du wirst stets dabei sein. In Liebe dein Reinhard.“
Der Mann schließt das Tagebuch und verstaut es sorgfältig im Rucksack. Schon tauchen die Lichter des Schulauer Fährhauses in der Ferne auf, er ist bereit zum Aussteigen. Die wenigen Fahrgäste verlieren sich eilig in der Dunkelheit, der Katamaran braust in Richtung Hamburg davon.
Am Ufer schaut der Mann lange Zeit über den dunklen Strom. Morgen wird er wieder zum Friedhof gehen, aber der Weg wird ihm dieses Mal leichter fallen.
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