Maulbeerernte am Ostkreuz

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"Aber Du Baum, der mit seinen Ästen den Körper eines einzelnen bedauernswerten bedeckst, bald wirst Du zwei bedecken, bewahre die Zeichen des Blutes und trage als Zeichen des Todes immer dunkle, der Trauer angepasste Früchte, als Andenken an zweifach vergossenes Blut!“ So sprach sie und stürzte in das Schwert dessen Spitze sie unterhalb der Brust angesetzt hatte, das vom Blut noch warm war."

Diese Zeilen stammen von Ovid und behandeln den Freitod des Liebespaares Pyramus und Thisbe unter einem Maulbeerbaum. Die Maulbeerbäume dienen seitdem als Warnung an die Eltern, sich nicht gegen die Liebe ihrer Kinder zu stellen. Vielleicht sollten einige davon in Kreuzberg angepflanzt werden, bloß da braucht das liebende Mädchen sich nicht in die Schwertklinge zu stürzen, das erledigt schon ihre Familie.


An der Marktstraße, auf Höhe der Pfarrstraße, kamen drei fröhliche, bierkastentragende junge Männer mit bunten Haaren auf mich zu. Ich taxierte sie vom Bauchgefühl her auf Berlinbesucher, die in der Wohnung von einem Kumpel eine feuchtfröhliche Nacht verlebt hatten und jetzt Nachschub holten, so nach dem Motto „Sie verkauften ihre Betten, und sie schliefen auf Stroh.“ Die Stadt gehörte ihnen. Alte Zeiten kamen mir in den Sinn.

Einer von ihnen, ein freundlich wirkender junger Mann mit orangeroten Haaren, wohl der sensibelste der drei, hatte meinen Blick aufgefangen und verstand mich ohne Worte. Habe ich denn wirklich so frustriert ausgesehen?

Ich war an diesem kühlen Januarmorgen hier unterwegs, um Maulbeerbäume zu fotografieren. Angeblich war in dem Park an der Rummelsburger Straße, der ein ehemaliger Friedhof ist, eine Allee von 12 Maulbeerbäumen angepflanzt worden. Damit sollten die Maulbeerbäume am Ostkreuz ersetzt werden, die wegen der Bauarbeiten abgeholzt worden waren.

Die riesigen Maulbeerbäume, die ihre Zweige über die gemauerte Umfriedung an der Ecke Kynaststraße streckten, habe ich lange nicht beachtet und die Beeren für giftig gehalten. Mein spanischer Freund wusste es besser. Für ihn waren Maulbeerbäume alte Bekannte aus seiner Heimat, und er ermutigte mich, die Beeren zu probieren. Sie schmeckten wie Holunderbeeren und sollen sehr gut bei Diabetes sein.

Zu uns gesellte sich auch noch ein freundliches, barfüßiges Ökomädchen mit handgewebtem Fransenrock und hüftlangen Locken, die ebenfalls Maulbeeren pflückte. Ich hoffe, dass sie keine Schuhphobie hat. Mein Freund und sie sahen sich an und spürten auf Anhieb Verbundenheit. Wie er hatte wohl auch sie die Idee, von den Nüssen und Früchten, die am Wegesrand wachsen, zu leben.
Er schwärmte mir davon vor, wie er als Kind in einer Schachtel immer Seidenraupen mit Maulbeerblättern gefüttert hatte, und dann darauf wartete, bis sie sich einpuppten und zu Schmetterlingen wurden.

Die ganze Ecke an der Kynaststraße ist im Zuge der Sanierung vom Bahnhof Ostkreuz neu gemacht worden, und die herrlichen Maulbeerbäume mussten natürlich auch dran glauben.
In dem Gebäude vor dem sie standen, und das jetzt ein Hostel ist, war von 1908 bis nach dem Krieg eine Gemeindeschule.
Ich habe angenommen, dass ein Lehrer bei einer Bildungsreise nach Spanien vor hundert Jahren, während er mit Botanisiertrommel und Schmetterlingsnetz bewaffnet durch die Extremadura wanderte, ein paar Samen des Maulbeerbaums in die Tasche seines Gehrocks gleiten ließ, um sie in seiner Gemeindeschule am Ostkreuz mit seinen Schülern im Arboretum auszusäen und später auf dem Schulhof anzupflanzen.
Er wollte damit den rachitischen Berliner Arbeiterkindern ein Stück von der Welt mitbringen, die für sie unerreichbar war.

Damit hatte ich total danebengelegen, denn die Maulbeerbäume wurden schon nach dem 30jährigen Krieg in Brandenburg kultiviert, weil man selbst Seide herstellen wollte. Die Samen und die Raupen bekamen die Leute kostenlos. Eine zweite Phase gab es noch im 19. Jahrhundert und eine dritte, wovon wohl die Bäume am Ostkreuz stammen, in den dreißiger Jahren, als die Nazis Fallschirmseide produzieren wollten.
Besonders Schulen wurden aufgefordert, Maulbeerbäume anzupflanzen und mit den Blättern die Seidenraupen zu füttern. Da hat mein Freund also gar nicht mal so danebengelegen mit seinen Kindheitserinnerungen.
Bestimmt können sich einige alte Leute aus der Gegend aus ihrer Schulzeit noch an ähnliches erinnern.

Die exotischen Zuwanderer aus einer heißeren Klimazone hatten sich hier am Ostkreuz gut eingewöhnt und tiefe Wurzeln geschlagen und hätten noch viele Jahre vor sich gehabt. In Schilda soll es einen Maulbeerbaum geben, der 500 Jahre alt ist.
Viele Jahrzehnte standen die Bäume mit Migrationscharakter hier am Ostkreuz, wiegten bedächtig die Köpfe beim Anblick der Bordsteinschwalben in der Kynaststraße, blickten traurig auf die Bahngleise gleich nebenan und träumten sehnsüchtig von ihrer fernen, sonnigen Heimat im Süden. Dann kamen die Bagger.

Die Bäume haben bestimmt auch viele von den Friedrichshainer Kindern überlebt, die sie pflegten und mit ihren Blättern die Seidenraupen gefüttert haben. Deren einzige Gelegenheit, ein Stück von der Welt zu sehen, war wohl der 2. Weltkrieg. hre Gebeine bleichen heute weit weg vom Ostkreuz an den Küsten der Normandie.

Ich habe mal vor vielen Jahren einen Film über eine kanadische Baumaktivistin gesehen, die gegen die Abholzung hundertjähriger Baumriesen kämpfte. Sie und und ihre Freunde hatten sich in den Baumkronen Baumhäuser gebaut und bekamen über einen Seilzug Essen von Unterstützern. Sie war erst 17 und hatte noch den Idealismus der Jugend. Solange sie auf den Bäumen lebten, trauten sich die Mitarbeiter der Abholzungsfirma nicht, mit der Arbeit zu beginnen.

Überhaupt hat man in Berlin etwas gegen gesunde Bäume. Am Rummelsburger Ufer sind Bäume angepflanzt worden, die nun schon jahrelang elendiglich vor sich hinmickern, aber wo ein gesunder kräftiger Baum steht wird zur Säge gegriffen.
Bei mir auf dem Hof meiner ehemaligen Wohnung in der Neuen Bahnhofstraße stand auf dem Hinterhof ein riesengroßer Kastanienbaum.
Wenn mich Freunde besuchten und vom Vorderhaus in den Hinterhof traten, waren sie jedes Mal erschlagen von der Schönheit dieses Baumes. Ich habe nie verstanden, woher er seine Lebenskraft genommen hat.

Jedenfalls als das Haus Anfang der 90er an den westdeutschen Eigentümer zurückgegeben wurde, war seine erste Amtshandlung, den Baum fällen zu lassen. Ich habe immer gedacht, dass es dazu zig Genehmigungen bedarf. Ich hatte dann endlich freie Sicht auf die Mülltonne und brauchte mir nicht mehr von Blättergeraschel und Vogelgezwitscher den Nerv rauben zu lassen, und den Anblick der Kastanienblüte brauchte ich auch nicht mehr zu ertragen.


An diesem trüben und kalten Berliner Morgen, an dem ich unterwegs war, um die Maulbeerbäume zu fotografieren, fiel mir besonders auf, wie sehr sich die Bezirke Friedrichshain und Lichtenberg unterscheiden. Wenn man die Stadtbezirksgrenze überschritten hat, scheinen die Uhren anders zu gehen. Jetzt kamen mir auch keine sorglosen Touristen und fröhlichen Studenten mehr entgegen.

Aber dieser kühle Lichtenberger Vormittag hatte trotzdem die aufregende Atmosphäre, die entsteht, wenn ein Haufen Häuser, Menschen, Straßen, Autos, Bäume auf engstem Raum zusammengedrängt sind und die wahrscheinlich nur jemand fühlt, der wie ich vom Dorf kommt.
Davon schienen die Berliner, die mir mürrisch Platz machten, während sie, wohl auf dem Weg zur Arbeit oder zum Amt, auf den Bus warteten, jedenfalls nichts zu verspüren.

In dieser Gegend schien ein Wettbewerb darüber ausgebrochen zu sein, wer die meisten Bauzäune in einer Straße unterbringen konnte. Das machte die Verkehrssituation horrible, wie ein spanischer Freund sagen würde, sowohl für Autofahrer, wie auch für Fußgänger. Sein Testament sollte man am besten schon gemacht haben.

Endlich, nachdem ich mich tapfer durch das Verkehrschaos geschlagen hatte, sah ich den Park an der Rummelsburger Straße. Das Fotografieren von Maulbeerbäumen wurde leider dadurch nicht einfacher gemacht, dass ich eigentlich gar nicht wusste, wie Maulbeerbäume aussehen.

Der einzige Besucher außer mir in dem riesengroßen Park war ein Mann, der mit vielen Jacken übereinander und einem Berg von Tüten wohl eine sehr frische Januarnacht verbracht hatte. Ich wollte ihn schon um Rat fragen, schließlich war der Park ja sein Wohnzimmer, und da kennt man sich aus. Aber er hatte bestimmt gerade andere Probleme als Maulbeerbäume.

"Vieles ist töricht an eurer Zivilisation. Wie Verrückte lauft ihr weißen Menschen dem Geld nach, bis ihr so viel habt, daß ihr gar nicht lang genug leben könnt, um es auszugeben. Ihr plündert die Wälder, den Boden, ihr verschwendet die natürlichen Brennstoffe, als käme nach euch keine Generation mehr, die all dies ebenfalls braucht."
Tantanga Mani in „Weisheit der Indianer“
 
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Bo-ehd

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Liebe Friedrichshainerin,
was für ein wunderbar nostalgischer Text aus dem richtigen Leben. Dass du den Ovid auspackst, ist eine Klasse für sich und sicher nichts für die Jüngeren unter uns. Dafür müsste es bei deinem Indianerzitat am Schluss bei allen Lesern "ping" machen.
Gruß Bo-ehd
 
Hallo Bo-ehd,
leider hat sich alles wirklich so abgespielt. Starke, gesunde Bäume, einer Art, die selten vorkommt, wurden einfach abgeholzt. Und falls einer das Ostkreuz kennt. die Gegend ist nun wirklich nicht für landschaftliche Schönheit berühmt. Eine ziemlich trostlose Steinwüste.
Das die das einfach so gedurft haben. Woanders werden Autobahnen verlegt, um eine Eidechse zu schützen. Da hätte man die neue Kynaststraße einfach etwas verlegen können, und die Bäume mit Migrationscharakter hätten weiter der S-Bahn hinterherblicken dürfen. Jetzt haben sie an der Stelle die Kynaststraße in eine steile Trasse verwandelt, wo es andauernd knallt. Letztens gerade Unfallzeugin gewesen.
Auch das mit dem Hof in der Neuen Bahnhofstraße ist so passiert. Irgendwie hat den neuen Hausbesitzer aus Westdeutschland gestört - hat das Haus geerbt - dass wir Berliner den Blick auf einen Kastanienbaum haben. Da ist man gleich ganz anders in den Tag hineingegangen. "Na wartet, dass werde ich euch versauen", dachte er bei sich und bestellte das Abholzungskommando.
Ich komme ja ursprünglich aus dem Dorf. Da habe ich mir um so etwas nie Gedanken gemacht. Aber hier in B und mit zunehmendem Alter blutet mir das Herz, wenn Natur zerstört wird.
Gruß Friedrichshainerin
 



 
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