Peter Pietrowski
Mitglied
Regungslos sitzt er mit gesenktem Kopf da, während der Regen auf der metallischen Überdachung trommelt. Sein Haar ist nass und sein Blick trüb. Er starrt auf die leeren Gleise, während Menschen mit hektischen Schritten an ihm vorbei huschen. Sie schütteln Wasser von ihren Regenschirmen und Kapuzen, fluchen und atmen durch.
"Sieh dir diese Kleingeister an", lacht Micky ", fliehen vor dem Regen wie ein Schwarm Ameisen."
"...oder als wären sie aus Zucker", schmunzelt Marco und kaut auf seinen Fingernägeln rum.
"Insekten", bekräftigt Micky und lehnt sich vergnügt zurück. Marco weiß, dass Micky nicht echt ist, aber er ist der einzige, den er zum Reden hat. Er nennt ihn Micky wegen seiner albernen Stimme, die ihn an Micky Maus erinnert. Die Lautsprecher knacken und summen, dann ertönt eine Frauenstimme:" Achtung verehrte Fahrgäste, Linie acht fällt heute aus. Grund hierfür ist Erkrankung des Personals."
"Fuck...", ächzt Micky und wirft den Kopf in den Nacken. Marco ignoriert ihn und puhlt weiter an seinen Nägeln rum.
Nach einem Moment der Stille, springt Micky auf. Seine offene Lederjacke flattert und seine dicke Königskette klimpert. Er hüpft über den Bahnsteig nach vorne und stellt sich auf Zehenspitzen an die Kante. Während er zu beiden Seiten die Gleise hinauf schaut, verschränkt er die Arme hinter dem Rücken und pfeift eine muntere Melodie vor sich hin. Dann wirbelt er plötzlich herum. Seine Augen funkeln und er hat dieses dämliche Grinsen auf dem Gesicht, das Marco absolut nicht leiden kann. "Was denn?", fragt er genervt und will die Antwort eigentlich gar nicht hören. Langsam kommt Micky näher und summt dabei mit jedem Schritt melodisch ein Wort:"Lass... uns... ein... Spiel... spielen!" Er geht vor Marco in die Hocke und penetriert ihn mit seinem nervtötendem Blick.
Ohne diesen zu erwidern, murmelt Marco:" Spar dir diese abgewichste Saw-Schiene."
"Spar du dir dein arrogantes Getue", lautet die harsche Antwort," und hör auf, dir die Nägel abzukauen, als wärst du ein scheiß Bieber."
Marco gibt sich stöhnend geschlagen und stützt seinen Kopf an die zerkratzte Bahnhofsbank. "Komm schon", quengelt er weiter," das wird dir Spaß machen, ich schwör's dir!"
"Ich höre", erwidert Marco genervt. Micky springt wieder auf und sieht sich um. Er scheint nach etwas zu suchen oder nach jemanden. Listig und voller Tatendrang reibt er sich die Hände. Dann hält er plötzlich inne und sein Gesicht wird mit einem Mal ernst. "Okay, pass auf", ruft er zu Marco hinüber, der noch immer auf der Bank kauert," ich will, dass du jemanden umlegst!"
Marco schüttelt verwirrt den Kopf und blickt verängstigt um sich. "Bist du komplett bescheuert? Was brüllst du hier so laut für eine Scheiße rum?!", zischt er erschrocken.
Micky lacht. "Außer dir, kann mich doch keiner hören, du Holzkopf!" plärrt er.
Auch wieder wahr, denkt sich Marco und stößt einen erleichterten Seufzer aus. Micky kommt wieder näher, tritt ganz nah an ihn heran, bis ihre Gesichter sich beinahe berühren. Eine Strähne, die sich aus seiner geleckten Frisur gelöst hat, hängt von Mickys Stirn herab. Verstohlen flüstert er:"...und anfangen wirst du mit... ihr." Er zeigt mit dem Finger auf eine alte Frau mit weißem Haar. Sie steht an der Markierung nahe der Bahnsteigkante und murmelt einige unverständliche Worte vor sich hin. Ihr gelber Regenponcho tropft, während sie ihr einfaches Stadtrad auf der Stelle leicht vor und zurück schiebt. "Jetzt bist du komplett durchgedreht", winkt Marco ab und wendet sich wieder seinen abgenagten Fingernägeln zu. "Nicht mehr als du", lacht Micky," aber du sollst sie nicht wirklich töten, nur in deinem Kopf." Marco sieht ihn fragend an. Er versteht nicht. Micky verdreht genervt die Augen:"Mann, du sollst es dir vorstellen du Idiot! Sag' einfach, wie du es anstellen würdest."
Etwas widerwillig stimmt er zu. Die nächste Bahn kommt laut Tafel ohnehin erst in einer halben Stunde. Warum also nicht? Wenigstens hält Micky dann sein dämliches Maul. "Also schön", antwortet Marco und sieht nochmal zu der hageren alten Frau hinüber. "Warum sie?", will er von seinem Gegenüber wissen," die ist doch schon halb tot."
Micky hebt zuvorkommend den Zeigefinger vor Marcos Mund. "Babababa! Konzentration bitte!" Marco lächelt gequält. Tja... wie würde er es anstellen? Er legt den Kopf schief und denkt nach. Aus der Ferne erklingt ein Rauschen, welches sich schnell nähert. Der Schnellzug! Vor Marcos Augen blitzt es grell auf. Er fühlt, wie er aufsteht, zaghaft und doch voller Energie. Er nimmt Anlauf, sprintet an Micky vorbei und geradewegs auf die Frau zu. Im letzten Moment bemerkt diese erst, was vor sich geht, wirft erschrocken den Kopf herum und starrt Marco fassungslos an, der geradewegs auf sie zu stürmt. Sie hebt schützend die dürren Arme, doch zu spät - bevor sie schreien kann, rammt Marco sie mit voller Wucht. Mit der Schulter voran stößt er sie von der Kante. Japsend stürzt sie hinunter. Doch bevor ihr das harte Metall den Rücken brechen kann, schießt der Schnellzug wenige Millimeter vor Marcos Gesicht vorbei und erfasst den mageren Körper. Blut spritzt und Eingeweide fliegen. Der Poncho bleibt wie ein nasser Lappen an der Frontscheibe des Zuges kleben, begleitet von dem Geräusch berstender Knochen. Marco dreht sich um - die Klamotten und das Gesicht voller Blut. Der alte Drahtesel liegt regungslos auf dem Bahnsteig, nur das Vorderrad dreht sich langsam.
Es blitzt erneut vor Marcos Augen. Er sitzt wieder auf der Bank. "Hast du ihren Blick gesehen?", brüllt Micky laut und klopft sich mehrmals auf den Schenkel. Dann verzieht er verängstigt die Miene und versucht, den Blick der alten Frau zu imitieren. "Einfach geil!", jault er begeistert. Marco schmunzelt ein wenig. Er gibt zu, dass der Gedanke aufregend gewesen war. Der Moment, in dem er tief Luft geholt und sich aufgerafft hatte, der Augenblick, als er auf sie zugerannt war mit dem Ziel, ihr mickriges kleines Leben auszulöschen... Adrenalin pur. Sie war ihm schutzlos ausgeliefert gewesen. Sie steht weiterhin mit ihrem Rad am Bahnsteig, nichtsahnend über das Spiel und nörgelt noch immer vor sich hin. "Okay, okay, okay", versucht Micky sich wieder zu fangen und fläzt sich breitbeinig neben Marco auf die Bank.
"Wer als nächstes?", fragt er wieder etwas gefasster und lässt seinen Blick bereits durch die Menschenmenge schweifen. Seine schwarzen Stiefel tippeln unruhig auf dem Boden herum. Marco sieht sich ebenfalls um. So viele unbekannte Gesichter - jung, alt, männlich, weiblich, groß, klein - er kann sich nicht entscheiden.
"Oh oh", stößt Micky hervor," der da! Der ist perfekt!" Er schnippt wie wild mit dem Finger und hüpft auf der Bank auf und ab. Ein großer Mann - vielleicht Mitte vierzig - steht mit seinem Aktenkoffer in der Hand weiter hinten am Bahnsteig. Er ist von durchschnittlicher Statue, trägt einen grauen Anzug und kaut geistesabwesend auf seiner Unterlippe herum, während er hektisch auf seinem Smartphone tippt. Sein lichtes Haar ist nach hinten gegelt, wie das von Micky.
"Der könnte dein Vater sein", grunzt Marco.
"Schnauze du Clown", wehrt sich Micky ," und überleg dir lieber, wie du ihn ausknipsen würdest."
Er überlegt kurz. Der Mann steht zu weit weg von den Schienen. Davon abgesehen, wäre der gleiche Mord zweimal hintereinander zu langweilig. Er steckt die Hände in die Jackentaschen und bekommt seine Hausschlüssel zu fassen. Er grinst verstohlen.
"Watch and enjoy", raunt er Micky zu. Es blitzt wieder auf vor seinen Augen.
Marco bahnt sich seinen Weg durch die Menschen und geht langsam auf den Geschäftsmann zu. Dieser ist so in sein Handy vertieft, dass er den sich nähernden Schatten gar nicht wahrnimmt. Marcos Griff umschließt das kantige Metall seines Schlüssels fester. Als er nicht einmal einen halben Schritt von dem Typen entfernt ist, zieht er ruckartig den Hausschlüssel aus der Tasche. Der Bund klimpert, als Marco mit voller Kraft zustößt. Mit der gezackten Spitze voran, haut er das stumpfe Metall dem Mann in die Kehle. Nicht gleich dringt es durch die Haut.
Der Geschäftsmann fährt erschrocken herum und torkelt einige Schritte zurück. Das Handy gleitet ihm aus der Hand und fällt ungebremst auf den Boden, während er sich reflexartig an den Hals greift. Das Display springt.
Fassungslosigkeit und nackte Angst spiegeln sich in seinen Augen wider. Marco hält den blutigen Schlüssel wie eine Klinge in seiner geballten Faust und lässt nicht locker. Er bringt den Mann mit einem kräftigen Tritt in die Magengrube zu Boden und sticht ein weiteres Mal zu. Diesmal bohren sich die Zacken in sein rechtes Auge. Blut fließt und erstickendes Geschrei hallt über den Bahnhof. Marco setzt noch einige Hiebe nach, bis sich das weiße Hemd unter dem Anzug rot gefärbt hat und der Körper regungslos auf dem nassen Stein liegen bleibt. Weißes Licht blitzt auf.
"Und?", grinst Marco selbstgefällig. Micky kneift analysierend die Augen zusammen und verschränkt die Hände vor dem Mund. "Hmmm..."seufzt er," nett, ganz nett. Gut mit dem Schlüssel improvisiert, aber da hat mir das gewisse Etwas gefehlt."
Marco schüttelt verärgert den Kopf. "Dann mach's doch besser!", schnaubt er. Micky hüpft wieder von der Bank und schlendert über den Bahnsteig. Mehr an sich selbst gerichtet murmelt er:"Wir müssen das ganze spannender gestalten... mehr Abwechslung, mehr..." Er schlägt mehrmals mit der Faust in die hohle Hand und sucht nach der Antwort.
"...Abwechslung", wiederholt er nachdenklich und starrt Löcher in den farblosen Beton. Marco sieht ihn stumm an. Micky grinst wieder dämlich und greift in die Tasche seiner Lederjacke. Heraus zieht er einen Stapel Pokerkarten. "Zufall!", ruft er triumphierend,"Was könnte mehr Pep in die Sache bringen, als das Schicksal höchst persönlich?".
Marco ahnt Schlimmes. "Meinst du nicht, dass du ein klein wenig übertreibst?", lächelt er und zeigt seinem Gegenüber den Vogel. Micky winkt seine Zweifel wortlos ab und beginnt bereits die Karten wie ein professioneller Dealer zu mischen. Er zieht drei zufällige Karten heraus und hält diese Marco verdeckt hin. "Zieh eine", fordert er ihn auf. Marco zögert. "Und dann?", will er wissen.
Micky atmet schwer aus. Genervt antwortet er:"Mach es nicht anstrengender, als es ist."
Der junge Mann auf der Bank greift in die Luft.
Nahezu verschwörerisch erklärt Micky die Regeln, während er Marco mit eindringlichem Blick fixiert:"Ein Bild gibt die Art deines Opfers an - King gleich Mann, Queen gleich Frau, Jack gleich Kind..."
"Kind?", unterbricht ihn Marco schockiert.
"Hör zu!", faucht Micky. Sie sehen einander grimmig an. "Eine Zahl", fährt er mit einer Miene aus Stahl fort," gibt dir die Anzahl deiner Opfer an, wobei du frei wählen kannst."
Marco ist das ganze nicht geheuer. Er weiß zwar, dass alles nur ein Gedankenspiel ist, doch die kalte Entschlossenheit Mickys macht ihm Angst. Andererseits regt sich tief in seinem Inneren eine unbändige Neugier, gemischt mit Aufregung, welche stetig an Kraft gewinnt. Zaghaft zieht er an der Karte, die zwischen seinen beiden Fingern hängt. Er dreht sie langsam um.
Kreuz-Zwei.
"Und... die Farbe?", fragt er vorsichtig. Seine Stimme zittert vor Aufregung und Unsicherheit. Der Regen nimmt zu. Das rhythmische Trommeln auf dem Dach schwillt zu einem monotonen Rauschen an. Micky lächelt schwach:"Bei rot entscheidest du, wie du es anstellst und bei schwarz entscheide ich." Marco nickt und hält ihm die Karte wortlos entgegen. Micky klatscht in die Hände.
"Ah, wir fangen klein an, wie?," schmunzelt er vergnügt,"Dann wollen wir mal!"
Er rupft Marco die Kreuz-Zwei aus der Hand, schiebt sie zurück in den Stapel und lässt die Karten wieder in seine Tasche verschwinden. Dann geht er den Bahnsteig hinauf, wo ein kleiner Bereich aufgrund von Bauarbeiten schon seit Monaten abgesperrt ist. Er packt das Baustellenschild mit beiden Händen und löst es aus dem Sockel. Das tropfnasse Schild wie einen mächtigen Zweihänder geschultert, latscht er wieder zurück. Er hält Marco das schwere Metall hin. "Have fun!", schmunzelt er. Etwas verwirrt nimmt er das Schild entgegen. "Soll ich jetzt einen auf Conan der Barbar machen, oder was?", lacht er und schwingt das Baustellenmännchen durch die Luft. Micky deutet mit seinen Händen eine Explosion an, die von seinem Kopf ausgeht und stimmt in sein Gelächter mit ein:"Sei kreativ!"
Mit diesen Worten schubst er Marco von der Bank und lümmelt sich selbst wieder auf das zerkratzte Gitter. Mit erwartungsvollem Blick beäugt er den jungen Mann. Dieser blickt zurück.
Er steht vor einer leeren Bahnhofsbank.
Marco konzentriert sich auf sein Ziel. Es flackert hell vor seinen Augen.
Seine Hände packen den Stab mit eisernem Griff zu, sodass die Haut an seinen Fingern gelb wird. Er geht langsam auf sein erstes Opfer zu - ein junger Mann mit Jeans und Bomberjacke. Er hält einen Kaffeebecher in der Hand und wischt sich mit der anderen die Regentropfen von der Stirn. Er bemerkt das auffällige Rot des Schildes im Zwischenblick, als Marco näher kommt und sieht ihn irritiert an. Marco hebt das Eisen hoch über seinen Kopf und holt in voller Länge aus.
Das Gesicht des Bomberjacken-Mannes durchläuft innerhalb weniger Augenblicke eine Achterbahn der Emotionen. Die Verwunderung wandelt sich in Überraschung, steigt hinauf in Schock und stürzt hinab in panische Angst. Das Baustellenschild saust herab und trifft seinen Kopf. Knirschend verbiegt sich das Metall, als es sich im Schädelknochen verkantet. Blut benetzt das schwarze Strichmännchen.
Der Mann schreit.
Er hat den Pappbecher fallen gelassen und bricht unter der Wucht des Schlages in sich zusammen. Er fängt sich mit den Händen auf. Marco setzt seine Schuhsohle an die Schläfe seines wimmernden Opfers an und tritt den Kopf von sich, während er zeitgleich das Schild zu sich reißt. Es knackt laut. Der Mann fällt ächzend zur Seite.
Marco holt erneut aus und schlägt blind ein weiteres Mal zu. Das schiefe Dreieck landet mit der scharfen Kante diagonal in seinem Hals. Die Hauptschlagader reißt, die Luftröhre wird durchbohrt.
"Woho - Marco," feuert ihn Micky von der Bank an," fick den Bastard, FICK IHN!"
Bomberjacken-Bastard windet sich wie ein Aal auf dem Boden, ächzt und gurgelt. Er starrt mit hervor gequollenen Augäpfeln fassungslos auf die immer größer werdende Lache aus Blut, das aus dem Spalt in seinem Schädel rinnt. Seine Hände krallen sich verkrampft in den nassen Beton, schaben und kratzen wild, bis seine Fingernägel brechen und das Fleisch darunter wund ist. Marco sieht auf ihn herab.
Insekten.
Er hebt den Fuß und stampft mit aller Kraft auf.
Der Schädelknochen knackt ein weiteres Mal. Ein kraftloses Keuchen dringt aus seinem Mund, gefolgt von mehr Blut, das aus dem Mund schießt.
Ameisen.
Ein weiterer Tritt.
Knochen bersten, Gliedmaßen zucken.
Dreck.
Noch ein Tritt.
Augen springen aus den Höhlen, Zähne brechen aus dem Kiefer.
Nichts!
Ein letzter Tritt - so fest es geht.
Rosa Hirnmasse quillt heraus, rotes Fleisch klebt auf dem Boden.
Stumm starrt Marco auf den leblosen Körper herab, dessen Glieder noch immer leicht beben. Es ist kein Todeskampf mehr, kein verzweifelter Überlebensinstinkt, der gegen das vollstreckte Urteil aufzubegehren versucht. Es sind lediglich Nervenimpulse - Fehler - die durch das Fleisch jagen, da es zu dumm ist zu begreifen, dass es bereits tot ist.
Fehler!
Marco fühlt keine Schuld. Warum sollte er auch? Niemand fühlte sich schuldig, wenn man eine lästige Fliege an der Wand erschlug oder eine Spinne auf dem Fußboden platt trat.
Erfüllt von Genugtuung wendet er sich ab.
Weißes Licht blitzt auf.
Micky hockt noch immer breit grinsend auf der Bank, wie eine Krähe auf dem Mast.
"Du wirst besser", bemerkt er und haut Marco kumpelhaft auf die Schulter. Dieser lächelt nur schwach. Er wiederholt die letzten Momente von Bomberjacken-Bastard nochmal vor seinen Augen. Er sieht seine Angst, spürt seine Hilflosigkeit - ja, er hat ihn ausgelöscht, platt gemacht und niedergewalzt.
Wo kam der arme Teufel wohl her und was hatte er heute noch vor? Gab es eine Familie, die auf ihn wartete - eine Frau und Kinder vielleicht? Doch was hätte das für einen Unterschied gemacht? Nichts ist so sicher, wie der Tod und er - Marco - hatte ihn von seinem mickrigen Dasein erlöst. Niemand sonst hätte den Mut dazu gehabt! Die alte Frau mit dem Fahrrad, der Schnösel mit dem Smartphone und Bomberjacken-Bastard - sie alle waren ihren kleinweltlichen Problemen hinterher gerannt, bis er gekommen war. Er hatte sie alle gerichtet, wie ein Gott! - und erlöst.
Er blinzelt.
"Zurück zum Spiel", ruft Micky heiter und lässt seinen aufmerksamen Blick über die Menge schweifen," einen hast du noch!"
Richtig, das Spiel.
Er wird wieder in grelles Licht getaucht.
Er steht wieder vor dem entstellten Körper, die Hände und Schuhe mit Blut überströmt. Das Baustellenschild liegt demoliert auf der Seite. Er wird mit fassungslosen Blicken angestarrt. Hysterie macht sich breit. Das Gewusel der Menge geht wieder los, als diese realisiert, was soeben passiert ist. Der Schwarm hetzt panisch zu den Treppen, stolpert und überrennt sich fast. Nur einige wenige heben sich ab aus der Masse, wenden sich entgegen des Stroms und versuchen den Angreifer zu stellen.
Kommt nur her, ihr Maden!
Er sammelt das verbogene Metall wieder auf und lässt den ersten geduldig näher kommen - ein kleiner bauchiger Mann mit Baustellenjacke und -helm. Er wirbelt drohend die Fäuste und spuckt laute Töne. Marco bleibt ruhig. Er weiß, dass er nicht verlieren kann. Das Regenwasser tropft von seinen Haaren und rinnt an seiner Nase und seinen Wangen hinab. Er atmet die feuchte Luft tief ein und grinst. Er grinst breit, verwegen und siegessicher.
Er grinst wie Micky.
Der Bauarbeiter nimmt zwei Schritte Anlauf und holt weit mit seiner Rechten aus. Marco hebt die Stange des Schildes vor sich. Die Hand des Mannes knirscht laut, als diese mit voller Wucht gegen das Metall schlägt. Augenblicklich verzieht sich sein Gesicht zu einer schmerzerfüllten Miene.
Er hat keine Zeit zu schreien.
Marco setzt mit dem stumpfen Ende des Stabes nach und trifft den Dicken von unten am Kiefer. Sein Kopf klappt nach hinten und der Mann mit den grell orangenen Klamotten kippt wie ein Zementsack um. Dumpf schlägt er auf.
Bewusstlos ist nicht tot.
Er wendet das Dreieck mit dem Baustellenmännchen auf die Seite, die weniger verbogen ist. Es schnellt herab, wie eine Axt und schneidet in seinen Hals. Es folgen zwei weitere Hiebe. Erneut wird der Bahnsteig mit Blut benetzt, erneut verfällt Marco in Mordrausch. Er hackt auf den Bauarbeiter ein, bis das Schild am Stein darunter schabt. Der ausgefranste Schnitt weitet sich und der Kopf löst sich vom Rest des Körpers. Langsam rollt dieser ein paar Zentimeter über den Stein. Marco verspürt keine Anstrengung und keine Mühe.
Feuert ihn Micky weiter an?
Er weiß es nicht, denn er hört ihn nicht.
Er hört nur den Regen prasseln und den Puls in seinen Ohren hämmern. Er grinst noch immer und fletscht die Zähne wie ein hungriges Tier.
Er will mehr Blut.
Er will mehr Tod!
Marcos Blick lässt von der Leiche ab und wendet sich den nächsten Angreifern zu.
Kommt nur! Ich zerquetsche euch alle!
Doch bevor er zuschlagen kann - bevor er weiter seiner ekstatischen Mordsucht und Blutgier verfallen kann - schießt ein Blitz vor seinen Augen.
Wie aus einem Traum gerissen, zuckt der junge Mann auf der Bank.
Verwirrt blickt Marco um sich. Micky steht vor ihm und schüttelt mit zurechtweisendem Blick den Kopf.
"Kreuz-Zwei, Marco", belehrt er ihn," das heißt zwei Leichen - nicht mehr und nicht weniger."
Marco hält inne.
In ihm kocht es. Er ballt seine Hände zu Fäusten. Micky geht langsam vor ihm in die Hocke, wobei er einen finsteren Blick aufsetzt.
"Du spürst es, nicht wahr?", flüstert er. Seine Stimme schneidet klar, seine Mimik ist tot.
"Die Macht", fährt er leise fort," die Gier, die Lust... du willst sie zermalmen, zerdrücken, ihnen ihren Lebenssaft ausquetschen..."
Marco sieht ihn stumm an.
Ja, ich will!
Eine Frau schiebt einen Kinderwagen durch Micky hindurch, während das Baby darin schreit wie am Spieß.
Sie rühren sich nicht.
Mickys Augenlider sacken zusammen. Sein Mund ist leicht geöffnet.
"Du... willst sie töten, Marco, weil du es kannst... weil du es... MUSST", haucht er, während ihm ein Sabbertropfen über die Unterlippe rollt und fadenziehend zu Boden sinkt.
Kurz bevor dieser das Wasser auf dem Stein berührt, zieht er den Speichel wieder hoch, schluckt und springt ruckartig wie eine Feder auf.
"Darum machen wir direkt weiter!", jauchzt er und zückt auch schon den Kartenstapel. Er pfeift wieder vor sich hin, während er diesen mischt. Einen Augenblick später hält er seinem Gegenüber eine neue Hand hin.
Marco zögert nicht. Blind greift er in die Karten hinein und rupft die Erstbeste, die er in die Finger kriegt, aus Mickys Händen.
Micky zieht scharf die Luft ein und wirft Marco einen vielsagenden Blick zu.
Herz-Dame.
"Autsch", schmunzelt Micky,"sieht so aus, als würdest du heute zum ersten Mal die Herzdame stechen."
"Fick dich!", knurrt Marco und wirft die Karte lasch von sich. Sie segelt langsam in den nassen Dreck. Micky lacht nur und nimmt wieder seinen Platz auf der ranzigen Bahnhofsbank ein. Marco beachtet ihn nicht weiter. Seine hungriger Blick wandert bereits wieder durch die Menge und sucht ungeduldig nach seinem nächsten Opfer. Er sucht nach ihr, hält Ausschau nach der gelben Steppjacke und dem kleinen Rucksack im Jeans-Design. Jeden Tag sieht er sie, bewundert sie, begehrt sie. Sie sieht ihn nicht. Sie weiß wahrscheinlich nicht einmal, dass er existiert, doch das wird sich heute ändern. Sie wird ihn sehen und er wird das letzte sein, dass ihre wunderschönen dunklen Augen auf dieser Welt erblicken werden.
Still lacht er in sich hinein, als er das helle Pink ihrer Jacke zwischen all den tropfenden Mänteln und Schirmen entdeckt. Es ist für ihn wie Rot; wie das Rot einer Blutspur, die ein verletztes Beutetier hinter sich herzieht oder das Rot einer Muleta, die vor seiner Nase umher zappelt. Micky steht plötzlich hinter ihm. Marco riecht sein maskulines Parfum, dessen Duft sich mit dem Geruch von Haarwachs mischt.
Er spürt Mickys Atem an seinem rechten Ohr und hört ihn leise kichern, während die Worte beinahe lautlos aus seinem Mund dringen.
"Fick sie."
Es flimmert weiß vor Marcos Augen.
In ihm brodeln Hass und pure Mordlust, als er von der Bank springt und sich seinen Weg durch die graue Menge bahnt. Gleichzeitig fragt er sich in seinem Inneren, warum er nicht schon eher jenem Zorn in seinen Gedanken freien Lauf gelassen hat. Er fühlt sich frei, losgelöst und entfesselt.
Ja, das ist das richtige Wort - entfesselt!
Sie steht mit dem Rücken zu ihm und ahnt nicht, dass ihr sicheres Ende naht. Die Hitze in Marcos Brust schwillt zu einem todbringenden Drang an, der ihn zu überwältigen droht. Mühevoll kämpft er gegen den Trieb an, sie in kleine Stücke zerfetzen zu wollen.
Ruhig Marco, sie kann dir nicht entkommen. Was lange währt...
Er ist nur noch wenige Schritte von ihr entfernt und kann sie klar erkennen. Sie streift die pinke Kapuze vom Kopf. Ihr langes braunes Haar ist zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden und glänzt im schwachen Schein der Bahnhofsbeleuchtung. Marcos hungriger Blick wandert von unten hinauf ihre schlanken Beine ab, hoch zu ihrem knackigen Arsch - der zweifellos unzählige Blicke auf sich zieht - entlang ihrer schmalen Taille bis hinauf zu dem Lotusblüten-Tattoo auf ihrem Nacken. Beim Anblick ihrer nackten Haut spürt er, wie sich seine Nasenflügel weiten und die Spucke in seinem Mund zusammen läuft. Jeder einzelne Muskel in seinem Körper spannt sich an, während er sich langsam nähert.
Sie scheint vom stürmenden Regen unberührt und steht wie ein Engel zwischen all den wimmelnden Insekten, die mühevoll ins Trockene flüchten.
Du denkst, dass du mehr bist als sie - mehr als eine Made, die sich blind im Dreck windet, lacht er in sich hinein, doch ich zeige dir, wie verdammt falsch du damit liegst.
Es trennt sie nun kaum eine Armlänge mehr. Marco löst den dicken Ledergürtel an seiner Hose und zieht diesen mit einem Ruck aus den Laschen. Der Metallverschluss klimpert. Vor Gier zitternd bindet er die Enden jeweils einmal um seine Hände und strafft ruckartig den Gurt. Das Leder schnalzt laut, aber der Sturm ist lauter.
Er zögert nicht länger.
Explosionsartig bricht er aus. Mit einer schnellen Bewegung schlägt er den Riemen von oben über ihren Kopf herab an ihre Kehle, dreht die Hände über Kreuz und zieht den Gürtel mit aller Kraft zusammen.
Sie fiepst kurz wie eine Maus, der soeben der Bügel der Falle auf das Genick schlägt, dann ächzt sie nur noch. Ihre Arme rudern wild nach hinten, versuchen verzweifelt den Angreifer zu packen, doch Marco ist schneller. Er bringt sie mit einem Tritt in die Kniekehle ins Straucheln und zieht noch fester an den Enden des Gurtes, während sie vorwärts stürzt. Reflexartig greift sie sich an die Kehle und versucht vergeblich, das tödliche Band um ihren Hals zu lösen. Sie japst, gurgelt und hustet atemlos.
Während sie ihre zarten Finger zwischen Leder und Haut zu schieben versucht, bohren sich ihre Nägel in das eigene Fleisch.
Marco lässt sie noch kurz zappeln, während ihr Gesicht rot anläuft, dann stößt er sie hart zu Boden. Wie Bomberjacken-Bastard, fängt sie sich mit den Händen auf und starrt ungläubig auf ihr Spiegelbild, das sich auf einer kleinen Pfütze genau vor ihren Augen abzeichnet. Ohne seinen Griff zu lockern, beugt Marco sich vor. Als er neben ihr in die Hocke geht, schlägt ihr linker Arm wild zuckend nach ihm. Ihre bemalten Nägel sind blutverschmiert. Marco weicht ihrem Angriff aus, tritt von oben mit dem Fuß auf ihre Handfläche und kniet sich mit dem rechten Bein auf ihren Oberarm. Ein stummer Schrei dringt aus ihrer Kehle, während ihr die Adern im Gesicht anschwellen. Marco genießt den Augenblick, genießt die Macht, die er über sie hat. Er nähert seinen Mund an ihr linkes Ohr, während er sich an dem Spiegelbild ihres schmerzverzerrten Gesichts ergötzt. Er flüstert ihr zu - wie Micky ihm zugeflüstert hat:"Siehst du mich?"
Er grinst von einem Ohr zum anderen, während ihm der Sabber aus dem Mund trieft und in das schmutzige Wasser hinab tropft. Die Wellen verzerren kurz die beiden Gesichter und kleine Schaumwolken bilden sich an der Oberfläche.
"Ja", lacht Marco heiser", jetzt siehst du mich, nicht wahr?"
Ihre Augen quellen aus dem Schädel, ihre Haut verfärbt sich blau und ihre Muskeln zucken, bis ihr rechter Arm nachgibt und sie mit dem Gesicht hart auf den Boden aufschlägt. Das Dreckwasser spritzt zu allen Seiten und ihr ins Gesicht, wo die graubraunen Tropfen langsam über ihre zarten Wangen rollen. Sie zappelt und windet sich, kratzt durch die Luft und tritt um sich, doch kann sie sich nicht aus Marcos Würgegriff befreien.
Dieser zieht so fest am Leder, dass er sich beinahe das Blut in den eigenen Händen abschnürt, aber er fühlt keinen Schmerz - nur Befriedigung und Extase, während ihr schlanker Körper wild unter ihm bebt.
Er geht noch näher an ihr Gesicht heran, streckt seine glibrigfeuchte Zunge aus und leckt ihr über die verdreckte Wange. Er schließt die Augen, atmet tief ein und aus und lässt den Geschmack auf der Zunge zergehen.
"Bitter... süß...", stöhnt er.
Dann reißt er seinen Griff mit einer schnellen Drehbewegung zur Seite.
Laut knackend bricht ihr Genick.
Ihre Gliedmaßen sacken augenblicklich in sich zusammen und bleiben regungslos auf dem Bahnsteig liegen.
Marco verharrt in seiner Position, den Gürtel noch immer fest mit beiden Händen gepackt und die Augen geschlossen.
Den Mund weit aufgerissen, verfällt er plötzlich in hysterisches Gelächter.
"Kein Engel", lacht er," nur eine Made... ein Insekt, wie alle anderen!"
Gleißendes Licht verschluckt ihn.
Langsam kommt Marco aus seinem tranceähnlichen Zustand wieder zu sich. Er wischt sich die Speichelfäden vom Mund und beachtet die nassen Flecken auf seinem Oberschenkel nicht weiter. Müde blinzelt er in den bleigrauen Himmel. Micky steht vor ihm, die Hände in den Hosentaschen vergraben.
"Der Schlampe hast du's ordentlich besorgt", grunzt er belustigt. Die Bahnhofslautsprecher rauschen. "Achtung - Linie Acht auf Gleis drei, Vorsicht bei der Einfahrt", schallt es über den Bahnsteig.
Die Wartezeit ist um, das Spiel vorbei.
Micky zieht die rechte Hand aus der Hosentasche und hält Marco drei neue Karten hin. Marco sieht ihn fragend und verwundert zugleich an.
"Eine letzte Runde", raunt sein Gegenüber mit vielsagendem Blick.
"Aber der Zug...", erwidert Marco, doch Micky unterbricht ihn, indem er ihm die Karten noch näher an Nase hält. Marco schweigt einen Moment, dann lächelt er.
Scheiße ja! - Warum nicht?
Die Spiellaune packt ihn erneut, die Aufregung wallt wieder in ihm auf.
Marco schnappt nach der mittleren Karte und zieht sie schwungvoll aus Mickys Hand.
Etwas verwirrt hält er inne, als er das Bild auf der Vorderseite sieht.
Pik-Ass.
Marco denkt nach. Hat Micky erwähnt, wofür das Ass steht? Er kann sich nicht erinnern.
"Ass, Marco", antwortet er monoton, noch bevor Marco die Frage aussprechen kann", bist du."
Er versteht nicht ganz. Als er die Karte vor seinen Augen senkt, hockt Micky wieder auf Augenhöhe vor ihm und hat sein widerliches Zahnpasta-Lächeln aufgesetzt.
Mit plötzlich heiterer Stimme klärt er ihn auf:"Wie würdest du dich selbst ausknipsen? Das ist ein Gedanke, der dir nicht allzu schwer fallen sollte." Da hat Micky Recht.
"Also schön", erwidert Marco schulterzuckend", meinetwegen, aber das ist dann die letzte Karte für heute."
"Versprochen", bekräftigt Micky, zieht eine Unschuldsmiene und hebt beschwörend die Hand. "Okay, aber erwarte bloß nicht, dass ich mir Mühe gebe", lacht Marco, haut Micky kumpelhaft auf die Schulter und steht auf.
"Ausnahmsweise", schmunzelt dieser und nimmt wieder seine Position als Beobachter ein.
Marco geht lässig bis zur Bahnsteigkante und hüpft hinunter auf die nassen Gleise. Er sieht die Scheinwerfer des Zuges hinter dem grauen Vorhang aus strömenden Wassermassen aufblitzen. Der stürmische Wind fegt ihm kalt ins Gesicht, während er ohne zu zögern auf das Licht zugeht. Er kann jetzt die grobe Form der Führerkabine erkennen, die schnell auf ihn zugerauscht kommt. Es ertönt ein lautes Signalhorn.
Macro lächelt nur und dreht sich um.
"Bitte sehr!", schreit er durch den Regen," ich hoffe du bist zufrieden, Micky!"
Dieser hockt auf der Rückenlehne der Bahnhofsbank und formt die Hände zu einem Tunnel, durch das er Marco zu ruft.
"Kein Blitz, du Insekt!", brüllt er und klopft sich lachend auf den Schenkel. Der Lärm und das Signalhorn schwellen zu einem ohrenbetäubenden Getöse an.
Kein Blitz?
Kein Blitz! Kein Leuchten! Kein Flimmern!
Er begreift zu spät.
Micky winkt zum Abschied und hat wieder sein verflucht dämliches Grinsen aufgesetzt.
Dieses beschissene Grinsen!
"Sieh dir diese Kleingeister an", lacht Micky ", fliehen vor dem Regen wie ein Schwarm Ameisen."
"...oder als wären sie aus Zucker", schmunzelt Marco und kaut auf seinen Fingernägeln rum.
"Insekten", bekräftigt Micky und lehnt sich vergnügt zurück. Marco weiß, dass Micky nicht echt ist, aber er ist der einzige, den er zum Reden hat. Er nennt ihn Micky wegen seiner albernen Stimme, die ihn an Micky Maus erinnert. Die Lautsprecher knacken und summen, dann ertönt eine Frauenstimme:" Achtung verehrte Fahrgäste, Linie acht fällt heute aus. Grund hierfür ist Erkrankung des Personals."
"Fuck...", ächzt Micky und wirft den Kopf in den Nacken. Marco ignoriert ihn und puhlt weiter an seinen Nägeln rum.
Nach einem Moment der Stille, springt Micky auf. Seine offene Lederjacke flattert und seine dicke Königskette klimpert. Er hüpft über den Bahnsteig nach vorne und stellt sich auf Zehenspitzen an die Kante. Während er zu beiden Seiten die Gleise hinauf schaut, verschränkt er die Arme hinter dem Rücken und pfeift eine muntere Melodie vor sich hin. Dann wirbelt er plötzlich herum. Seine Augen funkeln und er hat dieses dämliche Grinsen auf dem Gesicht, das Marco absolut nicht leiden kann. "Was denn?", fragt er genervt und will die Antwort eigentlich gar nicht hören. Langsam kommt Micky näher und summt dabei mit jedem Schritt melodisch ein Wort:"Lass... uns... ein... Spiel... spielen!" Er geht vor Marco in die Hocke und penetriert ihn mit seinem nervtötendem Blick.
Ohne diesen zu erwidern, murmelt Marco:" Spar dir diese abgewichste Saw-Schiene."
"Spar du dir dein arrogantes Getue", lautet die harsche Antwort," und hör auf, dir die Nägel abzukauen, als wärst du ein scheiß Bieber."
Marco gibt sich stöhnend geschlagen und stützt seinen Kopf an die zerkratzte Bahnhofsbank. "Komm schon", quengelt er weiter," das wird dir Spaß machen, ich schwör's dir!"
"Ich höre", erwidert Marco genervt. Micky springt wieder auf und sieht sich um. Er scheint nach etwas zu suchen oder nach jemanden. Listig und voller Tatendrang reibt er sich die Hände. Dann hält er plötzlich inne und sein Gesicht wird mit einem Mal ernst. "Okay, pass auf", ruft er zu Marco hinüber, der noch immer auf der Bank kauert," ich will, dass du jemanden umlegst!"
Marco schüttelt verwirrt den Kopf und blickt verängstigt um sich. "Bist du komplett bescheuert? Was brüllst du hier so laut für eine Scheiße rum?!", zischt er erschrocken.
Micky lacht. "Außer dir, kann mich doch keiner hören, du Holzkopf!" plärrt er.
Auch wieder wahr, denkt sich Marco und stößt einen erleichterten Seufzer aus. Micky kommt wieder näher, tritt ganz nah an ihn heran, bis ihre Gesichter sich beinahe berühren. Eine Strähne, die sich aus seiner geleckten Frisur gelöst hat, hängt von Mickys Stirn herab. Verstohlen flüstert er:"...und anfangen wirst du mit... ihr." Er zeigt mit dem Finger auf eine alte Frau mit weißem Haar. Sie steht an der Markierung nahe der Bahnsteigkante und murmelt einige unverständliche Worte vor sich hin. Ihr gelber Regenponcho tropft, während sie ihr einfaches Stadtrad auf der Stelle leicht vor und zurück schiebt. "Jetzt bist du komplett durchgedreht", winkt Marco ab und wendet sich wieder seinen abgenagten Fingernägeln zu. "Nicht mehr als du", lacht Micky," aber du sollst sie nicht wirklich töten, nur in deinem Kopf." Marco sieht ihn fragend an. Er versteht nicht. Micky verdreht genervt die Augen:"Mann, du sollst es dir vorstellen du Idiot! Sag' einfach, wie du es anstellen würdest."
Etwas widerwillig stimmt er zu. Die nächste Bahn kommt laut Tafel ohnehin erst in einer halben Stunde. Warum also nicht? Wenigstens hält Micky dann sein dämliches Maul. "Also schön", antwortet Marco und sieht nochmal zu der hageren alten Frau hinüber. "Warum sie?", will er von seinem Gegenüber wissen," die ist doch schon halb tot."
Micky hebt zuvorkommend den Zeigefinger vor Marcos Mund. "Babababa! Konzentration bitte!" Marco lächelt gequält. Tja... wie würde er es anstellen? Er legt den Kopf schief und denkt nach. Aus der Ferne erklingt ein Rauschen, welches sich schnell nähert. Der Schnellzug! Vor Marcos Augen blitzt es grell auf. Er fühlt, wie er aufsteht, zaghaft und doch voller Energie. Er nimmt Anlauf, sprintet an Micky vorbei und geradewegs auf die Frau zu. Im letzten Moment bemerkt diese erst, was vor sich geht, wirft erschrocken den Kopf herum und starrt Marco fassungslos an, der geradewegs auf sie zu stürmt. Sie hebt schützend die dürren Arme, doch zu spät - bevor sie schreien kann, rammt Marco sie mit voller Wucht. Mit der Schulter voran stößt er sie von der Kante. Japsend stürzt sie hinunter. Doch bevor ihr das harte Metall den Rücken brechen kann, schießt der Schnellzug wenige Millimeter vor Marcos Gesicht vorbei und erfasst den mageren Körper. Blut spritzt und Eingeweide fliegen. Der Poncho bleibt wie ein nasser Lappen an der Frontscheibe des Zuges kleben, begleitet von dem Geräusch berstender Knochen. Marco dreht sich um - die Klamotten und das Gesicht voller Blut. Der alte Drahtesel liegt regungslos auf dem Bahnsteig, nur das Vorderrad dreht sich langsam.
Es blitzt erneut vor Marcos Augen. Er sitzt wieder auf der Bank. "Hast du ihren Blick gesehen?", brüllt Micky laut und klopft sich mehrmals auf den Schenkel. Dann verzieht er verängstigt die Miene und versucht, den Blick der alten Frau zu imitieren. "Einfach geil!", jault er begeistert. Marco schmunzelt ein wenig. Er gibt zu, dass der Gedanke aufregend gewesen war. Der Moment, in dem er tief Luft geholt und sich aufgerafft hatte, der Augenblick, als er auf sie zugerannt war mit dem Ziel, ihr mickriges kleines Leben auszulöschen... Adrenalin pur. Sie war ihm schutzlos ausgeliefert gewesen. Sie steht weiterhin mit ihrem Rad am Bahnsteig, nichtsahnend über das Spiel und nörgelt noch immer vor sich hin. "Okay, okay, okay", versucht Micky sich wieder zu fangen und fläzt sich breitbeinig neben Marco auf die Bank.
"Wer als nächstes?", fragt er wieder etwas gefasster und lässt seinen Blick bereits durch die Menschenmenge schweifen. Seine schwarzen Stiefel tippeln unruhig auf dem Boden herum. Marco sieht sich ebenfalls um. So viele unbekannte Gesichter - jung, alt, männlich, weiblich, groß, klein - er kann sich nicht entscheiden.
"Oh oh", stößt Micky hervor," der da! Der ist perfekt!" Er schnippt wie wild mit dem Finger und hüpft auf der Bank auf und ab. Ein großer Mann - vielleicht Mitte vierzig - steht mit seinem Aktenkoffer in der Hand weiter hinten am Bahnsteig. Er ist von durchschnittlicher Statue, trägt einen grauen Anzug und kaut geistesabwesend auf seiner Unterlippe herum, während er hektisch auf seinem Smartphone tippt. Sein lichtes Haar ist nach hinten gegelt, wie das von Micky.
"Der könnte dein Vater sein", grunzt Marco.
"Schnauze du Clown", wehrt sich Micky ," und überleg dir lieber, wie du ihn ausknipsen würdest."
Er überlegt kurz. Der Mann steht zu weit weg von den Schienen. Davon abgesehen, wäre der gleiche Mord zweimal hintereinander zu langweilig. Er steckt die Hände in die Jackentaschen und bekommt seine Hausschlüssel zu fassen. Er grinst verstohlen.
"Watch and enjoy", raunt er Micky zu. Es blitzt wieder auf vor seinen Augen.
Marco bahnt sich seinen Weg durch die Menschen und geht langsam auf den Geschäftsmann zu. Dieser ist so in sein Handy vertieft, dass er den sich nähernden Schatten gar nicht wahrnimmt. Marcos Griff umschließt das kantige Metall seines Schlüssels fester. Als er nicht einmal einen halben Schritt von dem Typen entfernt ist, zieht er ruckartig den Hausschlüssel aus der Tasche. Der Bund klimpert, als Marco mit voller Kraft zustößt. Mit der gezackten Spitze voran, haut er das stumpfe Metall dem Mann in die Kehle. Nicht gleich dringt es durch die Haut.
Der Geschäftsmann fährt erschrocken herum und torkelt einige Schritte zurück. Das Handy gleitet ihm aus der Hand und fällt ungebremst auf den Boden, während er sich reflexartig an den Hals greift. Das Display springt.
Fassungslosigkeit und nackte Angst spiegeln sich in seinen Augen wider. Marco hält den blutigen Schlüssel wie eine Klinge in seiner geballten Faust und lässt nicht locker. Er bringt den Mann mit einem kräftigen Tritt in die Magengrube zu Boden und sticht ein weiteres Mal zu. Diesmal bohren sich die Zacken in sein rechtes Auge. Blut fließt und erstickendes Geschrei hallt über den Bahnhof. Marco setzt noch einige Hiebe nach, bis sich das weiße Hemd unter dem Anzug rot gefärbt hat und der Körper regungslos auf dem nassen Stein liegen bleibt. Weißes Licht blitzt auf.
"Und?", grinst Marco selbstgefällig. Micky kneift analysierend die Augen zusammen und verschränkt die Hände vor dem Mund. "Hmmm..."seufzt er," nett, ganz nett. Gut mit dem Schlüssel improvisiert, aber da hat mir das gewisse Etwas gefehlt."
Marco schüttelt verärgert den Kopf. "Dann mach's doch besser!", schnaubt er. Micky hüpft wieder von der Bank und schlendert über den Bahnsteig. Mehr an sich selbst gerichtet murmelt er:"Wir müssen das ganze spannender gestalten... mehr Abwechslung, mehr..." Er schlägt mehrmals mit der Faust in die hohle Hand und sucht nach der Antwort.
"...Abwechslung", wiederholt er nachdenklich und starrt Löcher in den farblosen Beton. Marco sieht ihn stumm an. Micky grinst wieder dämlich und greift in die Tasche seiner Lederjacke. Heraus zieht er einen Stapel Pokerkarten. "Zufall!", ruft er triumphierend,"Was könnte mehr Pep in die Sache bringen, als das Schicksal höchst persönlich?".
Marco ahnt Schlimmes. "Meinst du nicht, dass du ein klein wenig übertreibst?", lächelt er und zeigt seinem Gegenüber den Vogel. Micky winkt seine Zweifel wortlos ab und beginnt bereits die Karten wie ein professioneller Dealer zu mischen. Er zieht drei zufällige Karten heraus und hält diese Marco verdeckt hin. "Zieh eine", fordert er ihn auf. Marco zögert. "Und dann?", will er wissen.
Micky atmet schwer aus. Genervt antwortet er:"Mach es nicht anstrengender, als es ist."
Der junge Mann auf der Bank greift in die Luft.
Nahezu verschwörerisch erklärt Micky die Regeln, während er Marco mit eindringlichem Blick fixiert:"Ein Bild gibt die Art deines Opfers an - King gleich Mann, Queen gleich Frau, Jack gleich Kind..."
"Kind?", unterbricht ihn Marco schockiert.
"Hör zu!", faucht Micky. Sie sehen einander grimmig an. "Eine Zahl", fährt er mit einer Miene aus Stahl fort," gibt dir die Anzahl deiner Opfer an, wobei du frei wählen kannst."
Marco ist das ganze nicht geheuer. Er weiß zwar, dass alles nur ein Gedankenspiel ist, doch die kalte Entschlossenheit Mickys macht ihm Angst. Andererseits regt sich tief in seinem Inneren eine unbändige Neugier, gemischt mit Aufregung, welche stetig an Kraft gewinnt. Zaghaft zieht er an der Karte, die zwischen seinen beiden Fingern hängt. Er dreht sie langsam um.
Kreuz-Zwei.
"Und... die Farbe?", fragt er vorsichtig. Seine Stimme zittert vor Aufregung und Unsicherheit. Der Regen nimmt zu. Das rhythmische Trommeln auf dem Dach schwillt zu einem monotonen Rauschen an. Micky lächelt schwach:"Bei rot entscheidest du, wie du es anstellst und bei schwarz entscheide ich." Marco nickt und hält ihm die Karte wortlos entgegen. Micky klatscht in die Hände.
"Ah, wir fangen klein an, wie?," schmunzelt er vergnügt,"Dann wollen wir mal!"
Er rupft Marco die Kreuz-Zwei aus der Hand, schiebt sie zurück in den Stapel und lässt die Karten wieder in seine Tasche verschwinden. Dann geht er den Bahnsteig hinauf, wo ein kleiner Bereich aufgrund von Bauarbeiten schon seit Monaten abgesperrt ist. Er packt das Baustellenschild mit beiden Händen und löst es aus dem Sockel. Das tropfnasse Schild wie einen mächtigen Zweihänder geschultert, latscht er wieder zurück. Er hält Marco das schwere Metall hin. "Have fun!", schmunzelt er. Etwas verwirrt nimmt er das Schild entgegen. "Soll ich jetzt einen auf Conan der Barbar machen, oder was?", lacht er und schwingt das Baustellenmännchen durch die Luft. Micky deutet mit seinen Händen eine Explosion an, die von seinem Kopf ausgeht und stimmt in sein Gelächter mit ein:"Sei kreativ!"
Mit diesen Worten schubst er Marco von der Bank und lümmelt sich selbst wieder auf das zerkratzte Gitter. Mit erwartungsvollem Blick beäugt er den jungen Mann. Dieser blickt zurück.
Er steht vor einer leeren Bahnhofsbank.
Marco konzentriert sich auf sein Ziel. Es flackert hell vor seinen Augen.
Seine Hände packen den Stab mit eisernem Griff zu, sodass die Haut an seinen Fingern gelb wird. Er geht langsam auf sein erstes Opfer zu - ein junger Mann mit Jeans und Bomberjacke. Er hält einen Kaffeebecher in der Hand und wischt sich mit der anderen die Regentropfen von der Stirn. Er bemerkt das auffällige Rot des Schildes im Zwischenblick, als Marco näher kommt und sieht ihn irritiert an. Marco hebt das Eisen hoch über seinen Kopf und holt in voller Länge aus.
Das Gesicht des Bomberjacken-Mannes durchläuft innerhalb weniger Augenblicke eine Achterbahn der Emotionen. Die Verwunderung wandelt sich in Überraschung, steigt hinauf in Schock und stürzt hinab in panische Angst. Das Baustellenschild saust herab und trifft seinen Kopf. Knirschend verbiegt sich das Metall, als es sich im Schädelknochen verkantet. Blut benetzt das schwarze Strichmännchen.
Der Mann schreit.
Er hat den Pappbecher fallen gelassen und bricht unter der Wucht des Schlages in sich zusammen. Er fängt sich mit den Händen auf. Marco setzt seine Schuhsohle an die Schläfe seines wimmernden Opfers an und tritt den Kopf von sich, während er zeitgleich das Schild zu sich reißt. Es knackt laut. Der Mann fällt ächzend zur Seite.
Marco holt erneut aus und schlägt blind ein weiteres Mal zu. Das schiefe Dreieck landet mit der scharfen Kante diagonal in seinem Hals. Die Hauptschlagader reißt, die Luftröhre wird durchbohrt.
"Woho - Marco," feuert ihn Micky von der Bank an," fick den Bastard, FICK IHN!"
Bomberjacken-Bastard windet sich wie ein Aal auf dem Boden, ächzt und gurgelt. Er starrt mit hervor gequollenen Augäpfeln fassungslos auf die immer größer werdende Lache aus Blut, das aus dem Spalt in seinem Schädel rinnt. Seine Hände krallen sich verkrampft in den nassen Beton, schaben und kratzen wild, bis seine Fingernägel brechen und das Fleisch darunter wund ist. Marco sieht auf ihn herab.
Insekten.
Er hebt den Fuß und stampft mit aller Kraft auf.
Der Schädelknochen knackt ein weiteres Mal. Ein kraftloses Keuchen dringt aus seinem Mund, gefolgt von mehr Blut, das aus dem Mund schießt.
Ameisen.
Ein weiterer Tritt.
Knochen bersten, Gliedmaßen zucken.
Dreck.
Noch ein Tritt.
Augen springen aus den Höhlen, Zähne brechen aus dem Kiefer.
Nichts!
Ein letzter Tritt - so fest es geht.
Rosa Hirnmasse quillt heraus, rotes Fleisch klebt auf dem Boden.
Stumm starrt Marco auf den leblosen Körper herab, dessen Glieder noch immer leicht beben. Es ist kein Todeskampf mehr, kein verzweifelter Überlebensinstinkt, der gegen das vollstreckte Urteil aufzubegehren versucht. Es sind lediglich Nervenimpulse - Fehler - die durch das Fleisch jagen, da es zu dumm ist zu begreifen, dass es bereits tot ist.
Fehler!
Marco fühlt keine Schuld. Warum sollte er auch? Niemand fühlte sich schuldig, wenn man eine lästige Fliege an der Wand erschlug oder eine Spinne auf dem Fußboden platt trat.
Erfüllt von Genugtuung wendet er sich ab.
Weißes Licht blitzt auf.
Micky hockt noch immer breit grinsend auf der Bank, wie eine Krähe auf dem Mast.
"Du wirst besser", bemerkt er und haut Marco kumpelhaft auf die Schulter. Dieser lächelt nur schwach. Er wiederholt die letzten Momente von Bomberjacken-Bastard nochmal vor seinen Augen. Er sieht seine Angst, spürt seine Hilflosigkeit - ja, er hat ihn ausgelöscht, platt gemacht und niedergewalzt.
Wo kam der arme Teufel wohl her und was hatte er heute noch vor? Gab es eine Familie, die auf ihn wartete - eine Frau und Kinder vielleicht? Doch was hätte das für einen Unterschied gemacht? Nichts ist so sicher, wie der Tod und er - Marco - hatte ihn von seinem mickrigen Dasein erlöst. Niemand sonst hätte den Mut dazu gehabt! Die alte Frau mit dem Fahrrad, der Schnösel mit dem Smartphone und Bomberjacken-Bastard - sie alle waren ihren kleinweltlichen Problemen hinterher gerannt, bis er gekommen war. Er hatte sie alle gerichtet, wie ein Gott! - und erlöst.
Er blinzelt.
"Zurück zum Spiel", ruft Micky heiter und lässt seinen aufmerksamen Blick über die Menge schweifen," einen hast du noch!"
Richtig, das Spiel.
Er wird wieder in grelles Licht getaucht.
Er steht wieder vor dem entstellten Körper, die Hände und Schuhe mit Blut überströmt. Das Baustellenschild liegt demoliert auf der Seite. Er wird mit fassungslosen Blicken angestarrt. Hysterie macht sich breit. Das Gewusel der Menge geht wieder los, als diese realisiert, was soeben passiert ist. Der Schwarm hetzt panisch zu den Treppen, stolpert und überrennt sich fast. Nur einige wenige heben sich ab aus der Masse, wenden sich entgegen des Stroms und versuchen den Angreifer zu stellen.
Kommt nur her, ihr Maden!
Er sammelt das verbogene Metall wieder auf und lässt den ersten geduldig näher kommen - ein kleiner bauchiger Mann mit Baustellenjacke und -helm. Er wirbelt drohend die Fäuste und spuckt laute Töne. Marco bleibt ruhig. Er weiß, dass er nicht verlieren kann. Das Regenwasser tropft von seinen Haaren und rinnt an seiner Nase und seinen Wangen hinab. Er atmet die feuchte Luft tief ein und grinst. Er grinst breit, verwegen und siegessicher.
Er grinst wie Micky.
Der Bauarbeiter nimmt zwei Schritte Anlauf und holt weit mit seiner Rechten aus. Marco hebt die Stange des Schildes vor sich. Die Hand des Mannes knirscht laut, als diese mit voller Wucht gegen das Metall schlägt. Augenblicklich verzieht sich sein Gesicht zu einer schmerzerfüllten Miene.
Er hat keine Zeit zu schreien.
Marco setzt mit dem stumpfen Ende des Stabes nach und trifft den Dicken von unten am Kiefer. Sein Kopf klappt nach hinten und der Mann mit den grell orangenen Klamotten kippt wie ein Zementsack um. Dumpf schlägt er auf.
Bewusstlos ist nicht tot.
Er wendet das Dreieck mit dem Baustellenmännchen auf die Seite, die weniger verbogen ist. Es schnellt herab, wie eine Axt und schneidet in seinen Hals. Es folgen zwei weitere Hiebe. Erneut wird der Bahnsteig mit Blut benetzt, erneut verfällt Marco in Mordrausch. Er hackt auf den Bauarbeiter ein, bis das Schild am Stein darunter schabt. Der ausgefranste Schnitt weitet sich und der Kopf löst sich vom Rest des Körpers. Langsam rollt dieser ein paar Zentimeter über den Stein. Marco verspürt keine Anstrengung und keine Mühe.
Feuert ihn Micky weiter an?
Er weiß es nicht, denn er hört ihn nicht.
Er hört nur den Regen prasseln und den Puls in seinen Ohren hämmern. Er grinst noch immer und fletscht die Zähne wie ein hungriges Tier.
Er will mehr Blut.
Er will mehr Tod!
Marcos Blick lässt von der Leiche ab und wendet sich den nächsten Angreifern zu.
Kommt nur! Ich zerquetsche euch alle!
Doch bevor er zuschlagen kann - bevor er weiter seiner ekstatischen Mordsucht und Blutgier verfallen kann - schießt ein Blitz vor seinen Augen.
Wie aus einem Traum gerissen, zuckt der junge Mann auf der Bank.
Verwirrt blickt Marco um sich. Micky steht vor ihm und schüttelt mit zurechtweisendem Blick den Kopf.
"Kreuz-Zwei, Marco", belehrt er ihn," das heißt zwei Leichen - nicht mehr und nicht weniger."
Marco hält inne.
In ihm kocht es. Er ballt seine Hände zu Fäusten. Micky geht langsam vor ihm in die Hocke, wobei er einen finsteren Blick aufsetzt.
"Du spürst es, nicht wahr?", flüstert er. Seine Stimme schneidet klar, seine Mimik ist tot.
"Die Macht", fährt er leise fort," die Gier, die Lust... du willst sie zermalmen, zerdrücken, ihnen ihren Lebenssaft ausquetschen..."
Marco sieht ihn stumm an.
Ja, ich will!
Eine Frau schiebt einen Kinderwagen durch Micky hindurch, während das Baby darin schreit wie am Spieß.
Sie rühren sich nicht.
Mickys Augenlider sacken zusammen. Sein Mund ist leicht geöffnet.
"Du... willst sie töten, Marco, weil du es kannst... weil du es... MUSST", haucht er, während ihm ein Sabbertropfen über die Unterlippe rollt und fadenziehend zu Boden sinkt.
Kurz bevor dieser das Wasser auf dem Stein berührt, zieht er den Speichel wieder hoch, schluckt und springt ruckartig wie eine Feder auf.
"Darum machen wir direkt weiter!", jauchzt er und zückt auch schon den Kartenstapel. Er pfeift wieder vor sich hin, während er diesen mischt. Einen Augenblick später hält er seinem Gegenüber eine neue Hand hin.
Marco zögert nicht. Blind greift er in die Karten hinein und rupft die Erstbeste, die er in die Finger kriegt, aus Mickys Händen.
Micky zieht scharf die Luft ein und wirft Marco einen vielsagenden Blick zu.
Herz-Dame.
"Autsch", schmunzelt Micky,"sieht so aus, als würdest du heute zum ersten Mal die Herzdame stechen."
"Fick dich!", knurrt Marco und wirft die Karte lasch von sich. Sie segelt langsam in den nassen Dreck. Micky lacht nur und nimmt wieder seinen Platz auf der ranzigen Bahnhofsbank ein. Marco beachtet ihn nicht weiter. Seine hungriger Blick wandert bereits wieder durch die Menge und sucht ungeduldig nach seinem nächsten Opfer. Er sucht nach ihr, hält Ausschau nach der gelben Steppjacke und dem kleinen Rucksack im Jeans-Design. Jeden Tag sieht er sie, bewundert sie, begehrt sie. Sie sieht ihn nicht. Sie weiß wahrscheinlich nicht einmal, dass er existiert, doch das wird sich heute ändern. Sie wird ihn sehen und er wird das letzte sein, dass ihre wunderschönen dunklen Augen auf dieser Welt erblicken werden.
Still lacht er in sich hinein, als er das helle Pink ihrer Jacke zwischen all den tropfenden Mänteln und Schirmen entdeckt. Es ist für ihn wie Rot; wie das Rot einer Blutspur, die ein verletztes Beutetier hinter sich herzieht oder das Rot einer Muleta, die vor seiner Nase umher zappelt. Micky steht plötzlich hinter ihm. Marco riecht sein maskulines Parfum, dessen Duft sich mit dem Geruch von Haarwachs mischt.
Er spürt Mickys Atem an seinem rechten Ohr und hört ihn leise kichern, während die Worte beinahe lautlos aus seinem Mund dringen.
"Fick sie."
Es flimmert weiß vor Marcos Augen.
In ihm brodeln Hass und pure Mordlust, als er von der Bank springt und sich seinen Weg durch die graue Menge bahnt. Gleichzeitig fragt er sich in seinem Inneren, warum er nicht schon eher jenem Zorn in seinen Gedanken freien Lauf gelassen hat. Er fühlt sich frei, losgelöst und entfesselt.
Ja, das ist das richtige Wort - entfesselt!
Sie steht mit dem Rücken zu ihm und ahnt nicht, dass ihr sicheres Ende naht. Die Hitze in Marcos Brust schwillt zu einem todbringenden Drang an, der ihn zu überwältigen droht. Mühevoll kämpft er gegen den Trieb an, sie in kleine Stücke zerfetzen zu wollen.
Ruhig Marco, sie kann dir nicht entkommen. Was lange währt...
Er ist nur noch wenige Schritte von ihr entfernt und kann sie klar erkennen. Sie streift die pinke Kapuze vom Kopf. Ihr langes braunes Haar ist zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden und glänzt im schwachen Schein der Bahnhofsbeleuchtung. Marcos hungriger Blick wandert von unten hinauf ihre schlanken Beine ab, hoch zu ihrem knackigen Arsch - der zweifellos unzählige Blicke auf sich zieht - entlang ihrer schmalen Taille bis hinauf zu dem Lotusblüten-Tattoo auf ihrem Nacken. Beim Anblick ihrer nackten Haut spürt er, wie sich seine Nasenflügel weiten und die Spucke in seinem Mund zusammen läuft. Jeder einzelne Muskel in seinem Körper spannt sich an, während er sich langsam nähert.
Sie scheint vom stürmenden Regen unberührt und steht wie ein Engel zwischen all den wimmelnden Insekten, die mühevoll ins Trockene flüchten.
Du denkst, dass du mehr bist als sie - mehr als eine Made, die sich blind im Dreck windet, lacht er in sich hinein, doch ich zeige dir, wie verdammt falsch du damit liegst.
Es trennt sie nun kaum eine Armlänge mehr. Marco löst den dicken Ledergürtel an seiner Hose und zieht diesen mit einem Ruck aus den Laschen. Der Metallverschluss klimpert. Vor Gier zitternd bindet er die Enden jeweils einmal um seine Hände und strafft ruckartig den Gurt. Das Leder schnalzt laut, aber der Sturm ist lauter.
Er zögert nicht länger.
Explosionsartig bricht er aus. Mit einer schnellen Bewegung schlägt er den Riemen von oben über ihren Kopf herab an ihre Kehle, dreht die Hände über Kreuz und zieht den Gürtel mit aller Kraft zusammen.
Sie fiepst kurz wie eine Maus, der soeben der Bügel der Falle auf das Genick schlägt, dann ächzt sie nur noch. Ihre Arme rudern wild nach hinten, versuchen verzweifelt den Angreifer zu packen, doch Marco ist schneller. Er bringt sie mit einem Tritt in die Kniekehle ins Straucheln und zieht noch fester an den Enden des Gurtes, während sie vorwärts stürzt. Reflexartig greift sie sich an die Kehle und versucht vergeblich, das tödliche Band um ihren Hals zu lösen. Sie japst, gurgelt und hustet atemlos.
Während sie ihre zarten Finger zwischen Leder und Haut zu schieben versucht, bohren sich ihre Nägel in das eigene Fleisch.
Marco lässt sie noch kurz zappeln, während ihr Gesicht rot anläuft, dann stößt er sie hart zu Boden. Wie Bomberjacken-Bastard, fängt sie sich mit den Händen auf und starrt ungläubig auf ihr Spiegelbild, das sich auf einer kleinen Pfütze genau vor ihren Augen abzeichnet. Ohne seinen Griff zu lockern, beugt Marco sich vor. Als er neben ihr in die Hocke geht, schlägt ihr linker Arm wild zuckend nach ihm. Ihre bemalten Nägel sind blutverschmiert. Marco weicht ihrem Angriff aus, tritt von oben mit dem Fuß auf ihre Handfläche und kniet sich mit dem rechten Bein auf ihren Oberarm. Ein stummer Schrei dringt aus ihrer Kehle, während ihr die Adern im Gesicht anschwellen. Marco genießt den Augenblick, genießt die Macht, die er über sie hat. Er nähert seinen Mund an ihr linkes Ohr, während er sich an dem Spiegelbild ihres schmerzverzerrten Gesichts ergötzt. Er flüstert ihr zu - wie Micky ihm zugeflüstert hat:"Siehst du mich?"
Er grinst von einem Ohr zum anderen, während ihm der Sabber aus dem Mund trieft und in das schmutzige Wasser hinab tropft. Die Wellen verzerren kurz die beiden Gesichter und kleine Schaumwolken bilden sich an der Oberfläche.
"Ja", lacht Marco heiser", jetzt siehst du mich, nicht wahr?"
Ihre Augen quellen aus dem Schädel, ihre Haut verfärbt sich blau und ihre Muskeln zucken, bis ihr rechter Arm nachgibt und sie mit dem Gesicht hart auf den Boden aufschlägt. Das Dreckwasser spritzt zu allen Seiten und ihr ins Gesicht, wo die graubraunen Tropfen langsam über ihre zarten Wangen rollen. Sie zappelt und windet sich, kratzt durch die Luft und tritt um sich, doch kann sie sich nicht aus Marcos Würgegriff befreien.
Dieser zieht so fest am Leder, dass er sich beinahe das Blut in den eigenen Händen abschnürt, aber er fühlt keinen Schmerz - nur Befriedigung und Extase, während ihr schlanker Körper wild unter ihm bebt.
Er geht noch näher an ihr Gesicht heran, streckt seine glibrigfeuchte Zunge aus und leckt ihr über die verdreckte Wange. Er schließt die Augen, atmet tief ein und aus und lässt den Geschmack auf der Zunge zergehen.
"Bitter... süß...", stöhnt er.
Dann reißt er seinen Griff mit einer schnellen Drehbewegung zur Seite.
Laut knackend bricht ihr Genick.
Ihre Gliedmaßen sacken augenblicklich in sich zusammen und bleiben regungslos auf dem Bahnsteig liegen.
Marco verharrt in seiner Position, den Gürtel noch immer fest mit beiden Händen gepackt und die Augen geschlossen.
Den Mund weit aufgerissen, verfällt er plötzlich in hysterisches Gelächter.
"Kein Engel", lacht er," nur eine Made... ein Insekt, wie alle anderen!"
Gleißendes Licht verschluckt ihn.
Langsam kommt Marco aus seinem tranceähnlichen Zustand wieder zu sich. Er wischt sich die Speichelfäden vom Mund und beachtet die nassen Flecken auf seinem Oberschenkel nicht weiter. Müde blinzelt er in den bleigrauen Himmel. Micky steht vor ihm, die Hände in den Hosentaschen vergraben.
"Der Schlampe hast du's ordentlich besorgt", grunzt er belustigt. Die Bahnhofslautsprecher rauschen. "Achtung - Linie Acht auf Gleis drei, Vorsicht bei der Einfahrt", schallt es über den Bahnsteig.
Die Wartezeit ist um, das Spiel vorbei.
Micky zieht die rechte Hand aus der Hosentasche und hält Marco drei neue Karten hin. Marco sieht ihn fragend und verwundert zugleich an.
"Eine letzte Runde", raunt sein Gegenüber mit vielsagendem Blick.
"Aber der Zug...", erwidert Marco, doch Micky unterbricht ihn, indem er ihm die Karten noch näher an Nase hält. Marco schweigt einen Moment, dann lächelt er.
Scheiße ja! - Warum nicht?
Die Spiellaune packt ihn erneut, die Aufregung wallt wieder in ihm auf.
Marco schnappt nach der mittleren Karte und zieht sie schwungvoll aus Mickys Hand.
Etwas verwirrt hält er inne, als er das Bild auf der Vorderseite sieht.
Pik-Ass.
Marco denkt nach. Hat Micky erwähnt, wofür das Ass steht? Er kann sich nicht erinnern.
"Ass, Marco", antwortet er monoton, noch bevor Marco die Frage aussprechen kann", bist du."
Er versteht nicht ganz. Als er die Karte vor seinen Augen senkt, hockt Micky wieder auf Augenhöhe vor ihm und hat sein widerliches Zahnpasta-Lächeln aufgesetzt.
Mit plötzlich heiterer Stimme klärt er ihn auf:"Wie würdest du dich selbst ausknipsen? Das ist ein Gedanke, der dir nicht allzu schwer fallen sollte." Da hat Micky Recht.
"Also schön", erwidert Marco schulterzuckend", meinetwegen, aber das ist dann die letzte Karte für heute."
"Versprochen", bekräftigt Micky, zieht eine Unschuldsmiene und hebt beschwörend die Hand. "Okay, aber erwarte bloß nicht, dass ich mir Mühe gebe", lacht Marco, haut Micky kumpelhaft auf die Schulter und steht auf.
"Ausnahmsweise", schmunzelt dieser und nimmt wieder seine Position als Beobachter ein.
Marco geht lässig bis zur Bahnsteigkante und hüpft hinunter auf die nassen Gleise. Er sieht die Scheinwerfer des Zuges hinter dem grauen Vorhang aus strömenden Wassermassen aufblitzen. Der stürmische Wind fegt ihm kalt ins Gesicht, während er ohne zu zögern auf das Licht zugeht. Er kann jetzt die grobe Form der Führerkabine erkennen, die schnell auf ihn zugerauscht kommt. Es ertönt ein lautes Signalhorn.
Macro lächelt nur und dreht sich um.
"Bitte sehr!", schreit er durch den Regen," ich hoffe du bist zufrieden, Micky!"
Dieser hockt auf der Rückenlehne der Bahnhofsbank und formt die Hände zu einem Tunnel, durch das er Marco zu ruft.
"Kein Blitz, du Insekt!", brüllt er und klopft sich lachend auf den Schenkel. Der Lärm und das Signalhorn schwellen zu einem ohrenbetäubenden Getöse an.
Kein Blitz?
Kein Blitz! Kein Leuchten! Kein Flimmern!
Er begreift zu spät.
Micky winkt zum Abschied und hat wieder sein verflucht dämliches Grinsen aufgesetzt.
Dieses beschissene Grinsen!