Ciconia
Mitglied
Oskar bleibt zurück
(Aktuelle Version)
„Fahr doch heute an die Nordsee“, sagt Jonas beim Frühstück, „lass dir ein bisschen frischen Wind um die Nase wehen. Vielleicht siehst du dann klarer.“
Er ist an diesem Montagmorgen wie immer in Eile, in Gedanken wahrscheinlich schon auf seiner Großbaustelle, die ihn seit Monaten nicht zur Ruhe kommen lässt. Ein flüchtiger Kuss, ein „Fahr vorsichtig!“, und schon ist er aus der Tür. Ich schaue ihm nach, wie er ins Auto steigt und rasant die Auffahrt hinunterfährt. Er wird immer ein großer Junge bleiben, voller Tatendrang, unabhängig und wild – dafür liebe ich ihn.
Während ich das Frühstücksgeschirr abräume, gehen mir unsere Gespräche vom Wochenende durch den Kopf. Jonas hat recht, ein Tag am Meer wird mir bei dem schönen September-Wetter guttun. Ich habe die ganze Woche frei genommen; falls ich zu dem vereinbarten Termin am Mittwoch gehen sollte, möchte ich nicht gleich tags darauf wieder im Büro erscheinen. Wer weiß, wie ich mich anschließend fühle.
Ich packe Proviant und ein großes Handtuch in den Rucksack. Niedrigwasser ist heute um ein Uhr mittags, hat Jonas in der Zeitung nachgeschaut – perfekt, beste Voraussetzung für einen langen Spaziergang im Watt.
Auf der A23 komme ich zügig voran. Plötzlich wird der Kombi vor mir ohne erkennbaren Grund langsamer. Die zwei Kinder auf der Rückbank, die mir gerade noch zugewinkt und Grimassen gezogen haben, streiten sich offensichtlich heftig. Die Fahrerin versucht sie zu beruhigen und scheint dabei das Gaspedal zu vergessen. Wird man als Mutter so schnell abgelenkt?
Nach eineinhalb Stunden Fahrt grüßt der Westerhever Leuchtturm über den Deich, gleich bin ich am Ziel. Ich war früher oft mit meinen Eltern hier, kenne den Ort seit gut zwanzig Jahren. Ich liebe die Küste besonders in der Vor- und Nachsaison, wenn man in Ruhe lange Strandwanderungen unternehmen und die Weite genießen kann. Während meines Studiums habe ich mir hier manchmal vor Prüfungen einen Tag zum Verschnaufen gegönnt.
Die Essensgerüche der Restaurantzeile vor der Seebrücke schlagen mir überraschend heftig auf den Magen, das kam in den letzten Tagen häufiger vor. Ich beeile mich, um möglichst rasch frische Seeluft atmen zu können.
Überwiegend Eltern und Großeltern mit Kleinkindern sind heute unterwegs. Ich beobachte eine Zeitlang die kleine Familie vor mir. Der Vater zieht lustlos den Bollerwagen, in dem zwei etwa dreijährige Rotznasen vor sich hin dösen. Die Kinder, offensichtlich Zwillinge, sind modisch gekleidet, eines in rot, das andere in blau, mit passenden Hütchen. Die Mutter schaut gelangweilt, ihre Kleidung wirkt, als habe sie sich für diesen Ausflug in einer Edelboutique neu eingekleidet. Was bieten diese Eltern ihren Kindern? Wohlstand oder auch echte Zuwendung?
Wie wird es bei Jonas und mir einmal werden? Das ganze Wochenende über haben wir intensiv diskutiert. Jonas hat die hanebüchene Idee gehabt, eine Liste mit Vor- und Nachteilen aufzustellen, aber da habe ich vehement widersprochen.
„Ein Kind ist doch kein Projekt, das man durchplant!“
Finanziell hätten wir keine Probleme, glauben wir. Jonas hat sein Ingenieurbüro in den letzten drei Jahren kontinuierlich aufgebaut und steht im Moment wirtschaftlich gut da. Aber man weiß nie, wie sich die Konjunktur entwickeln wird. Die Baubranche hat schließlich immer starke Schwankungen erlebt, wir wissen, dass der Erfolg seines Büros auch sehr schnell wieder zu Ende sein könnte.
Jonas macht sich die Sache ein wenig zu leicht, finde ich. Er sei grundsätzlich zu allem bereit, die endgültige Entscheidung müsse aber ganz allein ich treffen, hat er am Sonntagabend geäußert. Will er wirklich Verantwortung übernehmen? Wie finden andere werdende Eltern einen Entschluss? Nehmen alle eine ungeplante Schwangerschaft als gottgegeben hin?
„Was meinst du denn, wie die Welt in einigen Jahrzehnten aussehen wird?“, habe ich ihm zu bedenken gegeben. „Glaubst du, dass die jetzt geborene Generation noch viel Freude an der Welt haben wird? Hast du die neuesten Untersuchungen zum Klimawandel gelesen? Weißt du, was das für unsere Küsten bedeutet? Oder nehmen wir die Staatsverschuldung. Glaubst du, dass die nächste Generation die Finanzen in den Griff bekommt? Bist du einverstanden mit den ständigen Änderungen unseres Schulsystems? Wie wird die Bevölkerungsstruktur in 20, 30 Jahren aussehen? Gibt es dann noch Studien- und Arbeitsplätze? So viele Aspekte, die ich im Moment nicht überblicken kann. Ich bin total unsicher, ob man heutzutage unter all diesen Gesichtspunkten ein Kind in die Welt setzen sollte!“
„Nun mach aber mal halblang!“, hat Jonas mich unterbrochen. „Dann hätte unsere Elterngeneration nach dem Krieg auch nicht geboren werden dürfen. Wie waren denn da die Aussichten?“
„Das waren andere Zeiten, das kannst du nicht vergleichen. Natürlich hat man nicht gewusst, wie es weitergehen sollte, aber eigentlich konnte es doch nur aufwärts gehen. Und vor allem haben alle an einem Strang gezogen!“
Jonas hat nur die Achseln gezuckt. Manchmal denke ich, dass er ein wenig oberflächlich ist. Er scheint meine Ängste und Zweifel nicht ansatzweise nachvollziehen zu können. Oder sehe ich viele Dinge zu kompliziert? Ist er langfristig überhaupt der richtige Partner für mich? Was wäre, wenn ich eines Tages als Alleinerziehende dastände?
Am Ende der Seebrücke streife ich meine Sandalen ab, der Sand ist warm genug, um barfuß zu laufen. Ich durchquere den vorderen Strandbereich, der überwiegend von Familien mit kleinen Kindern frequentiert wird. Hier wird gebuddelt, geschaukelt, und vor allem gekreischt. Ich schaue dem bunten Treiben zu. Wie fühlt man sich als Mutter, wenn man den ganzen Tag mittendrin sitzt und den Nachwuchs beaufsichtigt?
Ein lebhaftes kleines Wesen, bekleidet mit einem überweiten T-Shirt und Schlapphut, trippelt plötzlich neben mir her und schaut mich interessiert aus großen blauen Augen an. Was will dieses Kind von mir? Soll ich es wegschicken? Aus der Ferne keift eine Frauenstimme: „Oskar, komm sofort zurück!“ Oskar?! Nein, so würde ich ein Kind nie nennen. Allerdings macht es sowieso keinen Sinn, über einen Namen nachzudenken, solange ich innerlich keinerlei Bezug zu dem kleinen Klümpchen gefunden habe, das da in mir wächst.
Oskar bleibt zurück. Ich atme ein paarmal tief durch, als ich endlich den ruhigeren Bereich der langen Sandbank erreiche. In einer halben Stunde werde ich kaum noch Spaziergänger treffen. Die Ebbe gibt eine zusätzliche Fläche frei, deren Weite ich auskosten werde.
Mir ist bis heute nicht klar, wie ich schwanger werden konnte. Wahrscheinlich hat meine heftige Magen- und Darminfektion vor zwei Monaten die Pille unwirksam werden lassen. Jonas und ich haben bisher in den zwei Jahren unserer Partnerschaft nie über Kinder gesprochen. Wir sind beide beruflich sehr eingespannt, und ich bin froh, nach dem Studium so schnell in einem gutbezahlten Job vorangekommen zu sein. Zum ersten Mal im Leben brauche ich mir nicht jeden Monat Sorgen ums Geld zu machen. Ich mag meinen Beruf, meine Beförderung zur Gruppenleiterin vor drei Monaten war ein weiterer Ansporn für mich. Ich würde gern noch weiterkommen. Soll ich dies alles aufgeben? Ich kann zusehen, wie sich meine frühere Studienkollegin Andrea als mittlerweile zweifache Mutter entwickelt: So langweilig und konservativ will ich nie werden.
Ich kann mir absolut nicht vorstellen, wie meine kleine Welt mit einem Kind aussehen würde. Sicher müsste ich mich den ganzen Tag allein um alles kümmern, Jonas kommt selten vor acht Uhr abends nach Hause. Außer Andrea sind alle anderen Freundinnen berufstätig; ich kann mich nicht erinnern, dass eine von ihnen jemals einen Kinderwunsch geäußert hätte. Vielleicht würde ich irgendwann wieder arbeiten gehen können, wahrscheinlich dann aber nur in Teilzeit. Von einer Kollegin weiß ich zur Genüge, wie das aussieht: Die ewige Hetzerei zwischen Kindergarten oder Schule und Büro, das ständige Improvisieren, wenn das Kind mal krank ist und zu Hause versorgt werden muss – wenn keine Großeltern oder enge Verwandte und Freunde zur Verfügung stehen, wird das Elternsein schnell kräftezehrend. Ich habe Angst, all diesen Anforderungen nicht gerecht werden zu können.
Meiner Mutter habe ich bisher nichts gesagt, deren Meinung kenne ich. Sie hätte gern ein Enkelkind von ihrer einzigen Tochter. Mutter hat sich nach dem Tod meines Vaters sehr verändert. Sie ist noch labiler und unzuverlässiger geworden als früher. Unser Verhältnis war nie besonders eng. Bei abendlichen Telefonaten hatte ich in letzter Zeit manchmal den Eindruck, dass sie angetrunken war. Einer solchen Oma würde ich mein Kind niemals anvertrauen. Und die Eltern von Jonas sind vor einigen Jahren bei einem Unfall ums Leben gekommen – Großeltern fallen also auf beiden Seiten aus.
Nach dem ersten Schrecken rief ich neulich sofort bei ProFamilia an und bat um einen Beratungstermin, mit sehr gemischten Gefühlen. Ich hatte stark damit gerechnet, dass man mir unbedingt zu dem Kind raten würde. Aber man ging sehr einfühlsam auf meine Ängste ein und erklärte mir ausführlich die Formalitäten.
„Die Entscheidung liegt nun ganz allein bei Ihnen“, sagte die freundliche Beraterin zum Abschluss. „Lesen Sie sich diese Broschüre in Ruhe durch, vielleicht finden Sie ja noch Aspekte, die Sie bisher nicht bedacht haben.“
Was mich zusätzlich beunruhigt, ist die Tatsache, dass meine Cousine kürzlich ein Kind mit Down-Syndrom auf die Welt gebracht hat. Es ist unwahrscheinlich, dass auch ich betroffen sein könnte, aber eine familiäre Disposition soll es schon geben, habe ich gelesen. Ein behindertes Kind aufzuziehen, stelle ich mir als fast unlösbare Aufgabe vor, ich glaube nicht, dass ich dazu in der Lage sein würde.
Inzwischen bin ich weit ins Watt hinausgelaufen. Noch etwa eine Stunde bis zum Niedrigwasser. Ich genieße das angenehme Kribbeln an den nackten Füßen auf dem geriffelten Untergrund. Ein älteres Paar mit einem kleinen Jungen kommt mir entgegen. Der Junge tobt ausgelassen durch die Priele und jagt die kreischenden Möwen. Ihm macht der Ausflug mit den Großeltern offensichtlich Spaß. Würde mir später im Alter etwas fehlen, ohne Kinder und Enkel? Ich muss an Tante Margret denken, kinderlos und ihr Leben lang berufstätig. Sie war immer unternehmungslustig und lebt jetzt im Alter sorgenfrei von ihrer guten Rente. Ist es nicht auch ein Vorteil, wenn man sich nicht um Familie kümmern muss?
Wie soll ich alle diese Fragen mit Ende zwanzig beantworten können?
Allmählich wird es Zeit, an den etwas höher gelegenen Strand zurückzukehren. Ich beobachte die ersten kleinen Rinnsale, die beharrlich zu den Prielen streben. Oben angekommen, breite ich mein Handtuch aus und setze mich in den Sand. Hungrig schlinge ich meine mitgebrachten Brote hinunter. Eine Weile blinzele ich in den Himmel und beobachte die Wölkchen, die vom auflandigen Wind heran getrieben werden. So unbeschwert, denke ich, einfach nur unbeschwert möchte ich sein. Entspannt strecke ich mich aus und schließe die Augen.
Ich muss eingedöst sein. Ein Klingelton schreckt mich auf. Jonas.
„Hallo, Jette, wie geht’s dir? Hast du einen schönen Tag?“
„Ja, es ist wunderschön hier draußen. Ich liege gerade im Sand.“
„Und ...?“
Ich schlucke.
„Ach, Jonas, ich glaub, ich weiß jetzt, was ich will ... oder besser was ich nicht will ... Lass uns heute Abend darüber sprechen.“
Ich verstaue meine Sachen im Rucksack und schlendere langsam zurück. Am Strand ist es inzwischen ruhig geworden, nur einige Paare mittleren Alters sind noch unterwegs. Die Kinder am Spielstrand sind fast alle verschwunden, die Schaukeln schwingen verlassen hin und her. Der Wind hat stark aufgefrischt, ich beginne zu frösteln.
Seit Stunden bekomme ich das Lied „Dieser Weg wird kein leichter sein“ von Xavier Naidoo nicht mehr aus dem Kopf, es lief heute Morgen im Radio. Der Termin am Mittwoch macht mir keine Angst mehr. Ich habe mich entschieden.
(Aktuelle Version)
„Fahr doch heute an die Nordsee“, sagt Jonas beim Frühstück, „lass dir ein bisschen frischen Wind um die Nase wehen. Vielleicht siehst du dann klarer.“
Er ist an diesem Montagmorgen wie immer in Eile, in Gedanken wahrscheinlich schon auf seiner Großbaustelle, die ihn seit Monaten nicht zur Ruhe kommen lässt. Ein flüchtiger Kuss, ein „Fahr vorsichtig!“, und schon ist er aus der Tür. Ich schaue ihm nach, wie er ins Auto steigt und rasant die Auffahrt hinunterfährt. Er wird immer ein großer Junge bleiben, voller Tatendrang, unabhängig und wild – dafür liebe ich ihn.
Während ich das Frühstücksgeschirr abräume, gehen mir unsere Gespräche vom Wochenende durch den Kopf. Jonas hat recht, ein Tag am Meer wird mir bei dem schönen September-Wetter guttun. Ich habe die ganze Woche frei genommen; falls ich zu dem vereinbarten Termin am Mittwoch gehen sollte, möchte ich nicht gleich tags darauf wieder im Büro erscheinen. Wer weiß, wie ich mich anschließend fühle.
Ich packe Proviant und ein großes Handtuch in den Rucksack. Niedrigwasser ist heute um ein Uhr mittags, hat Jonas in der Zeitung nachgeschaut – perfekt, beste Voraussetzung für einen langen Spaziergang im Watt.
Auf der A23 komme ich zügig voran. Plötzlich wird der Kombi vor mir ohne erkennbaren Grund langsamer. Die zwei Kinder auf der Rückbank, die mir gerade noch zugewinkt und Grimassen gezogen haben, streiten sich offensichtlich heftig. Die Fahrerin versucht sie zu beruhigen und scheint dabei das Gaspedal zu vergessen. Wird man als Mutter so schnell abgelenkt?
Nach eineinhalb Stunden Fahrt grüßt der Westerhever Leuchtturm über den Deich, gleich bin ich am Ziel. Ich war früher oft mit meinen Eltern hier, kenne den Ort seit gut zwanzig Jahren. Ich liebe die Küste besonders in der Vor- und Nachsaison, wenn man in Ruhe lange Strandwanderungen unternehmen und die Weite genießen kann. Während meines Studiums habe ich mir hier manchmal vor Prüfungen einen Tag zum Verschnaufen gegönnt.
Die Essensgerüche der Restaurantzeile vor der Seebrücke schlagen mir überraschend heftig auf den Magen, das kam in den letzten Tagen häufiger vor. Ich beeile mich, um möglichst rasch frische Seeluft atmen zu können.
Überwiegend Eltern und Großeltern mit Kleinkindern sind heute unterwegs. Ich beobachte eine Zeitlang die kleine Familie vor mir. Der Vater zieht lustlos den Bollerwagen, in dem zwei etwa dreijährige Rotznasen vor sich hin dösen. Die Kinder, offensichtlich Zwillinge, sind modisch gekleidet, eines in rot, das andere in blau, mit passenden Hütchen. Die Mutter schaut gelangweilt, ihre Kleidung wirkt, als habe sie sich für diesen Ausflug in einer Edelboutique neu eingekleidet. Was bieten diese Eltern ihren Kindern? Wohlstand oder auch echte Zuwendung?
Wie wird es bei Jonas und mir einmal werden? Das ganze Wochenende über haben wir intensiv diskutiert. Jonas hat die hanebüchene Idee gehabt, eine Liste mit Vor- und Nachteilen aufzustellen, aber da habe ich vehement widersprochen.
„Ein Kind ist doch kein Projekt, das man durchplant!“
Finanziell hätten wir keine Probleme, glauben wir. Jonas hat sein Ingenieurbüro in den letzten drei Jahren kontinuierlich aufgebaut und steht im Moment wirtschaftlich gut da. Aber man weiß nie, wie sich die Konjunktur entwickeln wird. Die Baubranche hat schließlich immer starke Schwankungen erlebt, wir wissen, dass der Erfolg seines Büros auch sehr schnell wieder zu Ende sein könnte.
Jonas macht sich die Sache ein wenig zu leicht, finde ich. Er sei grundsätzlich zu allem bereit, die endgültige Entscheidung müsse aber ganz allein ich treffen, hat er am Sonntagabend geäußert. Will er wirklich Verantwortung übernehmen? Wie finden andere werdende Eltern einen Entschluss? Nehmen alle eine ungeplante Schwangerschaft als gottgegeben hin?
„Was meinst du denn, wie die Welt in einigen Jahrzehnten aussehen wird?“, habe ich ihm zu bedenken gegeben. „Glaubst du, dass die jetzt geborene Generation noch viel Freude an der Welt haben wird? Hast du die neuesten Untersuchungen zum Klimawandel gelesen? Weißt du, was das für unsere Küsten bedeutet? Oder nehmen wir die Staatsverschuldung. Glaubst du, dass die nächste Generation die Finanzen in den Griff bekommt? Bist du einverstanden mit den ständigen Änderungen unseres Schulsystems? Wie wird die Bevölkerungsstruktur in 20, 30 Jahren aussehen? Gibt es dann noch Studien- und Arbeitsplätze? So viele Aspekte, die ich im Moment nicht überblicken kann. Ich bin total unsicher, ob man heutzutage unter all diesen Gesichtspunkten ein Kind in die Welt setzen sollte!“
„Nun mach aber mal halblang!“, hat Jonas mich unterbrochen. „Dann hätte unsere Elterngeneration nach dem Krieg auch nicht geboren werden dürfen. Wie waren denn da die Aussichten?“
„Das waren andere Zeiten, das kannst du nicht vergleichen. Natürlich hat man nicht gewusst, wie es weitergehen sollte, aber eigentlich konnte es doch nur aufwärts gehen. Und vor allem haben alle an einem Strang gezogen!“
Jonas hat nur die Achseln gezuckt. Manchmal denke ich, dass er ein wenig oberflächlich ist. Er scheint meine Ängste und Zweifel nicht ansatzweise nachvollziehen zu können. Oder sehe ich viele Dinge zu kompliziert? Ist er langfristig überhaupt der richtige Partner für mich? Was wäre, wenn ich eines Tages als Alleinerziehende dastände?
Am Ende der Seebrücke streife ich meine Sandalen ab, der Sand ist warm genug, um barfuß zu laufen. Ich durchquere den vorderen Strandbereich, der überwiegend von Familien mit kleinen Kindern frequentiert wird. Hier wird gebuddelt, geschaukelt, und vor allem gekreischt. Ich schaue dem bunten Treiben zu. Wie fühlt man sich als Mutter, wenn man den ganzen Tag mittendrin sitzt und den Nachwuchs beaufsichtigt?
Ein lebhaftes kleines Wesen, bekleidet mit einem überweiten T-Shirt und Schlapphut, trippelt plötzlich neben mir her und schaut mich interessiert aus großen blauen Augen an. Was will dieses Kind von mir? Soll ich es wegschicken? Aus der Ferne keift eine Frauenstimme: „Oskar, komm sofort zurück!“ Oskar?! Nein, so würde ich ein Kind nie nennen. Allerdings macht es sowieso keinen Sinn, über einen Namen nachzudenken, solange ich innerlich keinerlei Bezug zu dem kleinen Klümpchen gefunden habe, das da in mir wächst.
Oskar bleibt zurück. Ich atme ein paarmal tief durch, als ich endlich den ruhigeren Bereich der langen Sandbank erreiche. In einer halben Stunde werde ich kaum noch Spaziergänger treffen. Die Ebbe gibt eine zusätzliche Fläche frei, deren Weite ich auskosten werde.
Mir ist bis heute nicht klar, wie ich schwanger werden konnte. Wahrscheinlich hat meine heftige Magen- und Darminfektion vor zwei Monaten die Pille unwirksam werden lassen. Jonas und ich haben bisher in den zwei Jahren unserer Partnerschaft nie über Kinder gesprochen. Wir sind beide beruflich sehr eingespannt, und ich bin froh, nach dem Studium so schnell in einem gutbezahlten Job vorangekommen zu sein. Zum ersten Mal im Leben brauche ich mir nicht jeden Monat Sorgen ums Geld zu machen. Ich mag meinen Beruf, meine Beförderung zur Gruppenleiterin vor drei Monaten war ein weiterer Ansporn für mich. Ich würde gern noch weiterkommen. Soll ich dies alles aufgeben? Ich kann zusehen, wie sich meine frühere Studienkollegin Andrea als mittlerweile zweifache Mutter entwickelt: So langweilig und konservativ will ich nie werden.
Ich kann mir absolut nicht vorstellen, wie meine kleine Welt mit einem Kind aussehen würde. Sicher müsste ich mich den ganzen Tag allein um alles kümmern, Jonas kommt selten vor acht Uhr abends nach Hause. Außer Andrea sind alle anderen Freundinnen berufstätig; ich kann mich nicht erinnern, dass eine von ihnen jemals einen Kinderwunsch geäußert hätte. Vielleicht würde ich irgendwann wieder arbeiten gehen können, wahrscheinlich dann aber nur in Teilzeit. Von einer Kollegin weiß ich zur Genüge, wie das aussieht: Die ewige Hetzerei zwischen Kindergarten oder Schule und Büro, das ständige Improvisieren, wenn das Kind mal krank ist und zu Hause versorgt werden muss – wenn keine Großeltern oder enge Verwandte und Freunde zur Verfügung stehen, wird das Elternsein schnell kräftezehrend. Ich habe Angst, all diesen Anforderungen nicht gerecht werden zu können.
Meiner Mutter habe ich bisher nichts gesagt, deren Meinung kenne ich. Sie hätte gern ein Enkelkind von ihrer einzigen Tochter. Mutter hat sich nach dem Tod meines Vaters sehr verändert. Sie ist noch labiler und unzuverlässiger geworden als früher. Unser Verhältnis war nie besonders eng. Bei abendlichen Telefonaten hatte ich in letzter Zeit manchmal den Eindruck, dass sie angetrunken war. Einer solchen Oma würde ich mein Kind niemals anvertrauen. Und die Eltern von Jonas sind vor einigen Jahren bei einem Unfall ums Leben gekommen – Großeltern fallen also auf beiden Seiten aus.
Nach dem ersten Schrecken rief ich neulich sofort bei ProFamilia an und bat um einen Beratungstermin, mit sehr gemischten Gefühlen. Ich hatte stark damit gerechnet, dass man mir unbedingt zu dem Kind raten würde. Aber man ging sehr einfühlsam auf meine Ängste ein und erklärte mir ausführlich die Formalitäten.
„Die Entscheidung liegt nun ganz allein bei Ihnen“, sagte die freundliche Beraterin zum Abschluss. „Lesen Sie sich diese Broschüre in Ruhe durch, vielleicht finden Sie ja noch Aspekte, die Sie bisher nicht bedacht haben.“
Was mich zusätzlich beunruhigt, ist die Tatsache, dass meine Cousine kürzlich ein Kind mit Down-Syndrom auf die Welt gebracht hat. Es ist unwahrscheinlich, dass auch ich betroffen sein könnte, aber eine familiäre Disposition soll es schon geben, habe ich gelesen. Ein behindertes Kind aufzuziehen, stelle ich mir als fast unlösbare Aufgabe vor, ich glaube nicht, dass ich dazu in der Lage sein würde.
Inzwischen bin ich weit ins Watt hinausgelaufen. Noch etwa eine Stunde bis zum Niedrigwasser. Ich genieße das angenehme Kribbeln an den nackten Füßen auf dem geriffelten Untergrund. Ein älteres Paar mit einem kleinen Jungen kommt mir entgegen. Der Junge tobt ausgelassen durch die Priele und jagt die kreischenden Möwen. Ihm macht der Ausflug mit den Großeltern offensichtlich Spaß. Würde mir später im Alter etwas fehlen, ohne Kinder und Enkel? Ich muss an Tante Margret denken, kinderlos und ihr Leben lang berufstätig. Sie war immer unternehmungslustig und lebt jetzt im Alter sorgenfrei von ihrer guten Rente. Ist es nicht auch ein Vorteil, wenn man sich nicht um Familie kümmern muss?
Wie soll ich alle diese Fragen mit Ende zwanzig beantworten können?
Allmählich wird es Zeit, an den etwas höher gelegenen Strand zurückzukehren. Ich beobachte die ersten kleinen Rinnsale, die beharrlich zu den Prielen streben. Oben angekommen, breite ich mein Handtuch aus und setze mich in den Sand. Hungrig schlinge ich meine mitgebrachten Brote hinunter. Eine Weile blinzele ich in den Himmel und beobachte die Wölkchen, die vom auflandigen Wind heran getrieben werden. So unbeschwert, denke ich, einfach nur unbeschwert möchte ich sein. Entspannt strecke ich mich aus und schließe die Augen.
Ich muss eingedöst sein. Ein Klingelton schreckt mich auf. Jonas.
„Hallo, Jette, wie geht’s dir? Hast du einen schönen Tag?“
„Ja, es ist wunderschön hier draußen. Ich liege gerade im Sand.“
„Und ...?“
Ich schlucke.
„Ach, Jonas, ich glaub, ich weiß jetzt, was ich will ... oder besser was ich nicht will ... Lass uns heute Abend darüber sprechen.“
Ich verstaue meine Sachen im Rucksack und schlendere langsam zurück. Am Strand ist es inzwischen ruhig geworden, nur einige Paare mittleren Alters sind noch unterwegs. Die Kinder am Spielstrand sind fast alle verschwunden, die Schaukeln schwingen verlassen hin und her. Der Wind hat stark aufgefrischt, ich beginne zu frösteln.
Seit Stunden bekomme ich das Lied „Dieser Weg wird kein leichter sein“ von Xavier Naidoo nicht mehr aus dem Kopf, es lief heute Morgen im Radio. Der Termin am Mittwoch macht mir keine Angst mehr. Ich habe mich entschieden.
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