Liebe Ciconia,
ich bin ja der Überzeugung, dass unser Schreiben hier vor allem Selbstausdruck ist wobei so ein Text natürlich immer nur einen kleinen Teil ausdrückt .
Ich empfinde vor allem ein bisschen Wehmut aus Deinen Zeilen. Das LyrI ist sich ja dessen bewusst, dass es sich um eine zutiefst individuelle Sicht handelt, wenn es heißt:
Die Welt scheint sich davonzuschleichen.
Ich kann die Menschen nicht erreichen
in ihrer Selbstgefälligkeit.
Ich kann dieses Gefühl gut nachvollziehen. Es kann ein schmerzhafter Prozess sein zu begreifen, dass diese Selbstverständlichkeit in seiner Zeit zu sein, verschwindet in dem Maße, wo andere den Ton vorgeben. Mir ging das vor allem bei der vergangenen sozialliberalen Koalition so. Ich dachte wirklich, diese Zeit sei der Maßstab für alle Zeiten, und wenn nur die richtigen wieder an die Regierung kämen, könnte alles wieder gut werden. Diese Überzeugung war der Grund für jahrelangen Frust bis ich begriff, dass diese Zeiten nie wieder kommen werden und dass ich dankbar dafür sein kann, in einer Zeit groß geworden zu sein, in der der Staat noch ein Selbstverständnis davon hatte, auch und insbesondere für die 'kleinen Leute' da zu sein, und nicht das eines Wirtschaftsunternehmens. Die Bejahung dessen, was wir sind, beinhaltet auch, uns von anderen Werten abwenden zu dürfen, wenn wir erkennen, dass sie mit unseren nicht in Einklang sind.
Das ist Selbstbehauptung, und nicht 'Depression'.
Manchmal muss man den Mond anheulen dürfen und natürlich ist das auch ein Stück Trauerarbeit um unsere eigene Vergänglichkeit.
Unausgesprochen sehe ich vor allem in der ersten Strophe immer ein 'die Welt, wie ich sie kannte', die Werte, die mich formten und zu dem machten, was ich heute bin.
Vor allem in der zweiten Strophe klingt für mich ein Frust an, mit dem, was man hat und kann, sich nicht mehr genügend einbringen zu können. Die Schnittmenge mit dem 'mainstream' wird zunehmend kleiner, Konsens über Ziele scheint schwer herstellbar. Neue Freunde können nur die Alten sein. Jedes Alter hat diese inneren Sackgassen, Stellen, an denen man merkt, dass man nicht mehr so weiter machen kann oder möchte wie bisher, nur werden die Möglichkeiten mit zunehmendem Alter weniger, sich selbst zu transformieren. Das ist auch nicht die Aufgabe des Alters. Das, was da ist, ist die endgültige Form. Auch in der zweiten Strophe also Trauerarbeit über die Begrenztheit des menschlichen Wollens. Die Selbstbejahung einerseits und die Abgrenzung zu dem, was man nicht ist, ist sozusagen systemimmanent. Und an deren Ende steht Selbstgewissheit bevor dann das Loslassen (-Lernen) beginnt.
Hierzu passt auch die Feierstimmung der letzten Strophe. 'Ich bin' ruft das LyrI den anderen zu und will sich feiern, und 'ich werde nicht mehr sein', erkennt es.
Mich stört einzig ein mir krumm erscheinendes Bild:
Lasst uns ein letztes Fass aufmachen
Ich kenne 'Fass aufmachen' eher in dem Sinne, dass man aus einer kleinen Sache keine große machen soll: "Mach hier kein Fass auf!" Aber vielleicht ist dieses Bild nur regional verwurzelt.
Alles in allem: Wenn man dieses Gedicht als Selbstausdruck begreift und den Text als Leser nicht nur nach 'politischer Korrektheit' abklopft oder augenscheinlichen Emotionen, kommen die genannten Irritationen gar nicht auf. Verständnis darf auch der Autor und sein LyrI erwarten.
Liebe Grüße
Petra