Ciconia
Mitglied
Sterzinger und der Schul-Meister
(Aktuelle Version)
Wenn Udo missgelaunt zum Stammtisch kam wie an diesem Montagabend, musste man damit rechnen, dass er ohne Umschweife und sehr ausführlich ausschließlich über politische Themen schwadronierte und grundsätzlich alles in Frage stellte, was in der Welt so passierte. Bei seinem Silbenausstoß pro Sekunde kam niemand anders zu Worte, nicht der Wagner Gustl und auch nicht der Angermeier Franz mit seiner eher behäbigen Sprechweise, allenfalls der Sterzinger Gerold, der schon von Berufs wegen mehr Durchsetzungsvermögen mitbrachte.
Udo Meister, den sie wegen seiner ständigen Besserwisserei und seines endlosen Dozierens hier nur den „Schul-Moasta“ nannten, lebte seit etwa zwei Jahren in Kirchwalden. Er erzählte viel und gern über sich, teilte dabei aber erstaunlich wenig mit. Seine Angaben zur Person variierten, doch immer nur so viel, dass er später Missverständnisse oder ungenaues Zuhören geltend machen konnte, wenn man ihn auf Unstimmigkeiten hinwies. Als sicher galt nur, dass er die meiste Zeit seines Lebens in Norddeutschland verbracht hatte, wohl überwiegend in Hamburg. Seine mindestens zwei Ehefrauen, von denen er sehr differenziert als „meine erste Frau“ und meine „Ex-Frau“ sprach, waren irgendwo auf der Strecke geblieben. Warum er aus der norddeutschen Großstadt ausgerechnet in dieses betuliche bayerische Kleinstädtchen gezogen war, erschloss sich niemandem. An der schönen Landschaft allein würde es wohl nicht liegen, mutmaßte man.
Der "Moasta" hatte sich rasch in das Kleinstadtleben integriert. Vielleicht lag es an seiner jovialen, manchmal etwas aufdringlichen Art, in der er auf Menschen zuging, vielleicht aber einfach nur daran, dass hier nicht allzu viel los war und man zunächst dankbar jeden Neuzugang aufnahm. So gehörte er innerhalb kürzester Zeit zur Skatrunde beim Schreiner-Wirt, man traf ihn des Öfteren auf dem Tennisplatz, und auch bei allen Festen im Ort glänzte er durch Anwesenheit. Beim Frühlingsfest hatte er es heuer allerdings arg übertrieben - so eng und aufdringlich wie er mit verschiedenen verheirateten Frauen getanzt hatte. Einige Ehemänner waren ziemlich aufgebracht gewesen, allen voran der Sterzinger.
Immerhin erwies sich Udo Meister als sehr trinkfest, das verschaffte ihm Anerkennung bei den Einheimischen. Und mehr Schmarrn als eh schon redete er selbst in angetrunkenem Zustand nicht. Einige seiner „Döntjes“, wie er die vielen abenteuerlichen Geschichten aus seiner Vergangenheit nannte, waren ganz amüsant. Ob sie stimmten, stand auf einem anderen Blatt.
Über sein früheres Berufsleben hüllte sich Udo ebenso in Schweigen wie über sein Liebesleben. Die Stammtischbrüder waren alle schon sehr lange und sehr katholisch verheiratet. Das flotte Leben eines „Einschichtigen“ in ihrem Alter schien ihnen ein wenig suspekt. Udo hingegen ließ nie einen Zweifel daran, dass er selbst als alternder Stenz immer noch jede Menge Frauen aufreißen könne.
„Und wo findst jetzt no fesche Madln in deinem Alter?“, hatte ihn der Gustl neulich gefragt und nur ein vielsagendes Schmunzeln geerntet. Denn auch Udos Alter blieb ein Geheimnis. Nur einmal hatte er sich verplappert, als er zu vorgerückter Stunde erzählte, seine früheren Arbeitskollegen hätten ihn zum letzten runden Geburtstag eigentlich besuchen wollen, aber daraus sei dann nichts geworden.
Der letzte Runde könne ja nur der 70. gewesen sein, hatte der Sterzinger messerscharf geschlossen, denn am 60. habe er ja sehr wahrscheinlich noch gearbeitet und noch gar nicht in Kirchwalden gewohnt.
„Reschpekt!“, hatte der Franz anerkennend geknurrt, wobei schwer zu sagen war, ob dies Sterzingers Findigkeit oder dem immer noch gut erhaltenen Udo Meister gegolten hatte. Mit seinen stets fesch geföhnten Silberwellen, dem sportlich federnden Gang und der meist etwas zu farbenfrohen Kleidung hätte man diesen nämlich glatt einige Jährchen jünger schätzen können.
Der Sterzinger Gerold, von Beruf Kriminalkommissar, war der Jüngste und – wie er selbst meinte – geistig Fitteste in der Runde. Seine Anna betrieb eine kleine Pension. Soweit es sein Dienstplan zuließ, fuhr er Gäste mit dem Auto zum Bahnhof ins nahegelegene Bad Steinberg. Beim Abholen eines Stammgastes hatte er am Sonntagabend eine Entdeckung gemacht, von der er heute noch unbedingt erzählen wollte.
Alle waren froh, als Udo sich gegen zehn verabschiedete. Nun konnte der Sterzinger endlich mit seinem Erlebnis herausrücken.
„Jetzt woaß i endli, wo der Moasta die Weiba aufreißt!“
Der Sterzinger berichtete ausführlich, wie er gestern in Bad Steinberg im Vorbeifahren den Udo im Kurcafé verschwinden sehen hatte. Dort gab es Sonntagsnachmittags immer einen Tanztee, aber keinem normalen Kirchwaldener wäre es jemals eingefallen, dort tanzen zu gehen, das überließ man den Kurgästen. Auf dem Rückweg habe er dann extra angehalten und einmal näher durchs Fenster in den Saal geschaut. Über den Anblick von Udo mit einer fülligen aufgetakelten Brünetten beim Tango habe er sich noch den ganzen Tag amüsieren können.
„A Hund isser scho!“, bemerkte der Franz später anerkennend.
„Wann er nur net allerweil so nerven daad!“, fügte der Gustl hinzu. „Dem miassadn mia amoi sauba oans auswischen.“
Da hatte der Sterzinger eine Idee.
Nach einem missglückten Annäherungsversuch am vergangenen Sonntag, der ihm tagelang schlechte Laune beschert hatte, versuchte Udo am folgenden Sonntag sein Glück aufs Neue. Schon gleich beim Eintreten in den kleinen Tanzsaal entdeckte er die hochtoupierte Dunkelhaarige mit dem grellen korallenroten Lippenstift. Ihm gefiel ihr etwas schrilles Äußeres, auch das üppige Dekolleté im großgeblümten Kleid war ganz nach seinem Geschmack.
Er suchte sich einen strategisch günstigen Platz, um die Dame im Blick zu behalten, und bestellte erst einmal einen Kaffee und einen Cognac. Wie meistens gab es einen eklatanten Frauenüberschuss, er konnte sich also Zeit lassen. Er ging kurz zur Toilette und überprüfte im Spiegel noch einmal die Frisur und den korrekten Sitz der Krawatte. Mit einem charmanten Lächeln forderte er anschließend die Auserwählte auf.
Die Dame tanzte trotz ihres leichten Übergewichts federleicht. Udo hielt den molligen Körper fest im Griff. Nach einigen Tänzen war man sich soweit nähergekommen, dass Leonore, wie sie sich vorgestellt hatte, an Udos Tisch Platz nahm. Es dauerte nicht lange, bis Udo sie mit den besten Geschichten aus seinem ereignisreichen Leben unterhielt: vom Beruf als Versicherungsmakler (dass er nur ein windiger kleiner Vertreter ohne großen Erfolg geblieben war, musste niemand wissen), vom tragischen Tod seiner Ehefrau (die Scheidung von der zweiten Frau verschwieg er aus gutem Grund), vom Glück, bescheiden und ohne Sorgen in einem kleinen bayerischen Städtchen den Lebensabend verbringen zu dürfen …
Leonore fand Udo durchaus attraktiv und vergaß schnell, warum sie sich eigentlich in dieses Abenteuer gestürzt hatte.
Der Kripobeamte, der am nächsten Morgen zusammen mit einem jungen Polizisten an Udos Wohnungstür klingelte, hieß Gerold Sterzinger. Er siezte Udo und erklärte ihm in erstaunlich förmlichem Hochdeutsch, dass gegen ihn eine Anzeige wegen sexueller Nötigung vorliege und man ihn bitten müsse, mit aufs Revier zu kommen.
Udo schaute ungläubig. Er verstand die Welt nicht mehr.
***
Noch am späten Sonntagabend hatte Leonore Sterzinger, die Witwe seines früh verstorbenen Bruders, völlig aufgelöst bei Gerold angerufen. Er ahnte sofort, dass seine Idee gewaltig aus dem Ruder gelaufen war.
Leonore, Mitte fünfzig und früher äußerst lebensfroh, war nach dem Tod ihres Mannes in ihre rheinische Heimat zurückgekehrt. Aus alter Verbundenheit zu Bayern und um den Kontakt zu Schwägerin und Schwager nicht zu verlieren, hatte sie von der Lebensversicherung ihres Mannes eine kleine Ferienwohnung in Bad Steinberg gekauft und machte dort zwei- bis dreimal im Jahr Urlaub. So allmählich schien sie ihre frühere Lebenslust wiederzufinden, fand der Sterzinger, und diese Vermutung hatte ihn auf die Idee gebracht, Leonore den Tanztee im Kurcafé zu empfehlen. Ein seltsamer Quasi-Spezl von ihm sei manchmal dort, ob sie den nicht mal ein wenig auskundschaften und anschließend in die Wüste schicken könne.
„Warum eigentlich nicht“, hatte Leonore geantwortet, „ich glaub, ich hab überhaupt nie wieder getanzt, seit der Bruno gegangen ist. Tät mir vielleicht ganz gut. Und so lange ich nicht mit deinem Spezl ins Bett gehen muss …“.
„Na, na, das sollst wirklich nicht. Nur a bisserl tratzen, damit wir ihn am Stammtisch mal a weng hochnehmen können.“
Später beruhigte sich der Sterzinger damit, dass ihm Udos Vorstrafenregister zu diesem Zeitpunkt schließlich nicht bekannt gewesen war.
In dem kleinen Vernehmungszimmer auf der Polizeistation saßen sich Gerold Sterzinger und ein äußerst nervöser Udo Meister am späten Vormittag gegenüber.
„So, Herr Meister“, begann der Sterzinger, „Ihnen wird vorgeworfen, am gestrigen Abend Frau Leonore Sterzinger in deren Wohnung in Bad Steinberg …“
„Diese geile Schlampe hat mich doch mitgenommen“, plärrte Udo mitten in den Satz hinein, „die wollt‘ mich doch abschleppen! Und übrigens: Ist diese Sterzinger etwa mit dir verwandt?“
„Jetzt red i erst amoi! Und hier samma immer noch per Sie, Herr Meister!“ Sterzingers ungewohnt harscher Ton ließ Udo zusammenzucken. Er schwieg, auch wenn sein stark gerötetes Gesicht und die heruntergezogenen Mundwinkel auf eine gehörige Portion Wut im Bauch schließen ließen.
„Tatsache ist“, so der Sterzinger, nachdem er Udo über den genauen Wortlaut von Leonores Anzeige informiert hatte, „dass Sie in Hamburg schon zweimal wegen sexueller Nötigung angezeigt wurden. Das erste Mal haben S‘ Glück gehabt, dass es wegen der unklaren Aussagen der betroffenen Dame nur zu einer Bewährungsstrafe gereicht hat, beim zweiten Mal haben S‘ eine Freiheitsstrafe von zwei Jahren bekommen und diese in der JVA Fuhlsbüttel abgesessen. Da könnt‘ man doch jetzt glauben …“
Udo verlor schon wieder die Beherrschung. „Das hat mich damals immerhin meinen Job gekostet, und meine Frau wollt‘ danach auch nichts mehr von mir wissen!“ Seine Stimme überschlug sich, sie klang jetzt fast weinerlich.
„Und dann haben Sie’s in Hamburg nicht mehr ausgehalten und in Kirchwalden weitergemacht?“
„Quatsch, dann bin ich erst mal nach Bremen gezogen und hab mir jahrelang nichts mehr zuschulden kommen lassen!“
„Aber jetzt, mit über Siebzig, haben Sie’s noch einmal wissen wollen?“
Was wirklich im Verlauf des Abends geschehen war, darüber gingen die Aussagen von Leonore und Udo stark auseinander. Unstrittig blieb, dass sie ihn noch auf ein Gläschen in ihre Ferienwohnung eingeladen hatte. Aus Udos Sicht sei es zu Zärtlichkeiten gekommen, einvernehmlich natürlich, aus Leonores Sicht sei er wie ein Ausgehungerter über sie hergefallen und habe versucht, sie zu vergewaltigen. Der Sterzinger hatte Leonore gleich am Telefon geraten, sofort am nächsten Morgen zu einem Arzt zu gehen und sich eventuelle Verletzungen bescheinigen zu lassen. Am Nachmittag erschien Leonore tatsächlich mit einem Attest auf dem Revier.
Doch letztendlich reichten die Beweise für eine Anklageerhebung nicht aus. Die blauen Flecken, die sich Leonore bescheinigen lassen hatte, könnten durchaus im „normalen Liebensspiel“ entstanden sein, so der Staatsanwalt später. Weitere Verletzungen waren nicht erkennbar. Es stand Aussage gegen Aussage. In dubio pro reo!
Udo kam ungeschoren davon.
Der Sterzinger verfügte über genügend Beziehungen, um die örtliche Presse von einer Veröffentlichung dieses Vorfalls abzuhalten. Auf keinen Fall wollte er durch die Namensgleichheit des Opfers mit der Sache in Verbindung gebracht werden. Was für eine naive blöde Gans, sich auf diesen Lackl einzulassen, redete er sich immer wieder ein, konnte damit aber sein schlechtes Gewissen nicht so recht beruhigen. Leonore behauptete weiterhin, Udo Meister habe mit Gewalt versucht, mit ihr zu schlafen, sie habe darüber hinaus genau gesehen, wie er zum ersten Drink in ihrer Wohnung eine gewisse Pille eingeworfen habe. Das sage doch wohl alles! Aber sie war ihrem Schwager nicht gram - schließlich war nie die Rede davon gewesen, dass sie Udo mit zu sich nach Hause nehmen sollte. Allerdings machte sie dem Sterzinger klar, dass sie seine Mithilfe bei der fälligen Renovierung ihrer Ferienwohnung als kleine Entschädigung gern annehmen würde.
In der Kirchwaldener Öffentlichkeit wurde Udo danach nur noch selten gesehen. Bis eines Tages jemand erzählte, Udo Meister sei zurück nach Norddeutschland gezogen.
„Do g’hert er a hi!“, so Gustls Kommentar am Stammtisch. Kirchwalden war wohl einfach nicht das Richtige für einen wie Udo gewesen.
(Aktuelle Version)
Wenn Udo missgelaunt zum Stammtisch kam wie an diesem Montagabend, musste man damit rechnen, dass er ohne Umschweife und sehr ausführlich ausschließlich über politische Themen schwadronierte und grundsätzlich alles in Frage stellte, was in der Welt so passierte. Bei seinem Silbenausstoß pro Sekunde kam niemand anders zu Worte, nicht der Wagner Gustl und auch nicht der Angermeier Franz mit seiner eher behäbigen Sprechweise, allenfalls der Sterzinger Gerold, der schon von Berufs wegen mehr Durchsetzungsvermögen mitbrachte.
Udo Meister, den sie wegen seiner ständigen Besserwisserei und seines endlosen Dozierens hier nur den „Schul-Moasta“ nannten, lebte seit etwa zwei Jahren in Kirchwalden. Er erzählte viel und gern über sich, teilte dabei aber erstaunlich wenig mit. Seine Angaben zur Person variierten, doch immer nur so viel, dass er später Missverständnisse oder ungenaues Zuhören geltend machen konnte, wenn man ihn auf Unstimmigkeiten hinwies. Als sicher galt nur, dass er die meiste Zeit seines Lebens in Norddeutschland verbracht hatte, wohl überwiegend in Hamburg. Seine mindestens zwei Ehefrauen, von denen er sehr differenziert als „meine erste Frau“ und meine „Ex-Frau“ sprach, waren irgendwo auf der Strecke geblieben. Warum er aus der norddeutschen Großstadt ausgerechnet in dieses betuliche bayerische Kleinstädtchen gezogen war, erschloss sich niemandem. An der schönen Landschaft allein würde es wohl nicht liegen, mutmaßte man.
Der "Moasta" hatte sich rasch in das Kleinstadtleben integriert. Vielleicht lag es an seiner jovialen, manchmal etwas aufdringlichen Art, in der er auf Menschen zuging, vielleicht aber einfach nur daran, dass hier nicht allzu viel los war und man zunächst dankbar jeden Neuzugang aufnahm. So gehörte er innerhalb kürzester Zeit zur Skatrunde beim Schreiner-Wirt, man traf ihn des Öfteren auf dem Tennisplatz, und auch bei allen Festen im Ort glänzte er durch Anwesenheit. Beim Frühlingsfest hatte er es heuer allerdings arg übertrieben - so eng und aufdringlich wie er mit verschiedenen verheirateten Frauen getanzt hatte. Einige Ehemänner waren ziemlich aufgebracht gewesen, allen voran der Sterzinger.
Immerhin erwies sich Udo Meister als sehr trinkfest, das verschaffte ihm Anerkennung bei den Einheimischen. Und mehr Schmarrn als eh schon redete er selbst in angetrunkenem Zustand nicht. Einige seiner „Döntjes“, wie er die vielen abenteuerlichen Geschichten aus seiner Vergangenheit nannte, waren ganz amüsant. Ob sie stimmten, stand auf einem anderen Blatt.
Über sein früheres Berufsleben hüllte sich Udo ebenso in Schweigen wie über sein Liebesleben. Die Stammtischbrüder waren alle schon sehr lange und sehr katholisch verheiratet. Das flotte Leben eines „Einschichtigen“ in ihrem Alter schien ihnen ein wenig suspekt. Udo hingegen ließ nie einen Zweifel daran, dass er selbst als alternder Stenz immer noch jede Menge Frauen aufreißen könne.
„Und wo findst jetzt no fesche Madln in deinem Alter?“, hatte ihn der Gustl neulich gefragt und nur ein vielsagendes Schmunzeln geerntet. Denn auch Udos Alter blieb ein Geheimnis. Nur einmal hatte er sich verplappert, als er zu vorgerückter Stunde erzählte, seine früheren Arbeitskollegen hätten ihn zum letzten runden Geburtstag eigentlich besuchen wollen, aber daraus sei dann nichts geworden.
Der letzte Runde könne ja nur der 70. gewesen sein, hatte der Sterzinger messerscharf geschlossen, denn am 60. habe er ja sehr wahrscheinlich noch gearbeitet und noch gar nicht in Kirchwalden gewohnt.
„Reschpekt!“, hatte der Franz anerkennend geknurrt, wobei schwer zu sagen war, ob dies Sterzingers Findigkeit oder dem immer noch gut erhaltenen Udo Meister gegolten hatte. Mit seinen stets fesch geföhnten Silberwellen, dem sportlich federnden Gang und der meist etwas zu farbenfrohen Kleidung hätte man diesen nämlich glatt einige Jährchen jünger schätzen können.
Der Sterzinger Gerold, von Beruf Kriminalkommissar, war der Jüngste und – wie er selbst meinte – geistig Fitteste in der Runde. Seine Anna betrieb eine kleine Pension. Soweit es sein Dienstplan zuließ, fuhr er Gäste mit dem Auto zum Bahnhof ins nahegelegene Bad Steinberg. Beim Abholen eines Stammgastes hatte er am Sonntagabend eine Entdeckung gemacht, von der er heute noch unbedingt erzählen wollte.
Alle waren froh, als Udo sich gegen zehn verabschiedete. Nun konnte der Sterzinger endlich mit seinem Erlebnis herausrücken.
„Jetzt woaß i endli, wo der Moasta die Weiba aufreißt!“
Der Sterzinger berichtete ausführlich, wie er gestern in Bad Steinberg im Vorbeifahren den Udo im Kurcafé verschwinden sehen hatte. Dort gab es Sonntagsnachmittags immer einen Tanztee, aber keinem normalen Kirchwaldener wäre es jemals eingefallen, dort tanzen zu gehen, das überließ man den Kurgästen. Auf dem Rückweg habe er dann extra angehalten und einmal näher durchs Fenster in den Saal geschaut. Über den Anblick von Udo mit einer fülligen aufgetakelten Brünetten beim Tango habe er sich noch den ganzen Tag amüsieren können.
„A Hund isser scho!“, bemerkte der Franz später anerkennend.
„Wann er nur net allerweil so nerven daad!“, fügte der Gustl hinzu. „Dem miassadn mia amoi sauba oans auswischen.“
Da hatte der Sterzinger eine Idee.
***
Nach einem missglückten Annäherungsversuch am vergangenen Sonntag, der ihm tagelang schlechte Laune beschert hatte, versuchte Udo am folgenden Sonntag sein Glück aufs Neue. Schon gleich beim Eintreten in den kleinen Tanzsaal entdeckte er die hochtoupierte Dunkelhaarige mit dem grellen korallenroten Lippenstift. Ihm gefiel ihr etwas schrilles Äußeres, auch das üppige Dekolleté im großgeblümten Kleid war ganz nach seinem Geschmack.
Er suchte sich einen strategisch günstigen Platz, um die Dame im Blick zu behalten, und bestellte erst einmal einen Kaffee und einen Cognac. Wie meistens gab es einen eklatanten Frauenüberschuss, er konnte sich also Zeit lassen. Er ging kurz zur Toilette und überprüfte im Spiegel noch einmal die Frisur und den korrekten Sitz der Krawatte. Mit einem charmanten Lächeln forderte er anschließend die Auserwählte auf.
Die Dame tanzte trotz ihres leichten Übergewichts federleicht. Udo hielt den molligen Körper fest im Griff. Nach einigen Tänzen war man sich soweit nähergekommen, dass Leonore, wie sie sich vorgestellt hatte, an Udos Tisch Platz nahm. Es dauerte nicht lange, bis Udo sie mit den besten Geschichten aus seinem ereignisreichen Leben unterhielt: vom Beruf als Versicherungsmakler (dass er nur ein windiger kleiner Vertreter ohne großen Erfolg geblieben war, musste niemand wissen), vom tragischen Tod seiner Ehefrau (die Scheidung von der zweiten Frau verschwieg er aus gutem Grund), vom Glück, bescheiden und ohne Sorgen in einem kleinen bayerischen Städtchen den Lebensabend verbringen zu dürfen …
Leonore fand Udo durchaus attraktiv und vergaß schnell, warum sie sich eigentlich in dieses Abenteuer gestürzt hatte.
***
Der Kripobeamte, der am nächsten Morgen zusammen mit einem jungen Polizisten an Udos Wohnungstür klingelte, hieß Gerold Sterzinger. Er siezte Udo und erklärte ihm in erstaunlich förmlichem Hochdeutsch, dass gegen ihn eine Anzeige wegen sexueller Nötigung vorliege und man ihn bitten müsse, mit aufs Revier zu kommen.
Udo schaute ungläubig. Er verstand die Welt nicht mehr.
***
Leonore, Mitte fünfzig und früher äußerst lebensfroh, war nach dem Tod ihres Mannes in ihre rheinische Heimat zurückgekehrt. Aus alter Verbundenheit zu Bayern und um den Kontakt zu Schwägerin und Schwager nicht zu verlieren, hatte sie von der Lebensversicherung ihres Mannes eine kleine Ferienwohnung in Bad Steinberg gekauft und machte dort zwei- bis dreimal im Jahr Urlaub. So allmählich schien sie ihre frühere Lebenslust wiederzufinden, fand der Sterzinger, und diese Vermutung hatte ihn auf die Idee gebracht, Leonore den Tanztee im Kurcafé zu empfehlen. Ein seltsamer Quasi-Spezl von ihm sei manchmal dort, ob sie den nicht mal ein wenig auskundschaften und anschließend in die Wüste schicken könne.
„Warum eigentlich nicht“, hatte Leonore geantwortet, „ich glaub, ich hab überhaupt nie wieder getanzt, seit der Bruno gegangen ist. Tät mir vielleicht ganz gut. Und so lange ich nicht mit deinem Spezl ins Bett gehen muss …“.
„Na, na, das sollst wirklich nicht. Nur a bisserl tratzen, damit wir ihn am Stammtisch mal a weng hochnehmen können.“
Später beruhigte sich der Sterzinger damit, dass ihm Udos Vorstrafenregister zu diesem Zeitpunkt schließlich nicht bekannt gewesen war.
***
In dem kleinen Vernehmungszimmer auf der Polizeistation saßen sich Gerold Sterzinger und ein äußerst nervöser Udo Meister am späten Vormittag gegenüber.
„So, Herr Meister“, begann der Sterzinger, „Ihnen wird vorgeworfen, am gestrigen Abend Frau Leonore Sterzinger in deren Wohnung in Bad Steinberg …“
„Diese geile Schlampe hat mich doch mitgenommen“, plärrte Udo mitten in den Satz hinein, „die wollt‘ mich doch abschleppen! Und übrigens: Ist diese Sterzinger etwa mit dir verwandt?“
„Jetzt red i erst amoi! Und hier samma immer noch per Sie, Herr Meister!“ Sterzingers ungewohnt harscher Ton ließ Udo zusammenzucken. Er schwieg, auch wenn sein stark gerötetes Gesicht und die heruntergezogenen Mundwinkel auf eine gehörige Portion Wut im Bauch schließen ließen.
„Tatsache ist“, so der Sterzinger, nachdem er Udo über den genauen Wortlaut von Leonores Anzeige informiert hatte, „dass Sie in Hamburg schon zweimal wegen sexueller Nötigung angezeigt wurden. Das erste Mal haben S‘ Glück gehabt, dass es wegen der unklaren Aussagen der betroffenen Dame nur zu einer Bewährungsstrafe gereicht hat, beim zweiten Mal haben S‘ eine Freiheitsstrafe von zwei Jahren bekommen und diese in der JVA Fuhlsbüttel abgesessen. Da könnt‘ man doch jetzt glauben …“
Udo verlor schon wieder die Beherrschung. „Das hat mich damals immerhin meinen Job gekostet, und meine Frau wollt‘ danach auch nichts mehr von mir wissen!“ Seine Stimme überschlug sich, sie klang jetzt fast weinerlich.
„Und dann haben Sie’s in Hamburg nicht mehr ausgehalten und in Kirchwalden weitergemacht?“
„Quatsch, dann bin ich erst mal nach Bremen gezogen und hab mir jahrelang nichts mehr zuschulden kommen lassen!“
„Aber jetzt, mit über Siebzig, haben Sie’s noch einmal wissen wollen?“
Was wirklich im Verlauf des Abends geschehen war, darüber gingen die Aussagen von Leonore und Udo stark auseinander. Unstrittig blieb, dass sie ihn noch auf ein Gläschen in ihre Ferienwohnung eingeladen hatte. Aus Udos Sicht sei es zu Zärtlichkeiten gekommen, einvernehmlich natürlich, aus Leonores Sicht sei er wie ein Ausgehungerter über sie hergefallen und habe versucht, sie zu vergewaltigen. Der Sterzinger hatte Leonore gleich am Telefon geraten, sofort am nächsten Morgen zu einem Arzt zu gehen und sich eventuelle Verletzungen bescheinigen zu lassen. Am Nachmittag erschien Leonore tatsächlich mit einem Attest auf dem Revier.
Doch letztendlich reichten die Beweise für eine Anklageerhebung nicht aus. Die blauen Flecken, die sich Leonore bescheinigen lassen hatte, könnten durchaus im „normalen Liebensspiel“ entstanden sein, so der Staatsanwalt später. Weitere Verletzungen waren nicht erkennbar. Es stand Aussage gegen Aussage. In dubio pro reo!
Udo kam ungeschoren davon.
Der Sterzinger verfügte über genügend Beziehungen, um die örtliche Presse von einer Veröffentlichung dieses Vorfalls abzuhalten. Auf keinen Fall wollte er durch die Namensgleichheit des Opfers mit der Sache in Verbindung gebracht werden. Was für eine naive blöde Gans, sich auf diesen Lackl einzulassen, redete er sich immer wieder ein, konnte damit aber sein schlechtes Gewissen nicht so recht beruhigen. Leonore behauptete weiterhin, Udo Meister habe mit Gewalt versucht, mit ihr zu schlafen, sie habe darüber hinaus genau gesehen, wie er zum ersten Drink in ihrer Wohnung eine gewisse Pille eingeworfen habe. Das sage doch wohl alles! Aber sie war ihrem Schwager nicht gram - schließlich war nie die Rede davon gewesen, dass sie Udo mit zu sich nach Hause nehmen sollte. Allerdings machte sie dem Sterzinger klar, dass sie seine Mithilfe bei der fälligen Renovierung ihrer Ferienwohnung als kleine Entschädigung gern annehmen würde.
In der Kirchwaldener Öffentlichkeit wurde Udo danach nur noch selten gesehen. Bis eines Tages jemand erzählte, Udo Meister sei zurück nach Norddeutschland gezogen.
„Do g’hert er a hi!“, so Gustls Kommentar am Stammtisch. Kirchwalden war wohl einfach nicht das Richtige für einen wie Udo gewesen.
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