Ciconia
Mitglied
„Da kannst du genauso gut versuchen, einen Pudding an die Wand zu nageln!“
Holger knallte sein leeres Bierglas auf den Tresen.
„Dem ollen Sturkopp kannst du sonst nicht beikommen. Und solange ihn der Alte deckt … “
Holger und ich saßen beim Feierabendbier in der „Goldenen Kanne“. Gesprächsthemen aus unserem Junggesellenleben und der Firma gab es immer genügend. Heute ging es allerdings nur um Werner.
Werner Drohmer arbeitete seit einem Jahr in unserer Firma und hatte von Anfang an seine eigenen Regeln gesetzt. Er verteidigte jede seiner irrwitzigen Entscheidungen, er wurde nie zur Rechenschaft gezogen, wenn etwas schiefging – im Gegenteil, Günther Dreysen, der Geschäftsführer, stand stets voll und ganz hinter ihm, und das wurmte uns am allermeisten. Im Großen und Ganzen waren wir ein eingespieltes Team, die Arbeit in der Vertriebsabteilung machte Spaß – wenn Werner nicht wieder quertrieb.
„Heute hat er ganz schön blöd aus der Wäsche geschaut“, grinste Holger, „deine Idee war super!“
„Na ja, das konnte aber nur klappen, weil du mitgezogen hast. Allein hätte ich das nicht schaffen können.“
Wir schwiegen eine Weile in Gedanken an den heutigen Nachmittag.
„Ich geh mal eine rauchen, Martin“, meinte Holger dann.
Ich orderte noch ein Pils. Hoffentlich hatte Werner endlich begriffen, dass er nicht alles mit uns machen konnte.
Unsere kleine Hamburger Vertriebsfirma importierte Südfrüchte, leicht verderbliche Ware also, die äußerst schnell vom Hafen zu den Abnehmern gelangen musste. Das Kontingent einer Schiffsladung wurde möglichst gerecht auf alle Kunden verteilt. Doch in letzter Zeit war der Abteilungsfrieden gestört. Ständig gelang es Werner, die größten Partien für sich abzuzweigen, indem er im Warenwirtschaftssystem in den Mengen der anderen Kollegen „wilderte“. Werner wies stets die besten Verkaufszahlen der Abteilung auf, während wir uns schwarz ärgerten. Und der Chef deckte ihn, aus welchen Gründen auch immer.
Es gehörte zur Natur der Sache, dass Ware beim Kunden manchmal nicht mehr völlig einwandfrei ankam und vorzeitig verdarb, trotz strenger Qualitätskontrollen. In so einem Fall wurden die entsprechenden Paletten zurückgeholt, im System gekennzeichnet, irgendwann ausgebucht und die Gammelware vernichtet. Gestern war es Holger und mir gelungen, diese Kennzeichnungen zu unterdrücken. Bei einem Routinebesuch im Lager konnte Holger die markierten Paletten als unbeanstandet kennzeichnen. Prompt hatte Werner zugegriffen und die Ware vertickt. Sein Kunde, eine große norddeutsche Supermarktkette, hatte heute nach der Auslieferung einen Riesenterror gemacht und sich mit Androhung von Konsequenzen bei Dreysen beschwert. Zum ersten Mal konnten wir erleben, dass Werner einen wirklichen Anschiss bekam und ihm danach die Worte fehlten – bis er, nachdem Dreysen gegangen war, sofort versuchte, die Schuldigen unter uns auszumachen. Aber da außer Holger und mir niemand Bescheid wusste, kam er nicht weit.
„Musst halt besser aufpassen, Werner“, hatte Kalle geätzt.
Sollte ihm dieses Spielchen keine Lehre gewesen sein, wären wir durchaus bereit, ihn ein zweites Mal auflaufen zu lassen, hatten Holger und ich beschlossen.
„Hast du eigentlich jemals erlebt, dass Werner privat telefoniert?“, fragte Holger, als er von draußen zurückkam.
„Wie kommst du denn jetzt darauf?“
„Na, ich hab mir gerade überlegt, wie ein Mensch derart knöselig werden kann wie Werner. Der hat bestimmt noch nie 'ne Frau gehabt, die wär ihm sicher gleich weggelaufen. Irgendwie scheint der doch gar kein Privatleben zu haben.“
„Ich war mal mit ihm und Dreysen unterwegs, ich glaub, da hat er eine erwachsene Tochter erwähnt.“
Holger schaute mich ungläubig an.
„Kann ich mir kaum vorstellen. Und wenn, hat die bestimmt keinen Kontakt mehr zu ihm.“
Wir wussten sehr wenig über Werner, nicht einmal, wo er vorher gearbeitet hatte. Er fehlte oft wegen Krankheit, auch das kam nicht gut an. Jan behauptete, Werner sei Alkoholiker, er habe da über Bekannte etwas läuten hören – aber dafür gab es während der Arbeitszeit keinerlei Hinweise. Und aus privaten Veranstaltungen hielt er sich generell raus. Fußfall mochte er und besonders den HSV, daraus machte er kein Geheimnis. Mehr wussten wir nicht.
„Meinst du, Werner trinkt viel?“, fragte ich.
„Keine Ahnung. Nehmen wir noch'n Bier, oder wartet Zuhause ausnahmsweise jemand auf dich?“
Vielleicht lag es an den vielen Bierchen, dass wir am nächsten Morgen Werners Abwesenheit nicht gleich bemerkten. Wir telefonierten, wir fluchten, wir versuchten Kunden zu besänftigen und vor allem Ware an den Mann zu bringen – normaler Vertriebsalltag im Großraumbüro eben. Irgendwann fragte der lange Jan:
„Wo ist Werner heute eigentlich?“
Wir zuckten die Achseln, keine Ahnung. Vielleicht war er mal wieder krank.
„Gestern hat der HSV doch gar nicht gespielt“, rief Kalle, und alle brachen in dröhnendes Gelächter aus. Über seinen Verein ließ Werner nichts kommen. Wenn der HSV am Wochenende verloren hatte, was in letzter Zeit häufig vorkam, lästerten wir montags erst einmal ausgiebig. Die Meisten waren Pauli-Fans und verstanden sich sehr gut im Sticheln auf den Rivalen. Der drohende endgültige Abstieg würde Werner sicher erheblich zusetzen.
Gegen elf verteilte Johanna Germann, die Vertriebsassistentin, die Post.
„Ist Werner gar nicht da?“
Erneutes Achselzucken.
„Krank gemeldet hat er sich nicht“, meinte sie verwundert.
„Fehlt er jemandem?“, quäkte Kalle.
„Ja, mir, ist mir heute viel zu harmonisch hier, kann ich gar nicht mit umgehen!“, rief Lothar.
Nach der Mittagspause tauchte Dreysen in der Abteilung auf.
„Hat schon jemand etwas von Herrn Drohmer gehört?“, fragte er in die Runde.
Ein mehrstimmiges „Nö!“
„Na, dann soll Frau Germann mal bei ihm anrufen, das hat er ja noch nie gemacht!“
Johanna erschien kurz darauf mit ratloser Miene.
„Da meldet sich nur der Anrufbeantworter. Allmählich mach ich mir Sorgen.“
„Brauchst du nicht, Unkraut vergeht nicht“, feixte Jan, der heute freiwillig Werners Kunden mit betreute, weil er angeblich einen guten Tag hatte.
Auch am nächsten Morgen erschien Werner nicht zur Arbeit, am Telefon war er immer noch nicht zu erreichen. Dreysen wirkte sehr beunruhigt.
„Hat jemand Zeit, mit mir in die Wohnung von Herrn Drohmer zu fahren?“
Holger, der eigentlich sein Telefonat gerade beendet hatte, warf mir einen gehetzten Blick zu und plapperte einfach weiter in den Hörer. Dreysen nahm mich ins Visier.
„Wie sieht’s mit Ihnen aus, Herr Bertram?“
Ich bedauerte sehr, aber ich musste mich dringend um Ersatzware für die Malesche von vorgestern kümmern. Die übrigen Kollegen stellten sich taub.
Dreysen zog mit verächtlicher Miene ab und nahm Christoph, den Azubi, mit. Er war der Einzige außer Werner, den der Chef mit dem „hanseatischen Du“ anredete, was uns bei einem Azubi wegen des Alters nicht störte. Warum allerdings ausgerechnet Werner von Dreysen mit Vornamen angeredet wurde, wusste niemand.
Bis zum frühen Nachmittag waren die Beiden nicht zurück. Dann schaute Johanna völlig verstört zu uns herein.
„Jungs, es ist was Schreckliches passiert. Der Chef will gleich mit euch sprechen.“
Holger starrte mich an, ich zuckte lässig die Schultern. Was sollte schon passiert sein? Wir taten, als ginge uns das Ganze nichts an, doch nach und nach wurde es merklich stiller im Raum.
Dreysen wirkte etwas hohlwangig, als er das Büro betrat. Christoph war kreidebleich, seine Augen schienen leicht gerötet. Er setzte sich stumm und klammerte sich an die Schreibtischkante.
„Meine Herren, ich möchte Sie bitten, mir einen Moment zuzuhören. Ich habe leider eine sehr traurige Nachricht für Sie“, begann Dreysen.
Zögernd, ein wenig widerwillig, legte einer nach dem anderen den Hörer aus der Hand und stellte das Telefon auf die Zentrale um. Dreysen setzte sich auf Werners Platz und wartete, bis Ruhe eingekehrt war.
„Ich mach’s kurz: Wir haben Werner Drohmer tot in seiner Wohnung aufgefunden, nachdem uns der Hausmeister die Tür geöffnet hatte. Wahrscheinlich lag er schon seit vorgestern Nacht dort. Es sieht so aus, als habe er ein paar Schlaftabletten zu viel genommen …“
Dreysens Stimme wurde brüchig, er musste eine Pause machen.
„Ist irgendjemandem von Ihnen vorgestern etwas Besonderes aufgefallen, außer der Geschichte mit der verdorbenen Ware?“
Alle schüttelten stumm die Köpfe, Holger biss sich auf die Lippen. Christoph sprang auf und lief mit aufgeblasenen Backen aus dem Raum.
„Falls jemandem etwas einfällt, kommen Sie gern in mein Büro."
Wieder eine Pause.
"Werner Drohmer war übrigens ein schwer kranker Mann. Er hat sich seit dem Unfalltod seiner Frau nie richtig erholt. Ich hab ihn eingestellt, weil ich ihn seit der gemeinsamen Ausbildung bei Solfrutex kenne. Nach seinem letzten längeren Klinikaufenthalt hätte er keine andere Chance mehr gehabt, einen Job zu finden. Das mag Ihnen erklären, warum er manchmal nicht ganz einfach zu ertragen war und von mir so oft in Schutz genommen wurde.“
Dreysen blickte bei diesem Satz eindringlich in die Runde, aber niemand sah ihn an.
„Ich werde mich dann mal darum kümmern, seine Tochter in den USA ausfindig zu machen. Weitere Verwandte wird es wohl nicht geben, soweit ich weiß.“
Mir wurde schwindelig. Ich hatte das Gefühl, ersticken zu müssen, und nahm erst einmal einen großen Schluck aus der Wasserflasche. Noch immer schwiegen alle. Holger schien geschrumpft zu sein, er saß völlig zusammengesunken da. Der dicke Klaus, der mit Werner am besten ausgekommen war, hockte kerzengerade auf seinem Stuhl, die Hände vor dem enormen Bauch gefaltet. Lothar, Peter und Stefan starrten einfach nur mit versteinerter Miene aus dem Fenster.
„Können wir dann weitermachen?“ Natürlich Kalle.
Ich sprang auf, brauchte dringend frische Luft. Holger folgte mir.
„Ich komm mit, muss erst mal eine rauchen.“
Schweigend standen wir eine ganze Weile vor der Tür. Wer hatte die blöde Idee mit der verdorbenen Ware eigentlich zuerst gehabt?
Bald darauf machten wir geschlossen Feierabend. Auf einen Besuch in der "Goldenen Kanne" verzichteten wir an diesem Abend.
Zuhause trank ich die halbe Flasche Remy leer, die für besondere Anlässe bei mir herumstand. Am nächsten Tag meldete ich mich krank. Holger würde mich vertreten müssen.
Holger knallte sein leeres Bierglas auf den Tresen.
„Dem ollen Sturkopp kannst du sonst nicht beikommen. Und solange ihn der Alte deckt … “
Holger und ich saßen beim Feierabendbier in der „Goldenen Kanne“. Gesprächsthemen aus unserem Junggesellenleben und der Firma gab es immer genügend. Heute ging es allerdings nur um Werner.
Werner Drohmer arbeitete seit einem Jahr in unserer Firma und hatte von Anfang an seine eigenen Regeln gesetzt. Er verteidigte jede seiner irrwitzigen Entscheidungen, er wurde nie zur Rechenschaft gezogen, wenn etwas schiefging – im Gegenteil, Günther Dreysen, der Geschäftsführer, stand stets voll und ganz hinter ihm, und das wurmte uns am allermeisten. Im Großen und Ganzen waren wir ein eingespieltes Team, die Arbeit in der Vertriebsabteilung machte Spaß – wenn Werner nicht wieder quertrieb.
„Heute hat er ganz schön blöd aus der Wäsche geschaut“, grinste Holger, „deine Idee war super!“
„Na ja, das konnte aber nur klappen, weil du mitgezogen hast. Allein hätte ich das nicht schaffen können.“
Wir schwiegen eine Weile in Gedanken an den heutigen Nachmittag.
„Ich geh mal eine rauchen, Martin“, meinte Holger dann.
Ich orderte noch ein Pils. Hoffentlich hatte Werner endlich begriffen, dass er nicht alles mit uns machen konnte.
Unsere kleine Hamburger Vertriebsfirma importierte Südfrüchte, leicht verderbliche Ware also, die äußerst schnell vom Hafen zu den Abnehmern gelangen musste. Das Kontingent einer Schiffsladung wurde möglichst gerecht auf alle Kunden verteilt. Doch in letzter Zeit war der Abteilungsfrieden gestört. Ständig gelang es Werner, die größten Partien für sich abzuzweigen, indem er im Warenwirtschaftssystem in den Mengen der anderen Kollegen „wilderte“. Werner wies stets die besten Verkaufszahlen der Abteilung auf, während wir uns schwarz ärgerten. Und der Chef deckte ihn, aus welchen Gründen auch immer.
Es gehörte zur Natur der Sache, dass Ware beim Kunden manchmal nicht mehr völlig einwandfrei ankam und vorzeitig verdarb, trotz strenger Qualitätskontrollen. In so einem Fall wurden die entsprechenden Paletten zurückgeholt, im System gekennzeichnet, irgendwann ausgebucht und die Gammelware vernichtet. Gestern war es Holger und mir gelungen, diese Kennzeichnungen zu unterdrücken. Bei einem Routinebesuch im Lager konnte Holger die markierten Paletten als unbeanstandet kennzeichnen. Prompt hatte Werner zugegriffen und die Ware vertickt. Sein Kunde, eine große norddeutsche Supermarktkette, hatte heute nach der Auslieferung einen Riesenterror gemacht und sich mit Androhung von Konsequenzen bei Dreysen beschwert. Zum ersten Mal konnten wir erleben, dass Werner einen wirklichen Anschiss bekam und ihm danach die Worte fehlten – bis er, nachdem Dreysen gegangen war, sofort versuchte, die Schuldigen unter uns auszumachen. Aber da außer Holger und mir niemand Bescheid wusste, kam er nicht weit.
„Musst halt besser aufpassen, Werner“, hatte Kalle geätzt.
Sollte ihm dieses Spielchen keine Lehre gewesen sein, wären wir durchaus bereit, ihn ein zweites Mal auflaufen zu lassen, hatten Holger und ich beschlossen.
„Hast du eigentlich jemals erlebt, dass Werner privat telefoniert?“, fragte Holger, als er von draußen zurückkam.
„Wie kommst du denn jetzt darauf?“
„Na, ich hab mir gerade überlegt, wie ein Mensch derart knöselig werden kann wie Werner. Der hat bestimmt noch nie 'ne Frau gehabt, die wär ihm sicher gleich weggelaufen. Irgendwie scheint der doch gar kein Privatleben zu haben.“
„Ich war mal mit ihm und Dreysen unterwegs, ich glaub, da hat er eine erwachsene Tochter erwähnt.“
Holger schaute mich ungläubig an.
„Kann ich mir kaum vorstellen. Und wenn, hat die bestimmt keinen Kontakt mehr zu ihm.“
Wir wussten sehr wenig über Werner, nicht einmal, wo er vorher gearbeitet hatte. Er fehlte oft wegen Krankheit, auch das kam nicht gut an. Jan behauptete, Werner sei Alkoholiker, er habe da über Bekannte etwas läuten hören – aber dafür gab es während der Arbeitszeit keinerlei Hinweise. Und aus privaten Veranstaltungen hielt er sich generell raus. Fußfall mochte er und besonders den HSV, daraus machte er kein Geheimnis. Mehr wussten wir nicht.
„Meinst du, Werner trinkt viel?“, fragte ich.
„Keine Ahnung. Nehmen wir noch'n Bier, oder wartet Zuhause ausnahmsweise jemand auf dich?“
Vielleicht lag es an den vielen Bierchen, dass wir am nächsten Morgen Werners Abwesenheit nicht gleich bemerkten. Wir telefonierten, wir fluchten, wir versuchten Kunden zu besänftigen und vor allem Ware an den Mann zu bringen – normaler Vertriebsalltag im Großraumbüro eben. Irgendwann fragte der lange Jan:
„Wo ist Werner heute eigentlich?“
Wir zuckten die Achseln, keine Ahnung. Vielleicht war er mal wieder krank.
„Gestern hat der HSV doch gar nicht gespielt“, rief Kalle, und alle brachen in dröhnendes Gelächter aus. Über seinen Verein ließ Werner nichts kommen. Wenn der HSV am Wochenende verloren hatte, was in letzter Zeit häufig vorkam, lästerten wir montags erst einmal ausgiebig. Die Meisten waren Pauli-Fans und verstanden sich sehr gut im Sticheln auf den Rivalen. Der drohende endgültige Abstieg würde Werner sicher erheblich zusetzen.
Gegen elf verteilte Johanna Germann, die Vertriebsassistentin, die Post.
„Ist Werner gar nicht da?“
Erneutes Achselzucken.
„Krank gemeldet hat er sich nicht“, meinte sie verwundert.
„Fehlt er jemandem?“, quäkte Kalle.
„Ja, mir, ist mir heute viel zu harmonisch hier, kann ich gar nicht mit umgehen!“, rief Lothar.
Nach der Mittagspause tauchte Dreysen in der Abteilung auf.
„Hat schon jemand etwas von Herrn Drohmer gehört?“, fragte er in die Runde.
Ein mehrstimmiges „Nö!“
„Na, dann soll Frau Germann mal bei ihm anrufen, das hat er ja noch nie gemacht!“
Johanna erschien kurz darauf mit ratloser Miene.
„Da meldet sich nur der Anrufbeantworter. Allmählich mach ich mir Sorgen.“
„Brauchst du nicht, Unkraut vergeht nicht“, feixte Jan, der heute freiwillig Werners Kunden mit betreute, weil er angeblich einen guten Tag hatte.
Auch am nächsten Morgen erschien Werner nicht zur Arbeit, am Telefon war er immer noch nicht zu erreichen. Dreysen wirkte sehr beunruhigt.
„Hat jemand Zeit, mit mir in die Wohnung von Herrn Drohmer zu fahren?“
Holger, der eigentlich sein Telefonat gerade beendet hatte, warf mir einen gehetzten Blick zu und plapperte einfach weiter in den Hörer. Dreysen nahm mich ins Visier.
„Wie sieht’s mit Ihnen aus, Herr Bertram?“
Ich bedauerte sehr, aber ich musste mich dringend um Ersatzware für die Malesche von vorgestern kümmern. Die übrigen Kollegen stellten sich taub.
Dreysen zog mit verächtlicher Miene ab und nahm Christoph, den Azubi, mit. Er war der Einzige außer Werner, den der Chef mit dem „hanseatischen Du“ anredete, was uns bei einem Azubi wegen des Alters nicht störte. Warum allerdings ausgerechnet Werner von Dreysen mit Vornamen angeredet wurde, wusste niemand.
Bis zum frühen Nachmittag waren die Beiden nicht zurück. Dann schaute Johanna völlig verstört zu uns herein.
„Jungs, es ist was Schreckliches passiert. Der Chef will gleich mit euch sprechen.“
Holger starrte mich an, ich zuckte lässig die Schultern. Was sollte schon passiert sein? Wir taten, als ginge uns das Ganze nichts an, doch nach und nach wurde es merklich stiller im Raum.
Dreysen wirkte etwas hohlwangig, als er das Büro betrat. Christoph war kreidebleich, seine Augen schienen leicht gerötet. Er setzte sich stumm und klammerte sich an die Schreibtischkante.
„Meine Herren, ich möchte Sie bitten, mir einen Moment zuzuhören. Ich habe leider eine sehr traurige Nachricht für Sie“, begann Dreysen.
Zögernd, ein wenig widerwillig, legte einer nach dem anderen den Hörer aus der Hand und stellte das Telefon auf die Zentrale um. Dreysen setzte sich auf Werners Platz und wartete, bis Ruhe eingekehrt war.
„Ich mach’s kurz: Wir haben Werner Drohmer tot in seiner Wohnung aufgefunden, nachdem uns der Hausmeister die Tür geöffnet hatte. Wahrscheinlich lag er schon seit vorgestern Nacht dort. Es sieht so aus, als habe er ein paar Schlaftabletten zu viel genommen …“
Dreysens Stimme wurde brüchig, er musste eine Pause machen.
„Ist irgendjemandem von Ihnen vorgestern etwas Besonderes aufgefallen, außer der Geschichte mit der verdorbenen Ware?“
Alle schüttelten stumm die Köpfe, Holger biss sich auf die Lippen. Christoph sprang auf und lief mit aufgeblasenen Backen aus dem Raum.
„Falls jemandem etwas einfällt, kommen Sie gern in mein Büro."
Wieder eine Pause.
"Werner Drohmer war übrigens ein schwer kranker Mann. Er hat sich seit dem Unfalltod seiner Frau nie richtig erholt. Ich hab ihn eingestellt, weil ich ihn seit der gemeinsamen Ausbildung bei Solfrutex kenne. Nach seinem letzten längeren Klinikaufenthalt hätte er keine andere Chance mehr gehabt, einen Job zu finden. Das mag Ihnen erklären, warum er manchmal nicht ganz einfach zu ertragen war und von mir so oft in Schutz genommen wurde.“
Dreysen blickte bei diesem Satz eindringlich in die Runde, aber niemand sah ihn an.
„Ich werde mich dann mal darum kümmern, seine Tochter in den USA ausfindig zu machen. Weitere Verwandte wird es wohl nicht geben, soweit ich weiß.“
Mir wurde schwindelig. Ich hatte das Gefühl, ersticken zu müssen, und nahm erst einmal einen großen Schluck aus der Wasserflasche. Noch immer schwiegen alle. Holger schien geschrumpft zu sein, er saß völlig zusammengesunken da. Der dicke Klaus, der mit Werner am besten ausgekommen war, hockte kerzengerade auf seinem Stuhl, die Hände vor dem enormen Bauch gefaltet. Lothar, Peter und Stefan starrten einfach nur mit versteinerter Miene aus dem Fenster.
„Können wir dann weitermachen?“ Natürlich Kalle.
Ich sprang auf, brauchte dringend frische Luft. Holger folgte mir.
„Ich komm mit, muss erst mal eine rauchen.“
Schweigend standen wir eine ganze Weile vor der Tür. Wer hatte die blöde Idee mit der verdorbenen Ware eigentlich zuerst gehabt?
Bald darauf machten wir geschlossen Feierabend. Auf einen Besuch in der "Goldenen Kanne" verzichteten wir an diesem Abend.
Zuhause trank ich die halbe Flasche Remy leer, die für besondere Anlässe bei mir herumstand. Am nächsten Tag meldete ich mich krank. Holger würde mich vertreten müssen.