Arthur
Mitglied
Wir versuchen alles mit unserem genialen Verstand zu erklären.
Und wenn wir auf etwas stoßen, das wir nicht mehr verstehen können, nehmen wir es einfach so hin wie es ist, in der Hoffnung, es irgendwann vielleicht doch zu begreifen.
Doch was passiert, wenn das Unerklärliche zu unserer einzigen Wirklichkeit wird?
Es war der Tag an dem ich um 3 Uhr morgens aus dem Schlaf gerissen wurde. Jemand klingelte ununterbrochen an der Wohnungstür. Nachdem ich einen Blick auf die roten Ziffern des Weckers geworfen hatte, setzte ich mich auf das Bett, stützte meinen schweren Kopf mit meinen Armen und versuchte mich aus dem letzten Traum zu befreien. Das Klingeln hörte nicht auf. Es war, als würde es mein Gehirn durchbohren. Nur langsam kam ich zu mir. Ich begriff, dass es kein Traum war: Es war tatsächlich 03:14 Uhr und irgendein Wahnsinniger stand vor unserer Wohnungstür!
>>Meine Frau wacht gleich auf<<, schoss es mir durch den Kopf. Zu meiner Verwunderung schlief sie aber weiter. Sie bewegte sich nicht einmal.
Es klingelte wieder und wieder. Ich fasste es einfach nicht. Sollte ich gleich die Polizei rufen oder die Tür öffnen und diesem Verrückten eine in die Fresse hauen?
Zunächst stand ich auf und bemerkte, dass mein Gleichgewichtssinn immer noch schlummerte. Ich stieß mit meinem Schienbein gegen die Bettkante. Verfluchte Scheiße tat es weh! Was ist hier nur los? Warum ist das kein Traum?
Humpelnd ging ich in den Flur und schaltete das Licht an. Das Mobilteil des Telefons befand sich auf einem der Wandregale. Ich ließ die Wohnungstür nicht aus den Augen, während meine rechte Hand nach dem Hörer griff.
Doch das Klingeln hörte plötzlich auf.
Hatte unser betrunkener Nachbar endlich gemerkt, dass er vor der falschen Wohnung stand? Aber er trinkt doch gar nicht! In den 23 Jahren hatte ich ihn noch nie betrunken gesehen!
>>Alex!<<
Hatte gerade jemand meinen Namen gerufen? Warum kommt mir diese Stimme bekannt vor?
>>Alex, bitte!<<
War das mein langjähriger Arbeitskollege, der Computerfachmann, mit dem ich schon durch einige Kneipen gezogen war?
>>Tim?<<
Ich schloss die Tür auf und er stand vor mir, mit seinem pechschwarzen langen Haar.
Er trat ein und legte seine zitternde linke Hand auf meine Schulter.
>>Vielleicht kannst du mir helfen<<, seine Stimme war von Furcht durchtränkt.
>>Tim, was ist los?<<
>>Ich muss dir was zeigen.<<
Unter seinem rechten Arm war etwas schwarzes, eine Aktentasche oder so.
Eilig lief er an mir vorbei, ins Wohnzimmer. Ich schloss die Tür und folgte ihm wie ein kleines Kind, dass von seinem Vater eine ziemlich ernste Lektion erwartete.
Nachdem auch im Wohnzimmer das Licht brannte, stellte er die Aktentasche auf den Tisch. Seit wann kann man dünne Aktentaschen so aufklappen?
Aber ich sah, dass die Aktentasche keine Aktentasche war, sondern ein Laptop.
Er klappte also diesen Laptop auf und begann irgendwas zu tippen. Er setzte sich dabei auf einen der Sessel. Und er konnte verdammt schnell tippen.
Unterschiedliche Zahlen und Buchstaben erschienen auf dem Bildschirm.
Er hörte einfach nicht auf zu tippen. Ich hätte nie gedacht, dass unsere Pendeluhr im Wohnzimmer so laut sein konnte. In dieser Stille hörte sie sich an wie ein riesiges Mühlenrad.
>>Tim, ich will dich ja nicht stören, aber...hast du mal auf die Uhr geschaut?<<
Ich wollte um diese Uhrzeit keine komplizierten Fragen stellen.
>>Ja ich weiß, aber...aber du musst mir helfen<<, sagte er, während er immer noch auf den Monitor starrte, als ob er sich gerade einen Horrorfilm anschauen würde.
>>Helfen? Wie soll ich dir helfen?<<
>>Ich habe mir einen Datenvirus eingefangen.<<
>>Einen Virus?<<
>>Ja<<
Ich versuchte zu lächeln, aber das war nicht das Einzige, was mir zu dieser Zeit nicht gelang.
>>Ich denke, du bist der Computerfachmann. Du kennst dich doch bestens damit aus. Es gibt gewisse Programme. Das ist doch kein Grund...<<
Plötzlich richtete er seinen Blick auf mich.
>>Glaub mir... dieser Virus ist irgendwie anders<<, dann begann er wild weiter zu tippen.
>>Wie anders? Was meinst du damit?<<
>>Ich kann es dir noch nicht erklären. Ich verstehe die Kodierung noch nicht.<<
Während er tippte, begannen seine Hände leicht zu zittern.
>>Und was soll ich für dich tun?<<, fragte ich.
>>Ich sag es dir, wenn ich soweit bin.<<
Warum konnte ich ihn nicht verstehen? Ich meine, ich bin doch auch sonst ein helles Köpfchen.
Lag es an der Uhrzeit? Oder war es doch etwas Anderes?
Er tippte munter weiter, doch seine Finger schienen zu ermüden und wurden immer langsamer, während das Zittern immer stärker wurde. Ich sah etwas Rotes auf die Tastatur tropfen. Ein dicker Tropfen gefolgt von drei kleineren.
Es war Blut, das aus seinen Nasenlöchern quoll und sich an der Nasenspitze ansammelte.
>>Tim du blutest ja.<<
>>Ich weiß, aber ich bin fast soweit.<<
Ich wunderte mich über dieses Blut, doch noch mehr wunderte ich mich über das, was die Tastatur mit den Tropfen machte. Es schien sie regelrecht aufzusaugen und zu verschlingen. Es war kein Dahinsickern, sondern eine viel schnellere Bewegung. Der Computer sog das Blut wie ein Schwamm auf. Jetzt trat es nicht nur aus seiner Nase. Breite Blutstränen bahnten sich ihren Weg von den Augenwinkeln über das Gesicht. Seine Finger färbten sich rot. Das Blut schien an den Rändern der Fingernägel hervorzuquellen. Augenblicklich verschwand die rote Flüssigkeit zwischen den Tasten und hinterließ keinerlei Spuren.
>>Um Gottes Willen, Tim, was passiert hier?<<
Das Zittern war inzwischen so stark, dass er kaum noch tippen konnte.
>>Es ist gleich soweit..<<, keuchte er, >>..es ist gleich soweit..<<.
Dann hörte er auf.
Er schien seine Hände nicht mehr kontrollieren zu können, versuchte sie immer wieder auf der Tastatur zu halten. Sein stoßartiges Atmen stoppte plötzlich. Der ganze Körper schien zu erstarren, bis er im Sessel zusammenbrach.
>>Oh Gott, Tim!<<
Ich eilte zu ihm und packte seinen Unterarm.
>>Tim! Was ist los mit dir?<<
Ich schüttelte ihn, doch er reagierte nicht. Auch meine Versuche, seinen Körper aufzurichten, scheiterten.
Ich musste etwas tun? Aber was?
Ich musste Hilfe holen und zwar so schnell wie möglich.
Ich drehte mich um und wollte in den Flur, um das Telefon zu holen, als ich eine mechanische Stimme hörte. Es war nicht seine Stimme. Sie schien aus den Lautsprechern des Laptops zu kommen: >>Alex? So heißt du doch nicht wahr?<<
Ich schaute auf den Bildschirm.
>>Wer bist du? Was passiert hier?<<, sprach ich jetzt wirklich mit dem Computer?
>>Alex, du wist jetzt genau das tun, was ich dir sage.<<
Ich schien langsam den Verstand zu verlieren. >>Verdammt...Ich weiß nicht, was hier abläuft, aber ich werde jetzt die Polizei rufen.<< Ich vermutete, dass irgendwelche Hacker hinter der Geschichte steckten. Doch was war mit dem Blut?
Ich drehte mich wieder um und lief auf die Wohnzimmertür zu.
>>Alex, du musst zurückkehren und genau das tun, was ich dir sage!<<
Einen Scheißdreck muss ich!
Wenige Meter vor der Tür sah ich eine Gestalt mit einem weißen Nachthemd.
Es war meine Tochter. Sie fixierte mich mit ihren Augen und trat ins Wohnzimmer. Ihre Bewegungen waren langsam und geschmeidig.
>>Klara, Schatz, raus hier! Wir holen die Polizei.<<
Doch sie lief weiter auf mich zu. Ihre Augen waren so starr, fast leblos. Sie hatte etwas in der Hand, ich erkannte eines unserer spitzen Messer, das sie wahrscheinlich aus der Küche hatte.
>>Schatz, was machst du mit dem Messer?<<
Als sie näher kam, wurde sie immer langsamer, wie eine Raubkatze vor dem entscheidenden Sprung auf ihre Beute.
>>Papa, du solltest genau das tun, was er dir sagt.<<
Nein, es war nicht die Stimme aus dem Laptop. Es war ihre Stimme - Klara.
>>Schatz, was meinst du? Du wirst noch Jemanden verletzen. Bring das Messer weg.<<
Das war der Augenblick, in dem die Katze sprang.
Mein Verstand sah immer noch diese liebevolle Tochter, die es nicht einmal übers Herz brachte, eine Fliege zu töten. Es war mein Überlebensinstinkt, der mich etwas zur linken Seite zucken ließ. Und es waren sehr wichtige Zentimeter für mich. Sie hätte mich sonst mitten ins Herz getroffen. So aber verfehlte sie meine Brust, nicht aber meinen Oberarm.
Ich hörte mich schreien. Dieser stechende Schmerz in meinem Bizeps. Es war, als ob mir der ganze Arm weggerissen wurde. Und wieder war es mein Überlebensinstinkt, der die Katze mit dem noch heilgebliebenen Arm am Hals packte und zu Boden riss. Ich wollte meine Tochter auf keinen Fall verletzen, doch ich musste handeln. Sie hatte immer noch dieses Messer in der Hand und versuchte so schnell wie möglich aufzustehen. Ich sprang zu ihr und bekam ihr Handgelenk zu fassen. Zu meinem Glück war es die richtige Hand.
Sie gab einen seltsamen Schrei von sich.
Nein, das war nicht sie, es kam von hinten und hörte sich an wie meine Frau.
Ich hörte noch den Knall, wie der harte Gegenstand auf mein Hinterkopf donnerte, und ich bekam noch die starke Erschütterung mit, die mein Gehirn fast aus dem Schädel herausgerissen hätte. Nach einem Meer von weißen Blitzen und verzerrten Sternen wurde es schwarz.
An diesem Tag war es nicht das letzte Mal, dass ich mein Bewusstsein verlor.
Ich hatte einen Traum:
Ein Mann mit langen blonden Locken nähert sich. Er ist barfüßig, sowie ein Mönch. Ich liege da, regungslos, mein ganzer Körper gelähmt, nur meine Augen kann ich noch bewegen. Der Mann kommt näher, ich erkenne diesen komischen Gesichtsausdruck. Ist das ein Lächeln?
Er hat etwas in der Hand, einen Hammer.
Der Kerl beugt sich zu mir. Ich versuche so freundlich wie möglich auszusehen, aber ein Gelähmter kann das so schlecht.
Ich atme. Ich atme.
Der Mann hält mir den Hammer vor die Nase, der schwarze Metallkopf bedeckt fast mein ganzes Sichtfeld. Seit wann kann man einen Metallklotz so zusammendrücken?
Der Mönch mit den blonden Haaren nimmt ein Ende des Hammerkopfes zwischen Daumen und Zeigefinger und quetscht ihn einfach zusammen, als ob er einen eitrigen Picken ausdrücken würde. Wie Schaumstoff wird das Metall immer dünner zwischen seinen Fingern, bis es fast verschwindet. Aber dann löst der verrückte Mönch seinen Zangengriff und der Metallkopf nimmt seine ursprünglich Form wieder ein.
Es ist also kein Metall, sondern billiges Plastik! Ich erinnere mich an das Versprechen der Baumärkte: >>Nur bis Samstag! Zwanzig Prozent auf alles!<<
Diese Ratten mussten das Geld ja irgendwo wieder reinholen!
Falscher Hammer, falscher Mönch, aber echte Schmerzen!
Der Kerl schaut mich an, ja dieses mal ist es ein Lächeln, aber nicht aus Freundlichkeit.
Scheiße, verdammte Kacke, es fühlt sich aber an wie verfluchtes Metall!
Als der Hammer auf meine Stirn niedergeht verändert sich meine Sicht. Es ist, als ob ich von tausenden Fotografen gleichzeitig ins Visier genommen werde. Alles verschwindet in diesem grellen Licht. Wieder diese beschissenen Schmerzen! Explodierendes Dynamit im Hirn!
Ich riss meine Augen auf.
Ich lag wieder im Wohnzimmer, ohne Mönch und ohne Hammer, aber mit einer Atombombe im Kopf. Ich hätte nie gedacht, dass Kopfschmerzen so stark sein konnten. Als ich bewusstlos war hatte ich unwillkürlich eine Hand auf meinen Schädel gelegt, da wo mich dieses schreiende Monster getroffen hatte, von hinten. Ist es meine Frau gewesen? Wie die Tochter, so die Mutter? Verdammt was war hier los!
Ich schaute mich um - niemand da, ich war der Einzige im Wohnzimmer. Ich sah einen breiten Blutfleck auf dem Sessel, aber der Körper meines Freundes war verschwunden, wie auch meine Tochter mit dem Nachthemd. Ich schaffte es auf die Beine, um festzustellen, dass die Schmerzen in luftiger Höhe sich verdreifachten. Nein, meinen Kopf wollte ich nicht mehr bewegen, nur meinen Körper. Auf dem Tisch war immer noch diese Aktentasche, nein zum Teufel, es war ein Laptop. Ich traute mich nicht in die Nähe dieses Dings, das anscheinend wieder verstummt war.
Etwas Glitschiges war zwischen meinen Fingern. Es war mein eigenes Blut. Ich spürte wie es langsam meinen Nacken hinunterlief. Mit Sicherheit war mein Hinterkopf total eingedrückt, so heftig war der Schlag gewesen. Aber zu meiner Verwunderung war der Schädelknochen heilgeblieben, nur mein Haar und das Blut klebten fest.
Ich schrie. Ich schrie immer wieder und meine Augen quollen heraus. Ich schrie den Namen meiner Frau, die Namen meiner Töchter, aber niemand antwortete. Der Flur war beleuchtet und leer. Die Zimmertüren unserer Töchter standen offen. Ich ging rein und riss die Bettdecken weg, als ob ich den Staub aus ihnen rausschütteln wollte. War es zu glauben? Alle Betten waren leer. Die Puppen, der sündhaft teure Edelteddybär, alles war an seinem Platz, aber die Wohnung war völlig leer.
Schreite ich jetzt oder weinte ich?
Es war kein Weinen eines kleinen Kindes. Viel mehr war es ein weinendes kleines Kind. Ja, ich war wieder dieser kleine Junge, der es viel bequemer fand in die Hose zu scheißen, anstatt aufs Klo zu gehen und deswegen von seiner Mutter geohrfeigt wurde, bis seine Backen knallrot waren, wie das Gesicht eines Betrunkenen.
Seit diesen Tagen hatte ich nicht so geweint, so hemmungslos, dass mir der Rotz aus der Nase lief.
Wo war meine Familie? Wo war Tim? Was konnte ich machen?
Ich lief wieder in den Flur, packte das Telefon und wählte die Nummer.
Danach kotzte ich mich aus, ich erzählte alles, jedes Detail, jede Kleinigkeit, einfach alles, was mein brummendes Gehirn gespeichert hatte.
Dann legte ich auf und der Hörer glitt mir aus den Fingern. Ich weinte einfach weiter, obwohl die Stimme im Hörer mir geraten hatte, mich zu beruhigen.
Ich viel auf die Knie, drückte die Hände an meine Schläfen und schrie die Namen der Menschen, mit denen ich über zwei Jahrzehnte zusammengelebt hatte.
Mit der Zeit wurde das Schreien wieder zu einem Weinen, und das Weinen zu einem Wimmern.
Mein Körper knüllte sich zusammen, wie ein Fötus im Leibe seiner Mutter.
Ich wusste nicht wie die Zeit verging. Was wusste ich eigentlich noch? Ich spürte meinen Körper, erinnerte mich an meinen Namen, an meine Familie und an meinen Freund. Und was das Schmerzhafteste war: Es war kein Traum!
Es klopfte an der Tür. Oder war es in meinem Schädel?
Ich konnte meiner eigenen Wahrnehmung nicht mehr trauen. Trotzdem ging ich mit hämmernden Kopfschmerzen zur Tür, um sie aufzumachen.
Ein Mann in einem weißen Anzug schaute mir direkt in die Augen.
>>Polizei! Sie haben angerufen<<
>>Ja, bitte helfen Sie mir. Meine Familie...<<
>>Treten Sie bitte zur Seite.<<
Meine Bewegungen waren ihm anscheinend zu langsam. Er schob mich mit seiner linken Hand einfach weg. Seine Rechte ruhte auf der schwarzen Waffe, die noch in Ihrer Halterung steckte.
>>Ich mag keine Überraschungen, wissen Sie<<
>>Überraschungen?<<, fragte ich.
Er trat ein und schaute sich hastig um. Nachdem er sich vergewissert hatte, schaute er wieder zu mir.
>>Scheint alles sauber zu sein. Bis jetzt. Ihr könnt reinkommen.<<
Im ersten Augenblick wusste ich nicht, wen er meinte, doch dann traten einige uniformierte Beamte ein, alle mit ernsten Gesichtern, wie eine kleine Roboterarmee.
>>Machen Sie sich bereit. Wir müssen Sie mitnehmen.<<, sagte der Anzug-Mann. Seine Augen klebten förmlich auf meinem Gesicht.
>>Mitnehmen? Wohin? Wissen Sie, ich habe schon die ganze Wohnung auf den Kopf gestellt. Kein einziges Familienmitglied konnte ich finden. Ich bin verzweifelt. Ich weiß nicht mehr, wo ich noch suchen soll. Jemand muss sie mitgenommen haben, als ich bewusstlos war. Er hat auch meinen schwerverletzten Freund mitgenommen.<<
>>Schwerverletzt?<<
>>Ja, verdammt, schwerverletzt. Er kam anscheinend um mir etwas zu zeigen, ich weiß aber nicht was. Dann war dieses Blut an seinem Gesicht. Ich weiß nicht woher es kam.<<
>>Sie hatten Besuch? Um diese Zeit?<<, irgendwie hatte der Beamte einen seltsamen Gesichtsausdruck den ich noch nicht interpretieren konnte.
>>Ich wiederhole mich nur ungern! Machen Sie sich bitte bereit, Sie kommen mit uns. Danach können Sie Ihre Märchen erzählen<<.
>>Märchen? Wo wollen Sie mich hinbringen? Was meinen Sie?<<, fragte ich.
>>Wir müssen Ihnen ein paar Fragen stellen.<<
>>Fragen? Über meine Familie?. Aber ich sagte Ihnen bereits, dass ich das ganze Haus durchsucht habe. Sie sind nicht hier. Jemand muss sie gegen ihren Willen mitgenommen haben.
Wir müssen ihn schnappen, bevor etwas passiert.<<
Ich hörte Schritte hinter mir. Einer der Beamten kehrte in den Flur zurück.
>>Die Wohnung scheint leer zu sein. Die Jungs durchsuchen gerade das hintere Zimmer<<, berichtete er.
Der Anzug-Mann lächelte: >>Wie ich es erwartet hatte.<<
>>Aber das habe ich Ihnen bereits gesagt<<, ich zog die Schultern nach oben.
>>Wir müssen ihn schnappen. Wir müssen schnell sein, verstehen Sie<<, warum hatte ich das Gefühl, dass er mich nicht verstehen wollte?
>>Wir müssen nicht schnell sein. Wir haben ihn bereits.<<
Er gab seinem Kollegen hinter mir ein Zeichen: >>Legen Sie ihm die Handschellen an.<<
Ich sagte doch: Ich konnte meiner eigenen Wahrnehmung nicht mehr trauen.
Der Typ hinter mir umfasste meine Handgelenke und zog sie zu sich.
Sollte ich mich wehren? Konnte ich mich wehren? Nein ich konnte nicht! Der Roboter war viel zu stark, das Metall klickte hinter mir.
>>Warum verhaften Sie mich? Was ist mit Ihnen los?<<
Der Anzug-Mann schaute immer noch nach hinten, zu seinem Gehilfen: >>Bringen Sie ihn raus.<<
Als ich zu schreien anfing und mich aus den Klauen der Polizisten zu befreien versuchte, die mich draußen an den Armen gepackt hatten, näherte sich der Anzug-Mann erneut: >>Versuchen Sie sich nicht zu wehren, es wird nur schmerzhafter für Sie. Und an Schmerzen werden Sie sich die nächsten Jahrzehnte gewöhnen müssen, das kann ich Ihnen versprechen.<<
Ich wurde in das Polizeiauto gestopft und saß in der Mitte des Rücksitzes, zusammengedrückt von zwei Beamten, die sich neben mir reingequetscht hatten. Der Kerl mit dem beschissenen Anzug stieg ein und setzte sich vorne auf den Beifahrersitz.
Ich atmete. Ich atmete. Wir fuhren los.
Ich sah seine Augen im Spiegel, seine Blicke, die mich festzuhalten versuchten. Dann drehte er den Kopf nach hinten, zu mir.
>>Wir haben Videoaufnahmen<<, flüsterte er.
>>Videoaufnahmen?<<
>>Sie haben Ihre Familie auf dem Gewissen, und dafür werden sie bezahlen<<, sagte er.
Da war wieder dieser kleine Junge, der Hosenscheißer. Nachdem seine Mutter das Gesicht bearbeitet hatte, versohlte sie ihm noch den verschmierten Hintern. Er schrie und seine Nase lief.
Durch meine wässrigen Augen sah ich die gelben Straßenlaternen vorbeihuschen. Es war ein seltsames Lichterspiel, ein trauriges Spiel. Der Wagen bewegte sich wie in Zeitlupe durch die leeren Straßen. Die schlafende Stadt inmitten eines Albtraums, der nicht enden wollte. Der rote Horizont erzählte von einer blutenden Sonne, die sich langsam und mit letzter Kraft aus der Finsternis zu retten versuchte, um die blutenden Seelen der Bewohner zu trösten.
Wir fuhren einfach, immer weiter, mit einem verzweifelten Kind im Auto, mit mir.
Ich vermisste meine Frau, ich vermisste meine Töchter. Ich hatte einfach Angst, wusste nicht was geschieht. Aber wir fuhren immer weiter, durch die Stadt, bis wir dann plötzlich anhielten.
Wo waren wir? Ich schaute raus. Durch meine Tränen hindurch sah ich ein viereckiges Gebäude.
Es war die Polizeistation, die sich mitten in der Stadt befand. Die Beamten stiegen aus. Dann, nach einer kurzen Pause und einigen Besprechungen, wurde ich aus dem Auto gezerrt. Begleitet wie ein Schwerverbrecher erreichten wir den Eingang der Station. Es war eine schwere Stahltüre ohne Fenster, die jede Hoffnung auf ein Entkommen wie eine halbfertige Seifenblase zerplatzen ließ, als hätte sie nie existiert. Hinter dem Stahl befand sich ein großer Raum, der mir wie ein riesiges Büro vorkam, wäre da nicht die kleine Gefängniszelle genau in seiner Mitte. Entlang den Bürowänden befanden sich Schreibtische mit Computern, an denen einige Beamte arbeiteten. Als ich die Rechner sah überkam mich eine Welle der Angst.
Ich erinnerte mich an das Blut, an meinen Freund, an diesen verdammten Tag, der immer noch wie eine Gruselgeschichte an mir vorbeizog.
Sie hatten die Gefahr nicht erkannt, die von diesen Rechnern ausging. Es hatte sie noch nicht erreicht. Doch wer sollte mir glauben? Sie waren ein Teil des Spiels. Die Karten waren verteilt, und ich hatte nichts in der Hand. Ich wurde einfach nicht berücksichtigt, war nur ein Statist in einem schlechten Film. Es heißt doch: Am Ende gewinnen die Guten. Und ich war nun der Böse, der aber nichts davon wusste.
Werde ich meine Töchter jemals wiedersehen?
Die Beamten schmissen mich in die winzige Zelle. Mein kraftloser Körper stürzte auf den schmutzigen Boden. Meine Tränen vermischten sich mit dem Dreck und hinterließen schwarze Punkte. Ich fiel in einen traumlosen Schlaf. Oder verlor ich mein Bewusstsein?
Ich kann es jetzt nicht mehr sagen. Ich tippe hier einfach meine Geschichte um mir Klarheit zu verschaffen. Ich ordne meine Gedanken. Aber ich kann mich nicht mehr erinnern.
Als ich aus diesem trostlosen Schlaf erwachte, lag ich immer noch in der Zelle. Aber die Tür stand offen und ich lief hinaus in das überdimensionale Büro mit den Rechnern. Ich fand keine Polizisten mehr. Die Station war verlassen. Ich hatte keine Handschellen mehr und auch keine Verletzungen. Das Blut klebte aber immer noch an meinem Körper.
Ich öffnete die Stahltüre, die das Gebäude von der Außenwelt abschirmte, und ich sah die Wüste.
Die Häuser waren verschwunden und die Polizeistation befand sich auf einer Sanddüne.
Die Sonne erhitze den Boden, bis plötzlich heftige Windböen auf die Polizeistation klatschten. Der Wind fegte über die meterhohen Sandhügel und nahm an deren Spitze ein unendliches Meer an Körnen mit sich. Auf einmal viel es mir außerordentlich schwer, meine Augen offenzuhalte. Die winzigen Sandkörner prallten auf mein Gesicht. Sie fühlten sich an wie tausend Nadelstiche.
Ich hielt instinktiv die Hände vor mein Gesicht, um meine tränenden Augen zu schützen. Unwillkürlich machte ich ein paar Schritte nach hinten, als ob mich Jemand gestoßen hätte. Nur war mein jetziger Gegner viel mächtiger als ein betrunkener Raufbold. Ich schaute nach unten und konnte nicht einmal mehr meine Schuhe erkennen. Irgendetwas zwang mich umzudrehen, vielleicht war es wieder mein Überlebensinstinkt. Ich erreichte die Stahltüre der Polizeistation und riss sie mit aller Kraft auf. Eine tonnenschwere Last schien sie zuzudrücken. Nachdem ich ins Innere des Gebäudes geflüchtet war, stieß der Wind die Türe wieder zu. Ich war vorerst in Sicherheit. Doch vor was flüchtete ich eigentlich? Wem wollte ich entkommen?
Ich versuche meine wirren Gedanken zur Ordnung zu zwingen.
Aber es geling mir nicht. Sie fliegen einfach davon.
Also gut, ich sitze jetzt und schreibe meine Erlebnisse.
Ich tippe sie ein, in diesen Computer, an dem vorhin noch die Beamten gearbeitet hatten.
Aber nein...ich werde nicht aufgeben!
Auf keinen Fall!
Irgendetwas hat sich in mein Leben eingeschlichen. Es hat mich in eine andere Welt geschleudert, eine Welt deren Gesetze ich noch nicht verstehen kann.
Ich weiß nicht, ob ich sie jemals verstehen werde. Es hat mir meine Familie weggenommen. Es hat mir meinen Freund weggenommen. Es hat mir meine Wirklichkeit weggenommen.
Aber nein...ich werde nicht aufgeben!
Ich fordere dieses Irgendetwas heraus.
Ich fordere es heraus, in dem ich meine Geschichte hier eintippe und in die Welt hinausschicke.
Vielleicht ein verzweifelter Ruf, aber ich werde nicht aufgeben!
Ich fordere es heraus...
Komm nur...verdammt!
Komm!.
Ich warte auf dich!
Zeige dich endlich!
Das Bild vor mir verschwamm, wie in einem Traum, der in der Wirklichkeit passiert.
Ich sah einen Ort, der Tausende von Kilometern entfernt zu sein schien. Ich sah einen Reporter neben einem älteren Mann stehen, der eine ziemlich dicke Brille trug.
Der Reporter reichte seinem Gegenüber das Mikrofon, dann begann ein seltsames Gespräch:
>>Ja, meine Damen und Herrn, nun zu dem versprochenen Interview. Und ich kann Ihnen versichern, dass es wirklich spannend wird. Denn ich habe einen großen Fachmann neben mir : Prof. Dr. Atkinson aus dem Forschungsinstitut für Kernphysik. Herzlich willkommen Herr Professor.<<
>>Danke für die Einladung.<<
>>Herr Professor, Sie müssen wissen, dass die meisten unserer Zuhörer nicht mehr viel wissen, von Physik, die sie vor Lichtjahren im Unterricht genießen konnten. Aber ich glaube Ihre letzten Entdeckungen sind auch für uns Laien verständlich, wenn wir es entsprechend erklären.
Herr Professor, was sind die Erkenntnisse aus Ihrer Forschung?<<
>>Ja, in der Tat sind die aktuellen Ergebnisse der Quantenphysik sehr beeindruckend, aber dennoch für uns schwer zu verstehen. Sie müssen wissen: Die Welt der Quanten ist sehr diffus. Sie können hier keine Sicherheiten finden. Ein Teilchen kann sich beispielsweise an zwei Orten gleichzeitig aufhalten. Erst wenn wir es beobachten, entscheidet es sich für einen der Beiden. In unserer gewohnten Welt ist das undenkbar. Da wir so viele Möglichkeiten haben, versuchen wir in unterschiedliche Richtungen zu blicken. Unsere Untersuchungen sind sehr breitgefächert. Es eröffnen sich viele Wahrscheinlichkeiten. Sogar die Möglichkeit, dass wir in einer Simulation leben, können wir nicht mehr ausschließen.<<
>>In einer Simulation?<<
>>Genau. Sie haben sicherlich von diesem Internetspiel gehört, in dem die Spieler ihre eigenen Persönlichkeiten kreieren können. Mit diesen fiktiven Körpern, die ja nur in unserem Denken und im Computer existieren, bewegen sie sich dann in einer unwirklichen Welt. Sie gehen beispielsweise in einem Kaufhaus shoppen, das von Informatikern programmiert wurde. Oder sie treffen andere Freunde, die sich auch eine virtuelle Persönlichkeit geschaffen haben. Einige unserer Berechnungsmodelle führen zu der Möglichkeit, dass unsere eigene Welt, unsere Realität, solch eine Simulation sein könnte.<<
>>Unsere eigene Wirklichkeit?<<
>>Ja, in der Tat.<<
>>Aber wenn wir nicht selber unsere Wirklichkeit erschaffen, wer ist dann der eigentliche Schöpfer? Wer ist der Programmierer unserer Realität?<<
>>Das ist eine sehr spannende Frage.<<
Dann verschwamm das Bild erneut und es folgte eine Dunkelheit, wie ich sie noch nie erlebt hatte. Absolute Orientierungslosigkeit ohne die Lichter der Hoffnung, ohne die Wärme des Lebens.
Ich sah nichts, aber ich hörte etwas. Ich hörte eine Stimme, und mein Herz schlug schneller. Ich kannte diese Stimme, ja verdammt ich kannte sie! In den letzten zwanzig Jahren hatte ich sie oft gehört und sie hatte mich immer beruhigt. Und ich hörte auch den Dialog, der aus einem Schlüsselloch zu kommen schien:
>>Ihrem Mann geht es jetzt viel besser. Sehen sie, er kommt zu sich. Bitte gehen sie zu ihm, er braucht sie jetzt.<<
Dann folgte ein Weinen, und ihre Hand berührte meine kalte Stirn. Diese Wärme tat sehr gut. Meine Augenlieder zitterten, aber sie schienen zugeklebt zu sein. Ich konnte sie nur langsam öffnen. Diese verdammten Schmerzen, diese Explosionen in meinem Schädel.
Und ich sah ihr Gesicht. Ihr Lächeln begrüßte mich wie eine Blüte, die sich unter den warmen Strahlen der Sonne entfaltete. Ich lag einfach da und staunte.
>>Schatz, es ist alles gut<<, sagte sie.
>>Wo.....wo bin ich? Was ist passiert?<<
>>Du bist in Sicherheit. Es ist alles gut. Du kannst beruhigt sein.<<
>>Wo ist Tim? Ist er verletzt?<<
>>Tim geht es gut.<<
>>Aber dieses Blut...<<
>>Tim geht es gut, Schatz. Es ist alles in Ordnung.<<
>>Warum hast du mich geschlagen?<<
>>So etwas würde ich niemals tun Liebling. Was wären wir ohne dich?<<
>>Wo ist Klara? Wo ist Sandra?<<
>>Sie haben sie nicht reingelassen. Du brauchst Ruhe mein Engel. Aber deine Töchter werden dich bald besuchen kommen, das verspreche ich. Du brauchst noch etwas Zeit. Die Ärzte sagen, dass es sehr gute Medikamente sind. Aber es dauert einige Tage, bis sie ihre Wirkung entfalten.<<
Meine Lippen zitterten. Die Tränen brannten in meinen Augen
>>Es war so schrecklich.<<
Das salzige Wasser lief meine Schläfen hinunter. Ein weinender Junge voller Angst und Unruhe.
>>Was ist....was ist Wirklichkeit?<<, keuchte ich.
Sie gab mir einen sanften Kuss auf meine Lippen.
>>Wirklichkeit ist das, was du fühlst Liebling<<, flüsterte sie mir ins Ohr.
Und wenn wir auf etwas stoßen, das wir nicht mehr verstehen können, nehmen wir es einfach so hin wie es ist, in der Hoffnung, es irgendwann vielleicht doch zu begreifen.
Doch was passiert, wenn das Unerklärliche zu unserer einzigen Wirklichkeit wird?
Es war der Tag an dem ich um 3 Uhr morgens aus dem Schlaf gerissen wurde. Jemand klingelte ununterbrochen an der Wohnungstür. Nachdem ich einen Blick auf die roten Ziffern des Weckers geworfen hatte, setzte ich mich auf das Bett, stützte meinen schweren Kopf mit meinen Armen und versuchte mich aus dem letzten Traum zu befreien. Das Klingeln hörte nicht auf. Es war, als würde es mein Gehirn durchbohren. Nur langsam kam ich zu mir. Ich begriff, dass es kein Traum war: Es war tatsächlich 03:14 Uhr und irgendein Wahnsinniger stand vor unserer Wohnungstür!
>>Meine Frau wacht gleich auf<<, schoss es mir durch den Kopf. Zu meiner Verwunderung schlief sie aber weiter. Sie bewegte sich nicht einmal.
Es klingelte wieder und wieder. Ich fasste es einfach nicht. Sollte ich gleich die Polizei rufen oder die Tür öffnen und diesem Verrückten eine in die Fresse hauen?
Zunächst stand ich auf und bemerkte, dass mein Gleichgewichtssinn immer noch schlummerte. Ich stieß mit meinem Schienbein gegen die Bettkante. Verfluchte Scheiße tat es weh! Was ist hier nur los? Warum ist das kein Traum?
Humpelnd ging ich in den Flur und schaltete das Licht an. Das Mobilteil des Telefons befand sich auf einem der Wandregale. Ich ließ die Wohnungstür nicht aus den Augen, während meine rechte Hand nach dem Hörer griff.
Doch das Klingeln hörte plötzlich auf.
Hatte unser betrunkener Nachbar endlich gemerkt, dass er vor der falschen Wohnung stand? Aber er trinkt doch gar nicht! In den 23 Jahren hatte ich ihn noch nie betrunken gesehen!
>>Alex!<<
Hatte gerade jemand meinen Namen gerufen? Warum kommt mir diese Stimme bekannt vor?
>>Alex, bitte!<<
War das mein langjähriger Arbeitskollege, der Computerfachmann, mit dem ich schon durch einige Kneipen gezogen war?
>>Tim?<<
Ich schloss die Tür auf und er stand vor mir, mit seinem pechschwarzen langen Haar.
Er trat ein und legte seine zitternde linke Hand auf meine Schulter.
>>Vielleicht kannst du mir helfen<<, seine Stimme war von Furcht durchtränkt.
>>Tim, was ist los?<<
>>Ich muss dir was zeigen.<<
Unter seinem rechten Arm war etwas schwarzes, eine Aktentasche oder so.
Eilig lief er an mir vorbei, ins Wohnzimmer. Ich schloss die Tür und folgte ihm wie ein kleines Kind, dass von seinem Vater eine ziemlich ernste Lektion erwartete.
Nachdem auch im Wohnzimmer das Licht brannte, stellte er die Aktentasche auf den Tisch. Seit wann kann man dünne Aktentaschen so aufklappen?
Aber ich sah, dass die Aktentasche keine Aktentasche war, sondern ein Laptop.
Er klappte also diesen Laptop auf und begann irgendwas zu tippen. Er setzte sich dabei auf einen der Sessel. Und er konnte verdammt schnell tippen.
Unterschiedliche Zahlen und Buchstaben erschienen auf dem Bildschirm.
Er hörte einfach nicht auf zu tippen. Ich hätte nie gedacht, dass unsere Pendeluhr im Wohnzimmer so laut sein konnte. In dieser Stille hörte sie sich an wie ein riesiges Mühlenrad.
>>Tim, ich will dich ja nicht stören, aber...hast du mal auf die Uhr geschaut?<<
Ich wollte um diese Uhrzeit keine komplizierten Fragen stellen.
>>Ja ich weiß, aber...aber du musst mir helfen<<, sagte er, während er immer noch auf den Monitor starrte, als ob er sich gerade einen Horrorfilm anschauen würde.
>>Helfen? Wie soll ich dir helfen?<<
>>Ich habe mir einen Datenvirus eingefangen.<<
>>Einen Virus?<<
>>Ja<<
Ich versuchte zu lächeln, aber das war nicht das Einzige, was mir zu dieser Zeit nicht gelang.
>>Ich denke, du bist der Computerfachmann. Du kennst dich doch bestens damit aus. Es gibt gewisse Programme. Das ist doch kein Grund...<<
Plötzlich richtete er seinen Blick auf mich.
>>Glaub mir... dieser Virus ist irgendwie anders<<, dann begann er wild weiter zu tippen.
>>Wie anders? Was meinst du damit?<<
>>Ich kann es dir noch nicht erklären. Ich verstehe die Kodierung noch nicht.<<
Während er tippte, begannen seine Hände leicht zu zittern.
>>Und was soll ich für dich tun?<<, fragte ich.
>>Ich sag es dir, wenn ich soweit bin.<<
Warum konnte ich ihn nicht verstehen? Ich meine, ich bin doch auch sonst ein helles Köpfchen.
Lag es an der Uhrzeit? Oder war es doch etwas Anderes?
Er tippte munter weiter, doch seine Finger schienen zu ermüden und wurden immer langsamer, während das Zittern immer stärker wurde. Ich sah etwas Rotes auf die Tastatur tropfen. Ein dicker Tropfen gefolgt von drei kleineren.
Es war Blut, das aus seinen Nasenlöchern quoll und sich an der Nasenspitze ansammelte.
>>Tim du blutest ja.<<
>>Ich weiß, aber ich bin fast soweit.<<
Ich wunderte mich über dieses Blut, doch noch mehr wunderte ich mich über das, was die Tastatur mit den Tropfen machte. Es schien sie regelrecht aufzusaugen und zu verschlingen. Es war kein Dahinsickern, sondern eine viel schnellere Bewegung. Der Computer sog das Blut wie ein Schwamm auf. Jetzt trat es nicht nur aus seiner Nase. Breite Blutstränen bahnten sich ihren Weg von den Augenwinkeln über das Gesicht. Seine Finger färbten sich rot. Das Blut schien an den Rändern der Fingernägel hervorzuquellen. Augenblicklich verschwand die rote Flüssigkeit zwischen den Tasten und hinterließ keinerlei Spuren.
>>Um Gottes Willen, Tim, was passiert hier?<<
Das Zittern war inzwischen so stark, dass er kaum noch tippen konnte.
>>Es ist gleich soweit..<<, keuchte er, >>..es ist gleich soweit..<<.
Dann hörte er auf.
Er schien seine Hände nicht mehr kontrollieren zu können, versuchte sie immer wieder auf der Tastatur zu halten. Sein stoßartiges Atmen stoppte plötzlich. Der ganze Körper schien zu erstarren, bis er im Sessel zusammenbrach.
>>Oh Gott, Tim!<<
Ich eilte zu ihm und packte seinen Unterarm.
>>Tim! Was ist los mit dir?<<
Ich schüttelte ihn, doch er reagierte nicht. Auch meine Versuche, seinen Körper aufzurichten, scheiterten.
Ich musste etwas tun? Aber was?
Ich musste Hilfe holen und zwar so schnell wie möglich.
Ich drehte mich um und wollte in den Flur, um das Telefon zu holen, als ich eine mechanische Stimme hörte. Es war nicht seine Stimme. Sie schien aus den Lautsprechern des Laptops zu kommen: >>Alex? So heißt du doch nicht wahr?<<
Ich schaute auf den Bildschirm.
>>Wer bist du? Was passiert hier?<<, sprach ich jetzt wirklich mit dem Computer?
>>Alex, du wist jetzt genau das tun, was ich dir sage.<<
Ich schien langsam den Verstand zu verlieren. >>Verdammt...Ich weiß nicht, was hier abläuft, aber ich werde jetzt die Polizei rufen.<< Ich vermutete, dass irgendwelche Hacker hinter der Geschichte steckten. Doch was war mit dem Blut?
Ich drehte mich wieder um und lief auf die Wohnzimmertür zu.
>>Alex, du musst zurückkehren und genau das tun, was ich dir sage!<<
Einen Scheißdreck muss ich!
Wenige Meter vor der Tür sah ich eine Gestalt mit einem weißen Nachthemd.
Es war meine Tochter. Sie fixierte mich mit ihren Augen und trat ins Wohnzimmer. Ihre Bewegungen waren langsam und geschmeidig.
>>Klara, Schatz, raus hier! Wir holen die Polizei.<<
Doch sie lief weiter auf mich zu. Ihre Augen waren so starr, fast leblos. Sie hatte etwas in der Hand, ich erkannte eines unserer spitzen Messer, das sie wahrscheinlich aus der Küche hatte.
>>Schatz, was machst du mit dem Messer?<<
Als sie näher kam, wurde sie immer langsamer, wie eine Raubkatze vor dem entscheidenden Sprung auf ihre Beute.
>>Papa, du solltest genau das tun, was er dir sagt.<<
Nein, es war nicht die Stimme aus dem Laptop. Es war ihre Stimme - Klara.
>>Schatz, was meinst du? Du wirst noch Jemanden verletzen. Bring das Messer weg.<<
Das war der Augenblick, in dem die Katze sprang.
Mein Verstand sah immer noch diese liebevolle Tochter, die es nicht einmal übers Herz brachte, eine Fliege zu töten. Es war mein Überlebensinstinkt, der mich etwas zur linken Seite zucken ließ. Und es waren sehr wichtige Zentimeter für mich. Sie hätte mich sonst mitten ins Herz getroffen. So aber verfehlte sie meine Brust, nicht aber meinen Oberarm.
Ich hörte mich schreien. Dieser stechende Schmerz in meinem Bizeps. Es war, als ob mir der ganze Arm weggerissen wurde. Und wieder war es mein Überlebensinstinkt, der die Katze mit dem noch heilgebliebenen Arm am Hals packte und zu Boden riss. Ich wollte meine Tochter auf keinen Fall verletzen, doch ich musste handeln. Sie hatte immer noch dieses Messer in der Hand und versuchte so schnell wie möglich aufzustehen. Ich sprang zu ihr und bekam ihr Handgelenk zu fassen. Zu meinem Glück war es die richtige Hand.
Sie gab einen seltsamen Schrei von sich.
Nein, das war nicht sie, es kam von hinten und hörte sich an wie meine Frau.
Ich hörte noch den Knall, wie der harte Gegenstand auf mein Hinterkopf donnerte, und ich bekam noch die starke Erschütterung mit, die mein Gehirn fast aus dem Schädel herausgerissen hätte. Nach einem Meer von weißen Blitzen und verzerrten Sternen wurde es schwarz.
An diesem Tag war es nicht das letzte Mal, dass ich mein Bewusstsein verlor.
Ich hatte einen Traum:
Ein Mann mit langen blonden Locken nähert sich. Er ist barfüßig, sowie ein Mönch. Ich liege da, regungslos, mein ganzer Körper gelähmt, nur meine Augen kann ich noch bewegen. Der Mann kommt näher, ich erkenne diesen komischen Gesichtsausdruck. Ist das ein Lächeln?
Er hat etwas in der Hand, einen Hammer.
Der Kerl beugt sich zu mir. Ich versuche so freundlich wie möglich auszusehen, aber ein Gelähmter kann das so schlecht.
Ich atme. Ich atme.
Der Mann hält mir den Hammer vor die Nase, der schwarze Metallkopf bedeckt fast mein ganzes Sichtfeld. Seit wann kann man einen Metallklotz so zusammendrücken?
Der Mönch mit den blonden Haaren nimmt ein Ende des Hammerkopfes zwischen Daumen und Zeigefinger und quetscht ihn einfach zusammen, als ob er einen eitrigen Picken ausdrücken würde. Wie Schaumstoff wird das Metall immer dünner zwischen seinen Fingern, bis es fast verschwindet. Aber dann löst der verrückte Mönch seinen Zangengriff und der Metallkopf nimmt seine ursprünglich Form wieder ein.
Es ist also kein Metall, sondern billiges Plastik! Ich erinnere mich an das Versprechen der Baumärkte: >>Nur bis Samstag! Zwanzig Prozent auf alles!<<
Diese Ratten mussten das Geld ja irgendwo wieder reinholen!
Falscher Hammer, falscher Mönch, aber echte Schmerzen!
Der Kerl schaut mich an, ja dieses mal ist es ein Lächeln, aber nicht aus Freundlichkeit.
Scheiße, verdammte Kacke, es fühlt sich aber an wie verfluchtes Metall!
Als der Hammer auf meine Stirn niedergeht verändert sich meine Sicht. Es ist, als ob ich von tausenden Fotografen gleichzeitig ins Visier genommen werde. Alles verschwindet in diesem grellen Licht. Wieder diese beschissenen Schmerzen! Explodierendes Dynamit im Hirn!
Ich riss meine Augen auf.
Ich lag wieder im Wohnzimmer, ohne Mönch und ohne Hammer, aber mit einer Atombombe im Kopf. Ich hätte nie gedacht, dass Kopfschmerzen so stark sein konnten. Als ich bewusstlos war hatte ich unwillkürlich eine Hand auf meinen Schädel gelegt, da wo mich dieses schreiende Monster getroffen hatte, von hinten. Ist es meine Frau gewesen? Wie die Tochter, so die Mutter? Verdammt was war hier los!
Ich schaute mich um - niemand da, ich war der Einzige im Wohnzimmer. Ich sah einen breiten Blutfleck auf dem Sessel, aber der Körper meines Freundes war verschwunden, wie auch meine Tochter mit dem Nachthemd. Ich schaffte es auf die Beine, um festzustellen, dass die Schmerzen in luftiger Höhe sich verdreifachten. Nein, meinen Kopf wollte ich nicht mehr bewegen, nur meinen Körper. Auf dem Tisch war immer noch diese Aktentasche, nein zum Teufel, es war ein Laptop. Ich traute mich nicht in die Nähe dieses Dings, das anscheinend wieder verstummt war.
Etwas Glitschiges war zwischen meinen Fingern. Es war mein eigenes Blut. Ich spürte wie es langsam meinen Nacken hinunterlief. Mit Sicherheit war mein Hinterkopf total eingedrückt, so heftig war der Schlag gewesen. Aber zu meiner Verwunderung war der Schädelknochen heilgeblieben, nur mein Haar und das Blut klebten fest.
Ich schrie. Ich schrie immer wieder und meine Augen quollen heraus. Ich schrie den Namen meiner Frau, die Namen meiner Töchter, aber niemand antwortete. Der Flur war beleuchtet und leer. Die Zimmertüren unserer Töchter standen offen. Ich ging rein und riss die Bettdecken weg, als ob ich den Staub aus ihnen rausschütteln wollte. War es zu glauben? Alle Betten waren leer. Die Puppen, der sündhaft teure Edelteddybär, alles war an seinem Platz, aber die Wohnung war völlig leer.
Schreite ich jetzt oder weinte ich?
Es war kein Weinen eines kleinen Kindes. Viel mehr war es ein weinendes kleines Kind. Ja, ich war wieder dieser kleine Junge, der es viel bequemer fand in die Hose zu scheißen, anstatt aufs Klo zu gehen und deswegen von seiner Mutter geohrfeigt wurde, bis seine Backen knallrot waren, wie das Gesicht eines Betrunkenen.
Seit diesen Tagen hatte ich nicht so geweint, so hemmungslos, dass mir der Rotz aus der Nase lief.
Wo war meine Familie? Wo war Tim? Was konnte ich machen?
Ich lief wieder in den Flur, packte das Telefon und wählte die Nummer.
Danach kotzte ich mich aus, ich erzählte alles, jedes Detail, jede Kleinigkeit, einfach alles, was mein brummendes Gehirn gespeichert hatte.
Dann legte ich auf und der Hörer glitt mir aus den Fingern. Ich weinte einfach weiter, obwohl die Stimme im Hörer mir geraten hatte, mich zu beruhigen.
Ich viel auf die Knie, drückte die Hände an meine Schläfen und schrie die Namen der Menschen, mit denen ich über zwei Jahrzehnte zusammengelebt hatte.
Mit der Zeit wurde das Schreien wieder zu einem Weinen, und das Weinen zu einem Wimmern.
Mein Körper knüllte sich zusammen, wie ein Fötus im Leibe seiner Mutter.
Ich wusste nicht wie die Zeit verging. Was wusste ich eigentlich noch? Ich spürte meinen Körper, erinnerte mich an meinen Namen, an meine Familie und an meinen Freund. Und was das Schmerzhafteste war: Es war kein Traum!
Es klopfte an der Tür. Oder war es in meinem Schädel?
Ich konnte meiner eigenen Wahrnehmung nicht mehr trauen. Trotzdem ging ich mit hämmernden Kopfschmerzen zur Tür, um sie aufzumachen.
Ein Mann in einem weißen Anzug schaute mir direkt in die Augen.
>>Polizei! Sie haben angerufen<<
>>Ja, bitte helfen Sie mir. Meine Familie...<<
>>Treten Sie bitte zur Seite.<<
Meine Bewegungen waren ihm anscheinend zu langsam. Er schob mich mit seiner linken Hand einfach weg. Seine Rechte ruhte auf der schwarzen Waffe, die noch in Ihrer Halterung steckte.
>>Ich mag keine Überraschungen, wissen Sie<<
>>Überraschungen?<<, fragte ich.
Er trat ein und schaute sich hastig um. Nachdem er sich vergewissert hatte, schaute er wieder zu mir.
>>Scheint alles sauber zu sein. Bis jetzt. Ihr könnt reinkommen.<<
Im ersten Augenblick wusste ich nicht, wen er meinte, doch dann traten einige uniformierte Beamte ein, alle mit ernsten Gesichtern, wie eine kleine Roboterarmee.
>>Machen Sie sich bereit. Wir müssen Sie mitnehmen.<<, sagte der Anzug-Mann. Seine Augen klebten förmlich auf meinem Gesicht.
>>Mitnehmen? Wohin? Wissen Sie, ich habe schon die ganze Wohnung auf den Kopf gestellt. Kein einziges Familienmitglied konnte ich finden. Ich bin verzweifelt. Ich weiß nicht mehr, wo ich noch suchen soll. Jemand muss sie mitgenommen haben, als ich bewusstlos war. Er hat auch meinen schwerverletzten Freund mitgenommen.<<
>>Schwerverletzt?<<
>>Ja, verdammt, schwerverletzt. Er kam anscheinend um mir etwas zu zeigen, ich weiß aber nicht was. Dann war dieses Blut an seinem Gesicht. Ich weiß nicht woher es kam.<<
>>Sie hatten Besuch? Um diese Zeit?<<, irgendwie hatte der Beamte einen seltsamen Gesichtsausdruck den ich noch nicht interpretieren konnte.
>>Ich wiederhole mich nur ungern! Machen Sie sich bitte bereit, Sie kommen mit uns. Danach können Sie Ihre Märchen erzählen<<.
>>Märchen? Wo wollen Sie mich hinbringen? Was meinen Sie?<<, fragte ich.
>>Wir müssen Ihnen ein paar Fragen stellen.<<
>>Fragen? Über meine Familie?. Aber ich sagte Ihnen bereits, dass ich das ganze Haus durchsucht habe. Sie sind nicht hier. Jemand muss sie gegen ihren Willen mitgenommen haben.
Wir müssen ihn schnappen, bevor etwas passiert.<<
Ich hörte Schritte hinter mir. Einer der Beamten kehrte in den Flur zurück.
>>Die Wohnung scheint leer zu sein. Die Jungs durchsuchen gerade das hintere Zimmer<<, berichtete er.
Der Anzug-Mann lächelte: >>Wie ich es erwartet hatte.<<
>>Aber das habe ich Ihnen bereits gesagt<<, ich zog die Schultern nach oben.
>>Wir müssen ihn schnappen. Wir müssen schnell sein, verstehen Sie<<, warum hatte ich das Gefühl, dass er mich nicht verstehen wollte?
>>Wir müssen nicht schnell sein. Wir haben ihn bereits.<<
Er gab seinem Kollegen hinter mir ein Zeichen: >>Legen Sie ihm die Handschellen an.<<
Ich sagte doch: Ich konnte meiner eigenen Wahrnehmung nicht mehr trauen.
Der Typ hinter mir umfasste meine Handgelenke und zog sie zu sich.
Sollte ich mich wehren? Konnte ich mich wehren? Nein ich konnte nicht! Der Roboter war viel zu stark, das Metall klickte hinter mir.
>>Warum verhaften Sie mich? Was ist mit Ihnen los?<<
Der Anzug-Mann schaute immer noch nach hinten, zu seinem Gehilfen: >>Bringen Sie ihn raus.<<
Als ich zu schreien anfing und mich aus den Klauen der Polizisten zu befreien versuchte, die mich draußen an den Armen gepackt hatten, näherte sich der Anzug-Mann erneut: >>Versuchen Sie sich nicht zu wehren, es wird nur schmerzhafter für Sie. Und an Schmerzen werden Sie sich die nächsten Jahrzehnte gewöhnen müssen, das kann ich Ihnen versprechen.<<
Ich wurde in das Polizeiauto gestopft und saß in der Mitte des Rücksitzes, zusammengedrückt von zwei Beamten, die sich neben mir reingequetscht hatten. Der Kerl mit dem beschissenen Anzug stieg ein und setzte sich vorne auf den Beifahrersitz.
Ich atmete. Ich atmete. Wir fuhren los.
Ich sah seine Augen im Spiegel, seine Blicke, die mich festzuhalten versuchten. Dann drehte er den Kopf nach hinten, zu mir.
>>Wir haben Videoaufnahmen<<, flüsterte er.
>>Videoaufnahmen?<<
>>Sie haben Ihre Familie auf dem Gewissen, und dafür werden sie bezahlen<<, sagte er.
Da war wieder dieser kleine Junge, der Hosenscheißer. Nachdem seine Mutter das Gesicht bearbeitet hatte, versohlte sie ihm noch den verschmierten Hintern. Er schrie und seine Nase lief.
Durch meine wässrigen Augen sah ich die gelben Straßenlaternen vorbeihuschen. Es war ein seltsames Lichterspiel, ein trauriges Spiel. Der Wagen bewegte sich wie in Zeitlupe durch die leeren Straßen. Die schlafende Stadt inmitten eines Albtraums, der nicht enden wollte. Der rote Horizont erzählte von einer blutenden Sonne, die sich langsam und mit letzter Kraft aus der Finsternis zu retten versuchte, um die blutenden Seelen der Bewohner zu trösten.
Wir fuhren einfach, immer weiter, mit einem verzweifelten Kind im Auto, mit mir.
Ich vermisste meine Frau, ich vermisste meine Töchter. Ich hatte einfach Angst, wusste nicht was geschieht. Aber wir fuhren immer weiter, durch die Stadt, bis wir dann plötzlich anhielten.
Wo waren wir? Ich schaute raus. Durch meine Tränen hindurch sah ich ein viereckiges Gebäude.
Es war die Polizeistation, die sich mitten in der Stadt befand. Die Beamten stiegen aus. Dann, nach einer kurzen Pause und einigen Besprechungen, wurde ich aus dem Auto gezerrt. Begleitet wie ein Schwerverbrecher erreichten wir den Eingang der Station. Es war eine schwere Stahltüre ohne Fenster, die jede Hoffnung auf ein Entkommen wie eine halbfertige Seifenblase zerplatzen ließ, als hätte sie nie existiert. Hinter dem Stahl befand sich ein großer Raum, der mir wie ein riesiges Büro vorkam, wäre da nicht die kleine Gefängniszelle genau in seiner Mitte. Entlang den Bürowänden befanden sich Schreibtische mit Computern, an denen einige Beamte arbeiteten. Als ich die Rechner sah überkam mich eine Welle der Angst.
Ich erinnerte mich an das Blut, an meinen Freund, an diesen verdammten Tag, der immer noch wie eine Gruselgeschichte an mir vorbeizog.
Sie hatten die Gefahr nicht erkannt, die von diesen Rechnern ausging. Es hatte sie noch nicht erreicht. Doch wer sollte mir glauben? Sie waren ein Teil des Spiels. Die Karten waren verteilt, und ich hatte nichts in der Hand. Ich wurde einfach nicht berücksichtigt, war nur ein Statist in einem schlechten Film. Es heißt doch: Am Ende gewinnen die Guten. Und ich war nun der Böse, der aber nichts davon wusste.
Werde ich meine Töchter jemals wiedersehen?
Die Beamten schmissen mich in die winzige Zelle. Mein kraftloser Körper stürzte auf den schmutzigen Boden. Meine Tränen vermischten sich mit dem Dreck und hinterließen schwarze Punkte. Ich fiel in einen traumlosen Schlaf. Oder verlor ich mein Bewusstsein?
Ich kann es jetzt nicht mehr sagen. Ich tippe hier einfach meine Geschichte um mir Klarheit zu verschaffen. Ich ordne meine Gedanken. Aber ich kann mich nicht mehr erinnern.
Als ich aus diesem trostlosen Schlaf erwachte, lag ich immer noch in der Zelle. Aber die Tür stand offen und ich lief hinaus in das überdimensionale Büro mit den Rechnern. Ich fand keine Polizisten mehr. Die Station war verlassen. Ich hatte keine Handschellen mehr und auch keine Verletzungen. Das Blut klebte aber immer noch an meinem Körper.
Ich öffnete die Stahltüre, die das Gebäude von der Außenwelt abschirmte, und ich sah die Wüste.
Die Häuser waren verschwunden und die Polizeistation befand sich auf einer Sanddüne.
Die Sonne erhitze den Boden, bis plötzlich heftige Windböen auf die Polizeistation klatschten. Der Wind fegte über die meterhohen Sandhügel und nahm an deren Spitze ein unendliches Meer an Körnen mit sich. Auf einmal viel es mir außerordentlich schwer, meine Augen offenzuhalte. Die winzigen Sandkörner prallten auf mein Gesicht. Sie fühlten sich an wie tausend Nadelstiche.
Ich hielt instinktiv die Hände vor mein Gesicht, um meine tränenden Augen zu schützen. Unwillkürlich machte ich ein paar Schritte nach hinten, als ob mich Jemand gestoßen hätte. Nur war mein jetziger Gegner viel mächtiger als ein betrunkener Raufbold. Ich schaute nach unten und konnte nicht einmal mehr meine Schuhe erkennen. Irgendetwas zwang mich umzudrehen, vielleicht war es wieder mein Überlebensinstinkt. Ich erreichte die Stahltüre der Polizeistation und riss sie mit aller Kraft auf. Eine tonnenschwere Last schien sie zuzudrücken. Nachdem ich ins Innere des Gebäudes geflüchtet war, stieß der Wind die Türe wieder zu. Ich war vorerst in Sicherheit. Doch vor was flüchtete ich eigentlich? Wem wollte ich entkommen?
Ich versuche meine wirren Gedanken zur Ordnung zu zwingen.
Aber es geling mir nicht. Sie fliegen einfach davon.
Also gut, ich sitze jetzt und schreibe meine Erlebnisse.
Ich tippe sie ein, in diesen Computer, an dem vorhin noch die Beamten gearbeitet hatten.
Aber nein...ich werde nicht aufgeben!
Auf keinen Fall!
Irgendetwas hat sich in mein Leben eingeschlichen. Es hat mich in eine andere Welt geschleudert, eine Welt deren Gesetze ich noch nicht verstehen kann.
Ich weiß nicht, ob ich sie jemals verstehen werde. Es hat mir meine Familie weggenommen. Es hat mir meinen Freund weggenommen. Es hat mir meine Wirklichkeit weggenommen.
Aber nein...ich werde nicht aufgeben!
Ich fordere dieses Irgendetwas heraus.
Ich fordere es heraus, in dem ich meine Geschichte hier eintippe und in die Welt hinausschicke.
Vielleicht ein verzweifelter Ruf, aber ich werde nicht aufgeben!
Ich fordere es heraus...
Komm nur...verdammt!
Komm!.
Ich warte auf dich!
Zeige dich endlich!
Das Bild vor mir verschwamm, wie in einem Traum, der in der Wirklichkeit passiert.
Ich sah einen Ort, der Tausende von Kilometern entfernt zu sein schien. Ich sah einen Reporter neben einem älteren Mann stehen, der eine ziemlich dicke Brille trug.
Der Reporter reichte seinem Gegenüber das Mikrofon, dann begann ein seltsames Gespräch:
>>Ja, meine Damen und Herrn, nun zu dem versprochenen Interview. Und ich kann Ihnen versichern, dass es wirklich spannend wird. Denn ich habe einen großen Fachmann neben mir : Prof. Dr. Atkinson aus dem Forschungsinstitut für Kernphysik. Herzlich willkommen Herr Professor.<<
>>Danke für die Einladung.<<
>>Herr Professor, Sie müssen wissen, dass die meisten unserer Zuhörer nicht mehr viel wissen, von Physik, die sie vor Lichtjahren im Unterricht genießen konnten. Aber ich glaube Ihre letzten Entdeckungen sind auch für uns Laien verständlich, wenn wir es entsprechend erklären.
Herr Professor, was sind die Erkenntnisse aus Ihrer Forschung?<<
>>Ja, in der Tat sind die aktuellen Ergebnisse der Quantenphysik sehr beeindruckend, aber dennoch für uns schwer zu verstehen. Sie müssen wissen: Die Welt der Quanten ist sehr diffus. Sie können hier keine Sicherheiten finden. Ein Teilchen kann sich beispielsweise an zwei Orten gleichzeitig aufhalten. Erst wenn wir es beobachten, entscheidet es sich für einen der Beiden. In unserer gewohnten Welt ist das undenkbar. Da wir so viele Möglichkeiten haben, versuchen wir in unterschiedliche Richtungen zu blicken. Unsere Untersuchungen sind sehr breitgefächert. Es eröffnen sich viele Wahrscheinlichkeiten. Sogar die Möglichkeit, dass wir in einer Simulation leben, können wir nicht mehr ausschließen.<<
>>In einer Simulation?<<
>>Genau. Sie haben sicherlich von diesem Internetspiel gehört, in dem die Spieler ihre eigenen Persönlichkeiten kreieren können. Mit diesen fiktiven Körpern, die ja nur in unserem Denken und im Computer existieren, bewegen sie sich dann in einer unwirklichen Welt. Sie gehen beispielsweise in einem Kaufhaus shoppen, das von Informatikern programmiert wurde. Oder sie treffen andere Freunde, die sich auch eine virtuelle Persönlichkeit geschaffen haben. Einige unserer Berechnungsmodelle führen zu der Möglichkeit, dass unsere eigene Welt, unsere Realität, solch eine Simulation sein könnte.<<
>>Unsere eigene Wirklichkeit?<<
>>Ja, in der Tat.<<
>>Aber wenn wir nicht selber unsere Wirklichkeit erschaffen, wer ist dann der eigentliche Schöpfer? Wer ist der Programmierer unserer Realität?<<
>>Das ist eine sehr spannende Frage.<<
Dann verschwamm das Bild erneut und es folgte eine Dunkelheit, wie ich sie noch nie erlebt hatte. Absolute Orientierungslosigkeit ohne die Lichter der Hoffnung, ohne die Wärme des Lebens.
Ich sah nichts, aber ich hörte etwas. Ich hörte eine Stimme, und mein Herz schlug schneller. Ich kannte diese Stimme, ja verdammt ich kannte sie! In den letzten zwanzig Jahren hatte ich sie oft gehört und sie hatte mich immer beruhigt. Und ich hörte auch den Dialog, der aus einem Schlüsselloch zu kommen schien:
>>Ihrem Mann geht es jetzt viel besser. Sehen sie, er kommt zu sich. Bitte gehen sie zu ihm, er braucht sie jetzt.<<
Dann folgte ein Weinen, und ihre Hand berührte meine kalte Stirn. Diese Wärme tat sehr gut. Meine Augenlieder zitterten, aber sie schienen zugeklebt zu sein. Ich konnte sie nur langsam öffnen. Diese verdammten Schmerzen, diese Explosionen in meinem Schädel.
Und ich sah ihr Gesicht. Ihr Lächeln begrüßte mich wie eine Blüte, die sich unter den warmen Strahlen der Sonne entfaltete. Ich lag einfach da und staunte.
>>Schatz, es ist alles gut<<, sagte sie.
>>Wo.....wo bin ich? Was ist passiert?<<
>>Du bist in Sicherheit. Es ist alles gut. Du kannst beruhigt sein.<<
>>Wo ist Tim? Ist er verletzt?<<
>>Tim geht es gut.<<
>>Aber dieses Blut...<<
>>Tim geht es gut, Schatz. Es ist alles in Ordnung.<<
>>Warum hast du mich geschlagen?<<
>>So etwas würde ich niemals tun Liebling. Was wären wir ohne dich?<<
>>Wo ist Klara? Wo ist Sandra?<<
>>Sie haben sie nicht reingelassen. Du brauchst Ruhe mein Engel. Aber deine Töchter werden dich bald besuchen kommen, das verspreche ich. Du brauchst noch etwas Zeit. Die Ärzte sagen, dass es sehr gute Medikamente sind. Aber es dauert einige Tage, bis sie ihre Wirkung entfalten.<<
Meine Lippen zitterten. Die Tränen brannten in meinen Augen
>>Es war so schrecklich.<<
Das salzige Wasser lief meine Schläfen hinunter. Ein weinender Junge voller Angst und Unruhe.
>>Was ist....was ist Wirklichkeit?<<, keuchte ich.
Sie gab mir einen sanften Kuss auf meine Lippen.
>>Wirklichkeit ist das, was du fühlst Liebling<<, flüsterte sie mir ins Ohr.
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