Hallo fee, hallo Dionysos,
euer Dialog, eure Interpretationen und auch euer in die Diskussion getragenes Wissen sind von einer deratigen Qualität, dass ihr mir damit einen literarischen Genuss bereitet. Heiliger Jesus, es ist ein Fest, eurem Gespräch zu folgen! Dann möchte ich mich gerne daran beteiligen.
Der Aufhänger ist offensichtlich der Titel: Ist er eine
profane Enttäuschung und
beliebig? Oder ein
Verweis auf die aktuelle Situation des Krieges? Beides war eigentlich meine Intention nicht.
Ich hoffe, es enttäuscht euch nicht, aber ich habe dieses Gedicht geschrieben, um mich mit der Frage auseinanderzusetzen, was Ursprünglichkeit, Wildheit und Freiheit in einer Welt bedeuten können, in der diese Werte authentisch nicht mehr erlebbar sind. Ich habe dabei u.a. an die Theorie des Anthropozäns gedacht, welche davon ausgeht, dass eine Natur als eine vom Menschen unberührte Sphäre nicht mehr gedacht werden kann. Ich hatte den wunderbaren Philosophen Gernot Böhme vor Augen, welcher "Über Natur im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit" (Suhrkamp, 1992) schreibt. Und ich hatte mich selbst mit meinen Sehnsüchten und meiner Herkunft von Augen. So habe ich manchmal, auch wenn es sicherlich für manche kitschig anmuten mag, Sehnsüchte nach einer Technik, die geerdeter, ja, erdverbundener ist, als unsere gegenwärtige zunehmend elektronische und der Digitalisierung anheim gefallene. Es mag abwegig klingen, aber in meiner Fantasie malte ich mir, durchaus melancholisch, aus, wie unsere Zivilisation heute ohne Weiteres in der Lage ist, mit einer Drohne über eine Stadt- oder Dorfbefestigung zu gelangen, welche in früheren Zeiten in der Lage war, einen attackierenden Feind in aussichtslose Lagen zu bringen. Jetzt reicht ein Knopfdruck und jede Grenze kann überflogen werden. Ein Verstecken vor der Technik ist nicht möglich.
Mir war es als Folge dieser Überlegungen ein Anliegen, mit meinem Gedicht einen Lebensentwurf, welcher in unserer mitteleuropäischen Geschichte eine Entsprechung haben sollte, kraft der Fantasie mit dem Gegenwärtigen in Verbindung zu setzen. Ich erhoffte mir, den Leser vielleicht in ursprünglichen, ja archaischen Gefühlen erreichen zu können, ohne mir letztlich ganz im Klaren zu sein, wie ich diese benennen würde. So gesehen ist mein Gedicht auch ein Herantasten an Verlorenes, an etwas, was in früheren Kulturen vielleicht noch Namen hatte.
Dies ist die Bedeutungsebene, welche mich beim Schreiben umtrieb, und so erklärt sich auch der Titel, welcher also nicht dazu vorgesehen ist, das Gedicht zu datieren, sondern dem Leser die Möglichkeit eröffnen soll, seine Lebenserfahrung der Gegenwart mit der Fantasiewelt des Textes in Verbindung zu setzen. Letztlich so, wie du es gemacht hast, fee, wenngleich meine Intention nicht auf den Krieg in der Ukraine zielte. Aber das ist egal.
Was deutet im Text nun noch auf diesen Gegenwartsbezug hin? Du hast ja als alleinige Anspielung das
Reservat ausgemacht, Dionysos. Und ja, hier liegt, denke ich, die Schwäche meines Textes. Denn ich hatte mich dazu entschieden, den massiven Kontrast von alter und neuer Welt nur anzudeuten und es scheint, als wäre dies letztlich für den Leser nicht mehr erkennbar. Aber ich habe mich gescheut, die Stimmung des Gedichtes zu sehr anzugreifen, also nahm ich es in Kauf, dass man vielleicht "nur" die Geschichte als solche wahrnimmt und sich vielleicht daran erwärmt. Dies scheint offensichtlich ganz gut funktioniert zu haben, das erfreut mich schon.
In deiner Interpretation unter Punkt 5. beschreibst du interessant, wie man nun den Begriff
Reservat deuten könnte. Vor dem Hintergrund meiner Intention verstehe ich dieses Wort im Sinne eines Restbereiches des Natürlichen und Ursprünglichen, und zwar nicht als Entität, sondern viel mehr als etwas dem Menschen Innewohnendes, aber durch die Zivilisationsentwicklungen Zurückgedrängtes. Das Graben nach
Wurzeln ist somit auch metaphorisch als eine Suche nach diesem Inneren zu verstehen.
Aber das LI sucht in einem
Fichtenwald, eine weitere Anspielung auf die Moderne, denn es gibt sowohl natürliche Fichtengehölze, viel eher aber künstliche Plantagen, die allein der Holzgewinnung dienen und ein Ausdruck der oben angesprochenen technischen Reproduzierbarkeit von Natur sind. Eine solche Materialisierung kapitalistischen Denkens ist aber bar jeder Aura und ein Graben nach
Wurzeln scheint in diesem Umfeld vergebens. Dem LI bleibt in dieser unbeseelten Welt nur noch der Traum und eine unstillbare Sehnsucht:
noch
einmal im Moos liegen
und abends etwas heimbringen
an die Feuer
Was du, lieber Dionysos, dann über die Würde des selbstbestimmten Abgehens schreibst, kann ich nicht besser formulieren. Es bleibt vielleicht noch zu ergänzen, dass der Selbstmord in diesem Gedicht, zumindest wenn man meiner Intention folgen möchte, allegorisch auf die von mir so empfundene Aufgabe und die Entfremdung von den archaischen Wurzeln unserer Zivilisation deutet. So bleibt nur noch mit einer gewissen Traurigkeit zu resümieren:
Rabenbrot, Gifthäubling
schon morgen
fliegt der Feind über den Wall
Dies also ist der Siegeszug der technischen Welt über die natürliche, welche freilich für uns schon lange nicht mehr wahrnehmbar ist und vielleicht auch nie war, weil der Mensch ein Kulturwesen zu sein scheint. Aber irgendetwas spüre ich doch in mir und ich habe es versucht, in Worte zu fassen.
Ich bitte um Entschuldigung, wenn ich nicht alle Fragen beantworten und auf alle Punkte eingehen konnte. Ich habe versucht, alle Fragen und Anmerkungen in meiner Antwort zu komprimieren, aber ich befürchte, das ist mir nicht zu 100 % gelungen. Eine bestimmte Form habe ich übrigens nicht angewendet. Es war mir insbesondere wichtig, dass dieses Gedicht auch ohne die von mir eben ausführlich beschriebene Herangehensweise funktioniert und so ist die erste Bedeutungsebene genau die von euch wunderbar heraus interpretierte Geschichte einer keltischen Familie. Ich habe mich sehr gefreut, dass das funktioniert und hoffe nun, dass meine Antwort zu einem weiteren Verständnis beitragen konnte.
Ich danke euch herzlich!
Liebe Grüße
Frodomir