Vorbemerkung:
Zu den Kugelfischen gehören etwa 150 Arten. Die Größe variiert zwischen 2 Zentimetern beim Zwerg- oder Erbsenkugelfisch (Carinotetraodon travancoricus) und 120 Zentimetern beim Riesenkugelfisch (Arothron stellatus). Ihr bekanntester Vertreter ist der Fugu, der in Japan eine kulinarische Spezialität darstellt, obwohl viele Körperteile giftig sind. Daher wird Fugu oft auch als Synonym für Kugelfisch gebraucht. Die Wirkung wie auch die Gefährlichkeit der Kugelfische wird bereits im ältesten chinesischen Kräuterbuch (Pen tsao chin) erwähnt. Die Zahl der Menschen, die in Japan in den Jahren 1956 bis 1958 an Fugu-Vergiftungen starben, belief sich auf 420.
… und zum Dinner Kugelfisch!
Sie trachtete ihm nach dem Leben! Auf einmal war er da, der Gedanke, glasklar und mit einer Selbstverständlichkeit, dass er sich fragte, weshalb er nicht schon längst all die anderen Anzeichen bemerkt hatte. "Die Tropfen, Herr Reimers, vergessen Sie Ihre Tropfen nicht." Leicht dahin gesagt, um ihn von ihrer Fürsorglichkeit zu überzeugen. Wann hatte das mit den Tropfen überhaupt angefangen? Sehr lange nahm er sie noch nicht ein, wenn er sich recht erinnerte, war sie erst vor ein paar Wochen damit auf seinem Frühstückstablett aufgetaucht. Und die Vitamintabletten – wenn die mal Vitamine von Weitem gesehen hatten, konnte er sich glücklich schätzen. Hermann Reimers erschrak. Wieviel Gift er wohl schon in seinem Körper hatte?
Beim Abendessen setzte er sich mit geradem Rücken sehr aufrecht auf seinen Stuhl, räusperte sich vernehmlich und sagte mit fester Stimme: "Ich werde die Vitamintabletten nicht mehr nehmen … sie schlagen mir auf den Magen." Er nahm eine bequemere Sitzhaltung ein, trank einen Schluck von seinem kohlensäurefreien Mineralwasser und piekste mit der Gabel in eine Silberzwiebel auf seinem Teller. Zufrieden kaute er vor sich hin, genoß den säuerlichen Geschmack der eingelegten Zwiebel in seinem Mund und freute sich über seinen findigen Schachzug. "Jetzt soll sie mal kommen", dachte er, "ich bin auf der Hut!"
Die folgenden Tage vergingen in ruhigem Einklang, Hermann Reimers beobachtete wachsam alles, was um ihn herum vor sich ging, konnte aber nichts Verdächtiges feststellen. Zufrieden saß er eine Woche später wie immer vor seinem Aquarium, fütterte den kleinen Schwarm bunt schillernder Guppys und sah den leuchtend rot gefärbten Schleierkardinälen beim eleganten Slalom-Schwimmen durch die Algen hindurch zu. Aus der Küche klirrte Geschirr. Erst achtete er nicht auf das Geräusch, sie würde sicherlich die Spülmaschine ausräumen oder einen Kuchen backen – manchmal tat sie das für ihn. In solchen Momenten summte sie nicht unmelodisch einen alten Schlager dazu. Heute summte sie nicht, nur das Hantieren mit Geschirr, das Aufziehen und Schließen von Schubladen war zu hören. Er stemmte sich aus dem Sessel empor und schlurfte auf seinen Filzpantoffeln in Richtung Küche. Gerade wollte er etwas sagen, wollte sie fragen, warum sie heute keinen Rühmann oder keine Knef zum Besten geben wollte, da stockte er. Halt suchend griff seine Hand nach der Kommode. Fast hatte er schon an Einbildung glauben wollen, hatte sich selbst einen alten, senilen Clown geschimpft. Aber jetzt konnte er mit eigenen Augen den Beweis vor sich sehen! Da stand die Kanne aus weißem Porzellan, aus der er immer seinen Nachmittagstee trank, und davor stand SIE und schüttete aus einem dunkelbraunen Fläschchen weißes Pulver in die Kanne.
"Was machen Sie da??? Sie wollen mich vergiften!!!", unbeherrscht brach es aus ihm hervor, zu spät bemerkte er, seine Trümpfe zu früh ausgespielt zu haben.
"Ach Herr Reimers, was haben Sie mich erschreckt!"
Während sie sich zu ihm umdrehte, ließ sie das kleine Fläschchen in die Tasche ihrer Kittelschürze gleiten, aber er hatte schon längst seinen Blick daran festgeklebt.
"Ich will sofort die Flasche sehen!!!"
Er merkte selbst, wie schrill seine Stimme zitterte, aber schließlich ging es um eine ernste Sache! Sie schien zu merken, dass sie ihm nicht so ohne Weiteres entkommen konnte und reichte ihm das Fläschchen aus ihrer Tasche. Das Etikett war mit ungelenker Hand beschriftet worden. >>Lecithin<< konnte er entziffern, seine Augen waren nicht mehr so scharf wie früher und die Brille lag noch auf dem Tisch neben dem Aquarium.
"Lecithin, Lecithin, das haben Sie doch selbst dort drauf geschrieben … ist es Blausäure? Ist es Arsen?"
"Ach Herr Reimers, was denken Sie denn. Warum sollte ich Ihnen denn so etwas in den Tee träufeln? Es ist Lecithin, aus der Apotheke, und es hilft gegen Vergesslichkeit."
Misstrauisch und mitnichten beruhigt schnaubte Hermann Reimers.
"Das kann ja jeder sagen", blaffte er und fügte hinzu, dass er ab sofort keinen Tee mehr trinken würde, den sie hinter seinem Rücken zubereitet hätte. Er drehte sich um und ging – so gut es ihm sein steifes Bein erlaubte – hinaus in den Flur und weiter in sein Zimmer.
Er war verwirrt und unsicher. Es konnte nicht sein – und dennoch hatte er es mit eigenen Augen gesehen. Dazu die morgendlichen Tropfen und die angeblichen Vitamintabletten … wie viele Beweise brauchte er noch? Und als neulich der Eimer im Flur "vergessen" worden war, war das sicher auch nur ein weiterer Anschlag auf sein Leben gewesen. Er schüttelte den Kopf – von ihm war kein großes Erbe zu erwarten. Er hatte doch nichts, außer seinen Erinnerungen. Er musste sie loswerden … hier konnte er ja nicht mehr in Ruhe zu Bett gehen … er musste SIE loswerden! Vielleicht sollte er ihr ihr eigenes Pulver ins Essen rühren? Aber sie ließ ihn ja nicht in die Küche, "ein Mann gehört nicht hinter den Herd", sagte sie immer, jetzt wusste er auch warum nicht! Er brauchte einen Plan, dringend.
Allabendlich schloss er sich nun in sein Zimmer ein und zermarterte sich den Kopf nach einem Plan. Er verweigerte das von ihr gekochte Essen und verzehrte nur noch Kekse aus Packungen, die er selbst aufriss, trank Wasser nur aus noch verschlossenen Flaschen. Währenddessen scharwenzelte sie in ihrer blauen Kittelschürze um ihn herum, bat und bettelte, er möge doch vernünftig werden. Aber er blieb hart. Auch als sie ihm mit dem Besuch eines Arztes drohte, verließ er seinen Posten nicht. Letztlich konnte sie sowieso nur leere Drohungen aussprechen, da war er sich sicher, denn ein Arzt würde nur seinen Verdacht bestätigen, und sie würde sich am Ende selbst überführen.
In ruhigen Momenten erzählte er seinen Fischen von den Ideen, die er nachts gefasst hatte. Sie waren die einzigen, denen er noch traute. Aber zu einem richtig zündenden Plan verhalfen auch sie ihm nicht.
Längst hatte er ihr Zimmer durchsucht, wenn sie einkaufen gegangen war. Bisher ohne Erfolg. Aber natürlich war er auch nicht mehr so beweglich wie früher, und daher nahm sein Bemühen weit mehr Zeit in Anspruch, als er eingeplant hatte. Er hatte auch schon versucht, einfach wegzulaufen – aber sie hatte ihn beide Male wieder von der Straße eingesammelt, so dass er diese Möglichkeit, ihr zu entkommen, fürs Erste auf Eis gelegt hatte.
Natürlich hatte sie unterdessen bemerkt, dass ihr Zimmer durchwühlt worden war. Die Parfümfläschchen standen nicht mehr am richtigen Platz, ihre Cremedöschen waren falsch zugeschraubt worden und die unterste Schublade in ihrem Schrank sah aus, als sei sie hastig und ohne Sorgfalt wieder eingeräumt worden. Mit gestrafften Schultern saß sie auf der Kante ihres Bettes, Haltung war ihr immer sehr wichtig gewesen. In ihren Händen drehte sie ein metallenes Döschen hin und her, so dass die mit einem gelben Pulver gefüllten Kapseln durcheinander rollten. Nachdenklich schloss sie den Deckel der Dose. Sie war nicht sicher, was sie tun oder wie es weiter gehen sollte.
Über Nacht war in Hermann Reimers endlich ein Plan gereift. Er wusste jetzt, wie er sie aus dem Haus bekommen konnte. Erst würde er sie in Sicherheit wiegen – nur um dann gnadenlos zuzuschlagen.
Zur Erinnerung an seine Jugendzeiten, die er in Japan verbracht hatte, wollte er sie heute zum Essen einladen, so hatte er ihr das am Morgen mitgeteilt. Erfreut aber auch vorsichtig, so erschien es ihm, hatte sie zugesagt. "Und weil ich in letzter Zeit oft an die Jahre in Tokyo denken muss, gehen wir heute zum Japaner am Markplatz." Ein grandioser Plan, er lächelte, als er daran zurückdachte. Sie würden gemeinsam essen und trinken, und sie hätte keine Chance, auch nur einen Finger an seinen Teller zu legen. Er würde sie nicht aus den Augen lassen. Und in einem unbeobachteten Moment würde er ihr den Schlüssel aus der Handtasche stibitzen und ihr so die Rückkehr in die Wohnung verwehren. Für immer. Dann konnte er endlich wieder sicher schlafen und die Jahre, die ihm noch verblieben, in Ruhe genießen.
Der Kellner rückte ihr den Stuhl zurecht, und Hermann Reimers wies seine Begleitung auf den schönen Ausblick auf den von Fachwerkhäusern gesäumten Marktplatz hin. Sie lächelte still.
"Es ist sehr schön hier, Hermann."
Es fiel ihm nicht einmal auf, dass sie ihn beim Vornamen genannt hatte, so durchdrungen war er von der Spannung, die sein Plan in ihm auslöste. Beide bestellten grünen Tee und zwei Gerichte von der Tageskarte. Hermann Reimers erzählte von Tokyo und seinen Erlebnissen, sie nickte dazu, als hätte sie all das selbst miterlebt. Dann stellte der Kellner zwei vorgewärmte Teller vor sie auf den Tisch und dazu vor jeden das bestellte Gericht. Erwartungsvoll blickte er sie beide an und öffnete schwungvoll den Deckel des massiven Steintopfes vor ihrem Teller.
"Biiiitte selll, Sukiyaki – geschmortes Rindfleisch!"
Sie lächelte.
Dieselbe Theatralik mit dem Deckel über seiner Platte:
"Biiiitte selll, Fugu Sashimi – Kugelfisch filetiert!"
Hermann Reimers Gesichtszüge erstarrten. Wirr blickte er um sich, blieb an ihrem Gesicht hängen.
"SIE … Sie …"
Sie hatte es wieder geschafft, hier, in aller Öffentlichkeit. Das Blut in seinen Ohren rauschte, dann machte er sich mit einem lauten Schrei Luft, hieb mit der Hand auf den Tisch, bis die Teekanne von ihrem Stövchen kippte. Hände zerrten an ihm, Worte der Beruhigung schwirrten um ihn herum, aber in seinem Kopf existierte nur ein einziges Wort: Kugelfisch. Der tödlichste Fisch überhaupt, wenn man ihn nicht richtig zubereitete. Wie hatte sie das nur geschafft? Es war egal, sie hatte es geschafft.
"Sie will mich umbringen! … umbringen!"
Er murmelte die Worte nur noch, als die beiden Pfleger ihn mühelos nach draußen geleiteten. Auf einer Bank am Rande des Markplatzes saß indessen Hermann Reimers Begleitung, die Schultern gestrafft, der Blick starr.
"Ist alles in Ordnung bei Ihnen?", ein Arzt beugte sich zu ihr hinunter.
"In Ordnung?", fragte sie, "es ist seit Jahren nicht mehr in Ordnung."
Mitfühlend legte der Arzt ihr eine Hand auf die steife Schulter, "ich weiß, Frau Reimers, ich weiß. Es tut mir leid, dass sie ihren Mann so sehen müssen, dass er sie nicht mehr erkennt und jetzt sogar in völlige Verwirrung abgleitet."
Chiyoko Reimers nickte nur. Wie konnte ein anderer verstehen, wie es sich anfühlte, den eigenen Mann nach 45 glücklichen Ehejahren siezen zu müssen und sich von ihm wie eine Haushälterin behandeln zu lassen, nur damit seine ihm begreifbare Welt nicht noch mehr ins Wanken geriet? Seinen Verfall miterleben zu müssen. Aber das Schlimmste war, dass er ihr die gemeinsamen Erinnerungen genommen, jeden Tag eine mehr, und sie mit seiner Demenz und seinem schleichenden Wahn überschrieben hatte. Die Tränen waren längst versiegt, das einzige, was ihr blieb, wäre ein Lebensabend in seligem Vergessen und in Ruhe.
In der Manteltasche presste sie die Finger Trost suchend um ein braunes, unbeschriftetes Fläschchen. Die Chance war vertan.
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Eve
Zu den Kugelfischen gehören etwa 150 Arten. Die Größe variiert zwischen 2 Zentimetern beim Zwerg- oder Erbsenkugelfisch (Carinotetraodon travancoricus) und 120 Zentimetern beim Riesenkugelfisch (Arothron stellatus). Ihr bekanntester Vertreter ist der Fugu, der in Japan eine kulinarische Spezialität darstellt, obwohl viele Körperteile giftig sind. Daher wird Fugu oft auch als Synonym für Kugelfisch gebraucht. Die Wirkung wie auch die Gefährlichkeit der Kugelfische wird bereits im ältesten chinesischen Kräuterbuch (Pen tsao chin) erwähnt. Die Zahl der Menschen, die in Japan in den Jahren 1956 bis 1958 an Fugu-Vergiftungen starben, belief sich auf 420.
… und zum Dinner Kugelfisch!
Sie trachtete ihm nach dem Leben! Auf einmal war er da, der Gedanke, glasklar und mit einer Selbstverständlichkeit, dass er sich fragte, weshalb er nicht schon längst all die anderen Anzeichen bemerkt hatte. "Die Tropfen, Herr Reimers, vergessen Sie Ihre Tropfen nicht." Leicht dahin gesagt, um ihn von ihrer Fürsorglichkeit zu überzeugen. Wann hatte das mit den Tropfen überhaupt angefangen? Sehr lange nahm er sie noch nicht ein, wenn er sich recht erinnerte, war sie erst vor ein paar Wochen damit auf seinem Frühstückstablett aufgetaucht. Und die Vitamintabletten – wenn die mal Vitamine von Weitem gesehen hatten, konnte er sich glücklich schätzen. Hermann Reimers erschrak. Wieviel Gift er wohl schon in seinem Körper hatte?
Beim Abendessen setzte er sich mit geradem Rücken sehr aufrecht auf seinen Stuhl, räusperte sich vernehmlich und sagte mit fester Stimme: "Ich werde die Vitamintabletten nicht mehr nehmen … sie schlagen mir auf den Magen." Er nahm eine bequemere Sitzhaltung ein, trank einen Schluck von seinem kohlensäurefreien Mineralwasser und piekste mit der Gabel in eine Silberzwiebel auf seinem Teller. Zufrieden kaute er vor sich hin, genoß den säuerlichen Geschmack der eingelegten Zwiebel in seinem Mund und freute sich über seinen findigen Schachzug. "Jetzt soll sie mal kommen", dachte er, "ich bin auf der Hut!"
Die folgenden Tage vergingen in ruhigem Einklang, Hermann Reimers beobachtete wachsam alles, was um ihn herum vor sich ging, konnte aber nichts Verdächtiges feststellen. Zufrieden saß er eine Woche später wie immer vor seinem Aquarium, fütterte den kleinen Schwarm bunt schillernder Guppys und sah den leuchtend rot gefärbten Schleierkardinälen beim eleganten Slalom-Schwimmen durch die Algen hindurch zu. Aus der Küche klirrte Geschirr. Erst achtete er nicht auf das Geräusch, sie würde sicherlich die Spülmaschine ausräumen oder einen Kuchen backen – manchmal tat sie das für ihn. In solchen Momenten summte sie nicht unmelodisch einen alten Schlager dazu. Heute summte sie nicht, nur das Hantieren mit Geschirr, das Aufziehen und Schließen von Schubladen war zu hören. Er stemmte sich aus dem Sessel empor und schlurfte auf seinen Filzpantoffeln in Richtung Küche. Gerade wollte er etwas sagen, wollte sie fragen, warum sie heute keinen Rühmann oder keine Knef zum Besten geben wollte, da stockte er. Halt suchend griff seine Hand nach der Kommode. Fast hatte er schon an Einbildung glauben wollen, hatte sich selbst einen alten, senilen Clown geschimpft. Aber jetzt konnte er mit eigenen Augen den Beweis vor sich sehen! Da stand die Kanne aus weißem Porzellan, aus der er immer seinen Nachmittagstee trank, und davor stand SIE und schüttete aus einem dunkelbraunen Fläschchen weißes Pulver in die Kanne.
"Was machen Sie da??? Sie wollen mich vergiften!!!", unbeherrscht brach es aus ihm hervor, zu spät bemerkte er, seine Trümpfe zu früh ausgespielt zu haben.
"Ach Herr Reimers, was haben Sie mich erschreckt!"
Während sie sich zu ihm umdrehte, ließ sie das kleine Fläschchen in die Tasche ihrer Kittelschürze gleiten, aber er hatte schon längst seinen Blick daran festgeklebt.
"Ich will sofort die Flasche sehen!!!"
Er merkte selbst, wie schrill seine Stimme zitterte, aber schließlich ging es um eine ernste Sache! Sie schien zu merken, dass sie ihm nicht so ohne Weiteres entkommen konnte und reichte ihm das Fläschchen aus ihrer Tasche. Das Etikett war mit ungelenker Hand beschriftet worden. >>Lecithin<< konnte er entziffern, seine Augen waren nicht mehr so scharf wie früher und die Brille lag noch auf dem Tisch neben dem Aquarium.
"Lecithin, Lecithin, das haben Sie doch selbst dort drauf geschrieben … ist es Blausäure? Ist es Arsen?"
"Ach Herr Reimers, was denken Sie denn. Warum sollte ich Ihnen denn so etwas in den Tee träufeln? Es ist Lecithin, aus der Apotheke, und es hilft gegen Vergesslichkeit."
Misstrauisch und mitnichten beruhigt schnaubte Hermann Reimers.
"Das kann ja jeder sagen", blaffte er und fügte hinzu, dass er ab sofort keinen Tee mehr trinken würde, den sie hinter seinem Rücken zubereitet hätte. Er drehte sich um und ging – so gut es ihm sein steifes Bein erlaubte – hinaus in den Flur und weiter in sein Zimmer.
Er war verwirrt und unsicher. Es konnte nicht sein – und dennoch hatte er es mit eigenen Augen gesehen. Dazu die morgendlichen Tropfen und die angeblichen Vitamintabletten … wie viele Beweise brauchte er noch? Und als neulich der Eimer im Flur "vergessen" worden war, war das sicher auch nur ein weiterer Anschlag auf sein Leben gewesen. Er schüttelte den Kopf – von ihm war kein großes Erbe zu erwarten. Er hatte doch nichts, außer seinen Erinnerungen. Er musste sie loswerden … hier konnte er ja nicht mehr in Ruhe zu Bett gehen … er musste SIE loswerden! Vielleicht sollte er ihr ihr eigenes Pulver ins Essen rühren? Aber sie ließ ihn ja nicht in die Küche, "ein Mann gehört nicht hinter den Herd", sagte sie immer, jetzt wusste er auch warum nicht! Er brauchte einen Plan, dringend.
Allabendlich schloss er sich nun in sein Zimmer ein und zermarterte sich den Kopf nach einem Plan. Er verweigerte das von ihr gekochte Essen und verzehrte nur noch Kekse aus Packungen, die er selbst aufriss, trank Wasser nur aus noch verschlossenen Flaschen. Währenddessen scharwenzelte sie in ihrer blauen Kittelschürze um ihn herum, bat und bettelte, er möge doch vernünftig werden. Aber er blieb hart. Auch als sie ihm mit dem Besuch eines Arztes drohte, verließ er seinen Posten nicht. Letztlich konnte sie sowieso nur leere Drohungen aussprechen, da war er sich sicher, denn ein Arzt würde nur seinen Verdacht bestätigen, und sie würde sich am Ende selbst überführen.
In ruhigen Momenten erzählte er seinen Fischen von den Ideen, die er nachts gefasst hatte. Sie waren die einzigen, denen er noch traute. Aber zu einem richtig zündenden Plan verhalfen auch sie ihm nicht.
Längst hatte er ihr Zimmer durchsucht, wenn sie einkaufen gegangen war. Bisher ohne Erfolg. Aber natürlich war er auch nicht mehr so beweglich wie früher, und daher nahm sein Bemühen weit mehr Zeit in Anspruch, als er eingeplant hatte. Er hatte auch schon versucht, einfach wegzulaufen – aber sie hatte ihn beide Male wieder von der Straße eingesammelt, so dass er diese Möglichkeit, ihr zu entkommen, fürs Erste auf Eis gelegt hatte.
Natürlich hatte sie unterdessen bemerkt, dass ihr Zimmer durchwühlt worden war. Die Parfümfläschchen standen nicht mehr am richtigen Platz, ihre Cremedöschen waren falsch zugeschraubt worden und die unterste Schublade in ihrem Schrank sah aus, als sei sie hastig und ohne Sorgfalt wieder eingeräumt worden. Mit gestrafften Schultern saß sie auf der Kante ihres Bettes, Haltung war ihr immer sehr wichtig gewesen. In ihren Händen drehte sie ein metallenes Döschen hin und her, so dass die mit einem gelben Pulver gefüllten Kapseln durcheinander rollten. Nachdenklich schloss sie den Deckel der Dose. Sie war nicht sicher, was sie tun oder wie es weiter gehen sollte.
Über Nacht war in Hermann Reimers endlich ein Plan gereift. Er wusste jetzt, wie er sie aus dem Haus bekommen konnte. Erst würde er sie in Sicherheit wiegen – nur um dann gnadenlos zuzuschlagen.
Zur Erinnerung an seine Jugendzeiten, die er in Japan verbracht hatte, wollte er sie heute zum Essen einladen, so hatte er ihr das am Morgen mitgeteilt. Erfreut aber auch vorsichtig, so erschien es ihm, hatte sie zugesagt. "Und weil ich in letzter Zeit oft an die Jahre in Tokyo denken muss, gehen wir heute zum Japaner am Markplatz." Ein grandioser Plan, er lächelte, als er daran zurückdachte. Sie würden gemeinsam essen und trinken, und sie hätte keine Chance, auch nur einen Finger an seinen Teller zu legen. Er würde sie nicht aus den Augen lassen. Und in einem unbeobachteten Moment würde er ihr den Schlüssel aus der Handtasche stibitzen und ihr so die Rückkehr in die Wohnung verwehren. Für immer. Dann konnte er endlich wieder sicher schlafen und die Jahre, die ihm noch verblieben, in Ruhe genießen.
Der Kellner rückte ihr den Stuhl zurecht, und Hermann Reimers wies seine Begleitung auf den schönen Ausblick auf den von Fachwerkhäusern gesäumten Marktplatz hin. Sie lächelte still.
"Es ist sehr schön hier, Hermann."
Es fiel ihm nicht einmal auf, dass sie ihn beim Vornamen genannt hatte, so durchdrungen war er von der Spannung, die sein Plan in ihm auslöste. Beide bestellten grünen Tee und zwei Gerichte von der Tageskarte. Hermann Reimers erzählte von Tokyo und seinen Erlebnissen, sie nickte dazu, als hätte sie all das selbst miterlebt. Dann stellte der Kellner zwei vorgewärmte Teller vor sie auf den Tisch und dazu vor jeden das bestellte Gericht. Erwartungsvoll blickte er sie beide an und öffnete schwungvoll den Deckel des massiven Steintopfes vor ihrem Teller.
"Biiiitte selll, Sukiyaki – geschmortes Rindfleisch!"
Sie lächelte.
Dieselbe Theatralik mit dem Deckel über seiner Platte:
"Biiiitte selll, Fugu Sashimi – Kugelfisch filetiert!"
Hermann Reimers Gesichtszüge erstarrten. Wirr blickte er um sich, blieb an ihrem Gesicht hängen.
"SIE … Sie …"
Sie hatte es wieder geschafft, hier, in aller Öffentlichkeit. Das Blut in seinen Ohren rauschte, dann machte er sich mit einem lauten Schrei Luft, hieb mit der Hand auf den Tisch, bis die Teekanne von ihrem Stövchen kippte. Hände zerrten an ihm, Worte der Beruhigung schwirrten um ihn herum, aber in seinem Kopf existierte nur ein einziges Wort: Kugelfisch. Der tödlichste Fisch überhaupt, wenn man ihn nicht richtig zubereitete. Wie hatte sie das nur geschafft? Es war egal, sie hatte es geschafft.
"Sie will mich umbringen! … umbringen!"
Er murmelte die Worte nur noch, als die beiden Pfleger ihn mühelos nach draußen geleiteten. Auf einer Bank am Rande des Markplatzes saß indessen Hermann Reimers Begleitung, die Schultern gestrafft, der Blick starr.
"Ist alles in Ordnung bei Ihnen?", ein Arzt beugte sich zu ihr hinunter.
"In Ordnung?", fragte sie, "es ist seit Jahren nicht mehr in Ordnung."
Mitfühlend legte der Arzt ihr eine Hand auf die steife Schulter, "ich weiß, Frau Reimers, ich weiß. Es tut mir leid, dass sie ihren Mann so sehen müssen, dass er sie nicht mehr erkennt und jetzt sogar in völlige Verwirrung abgleitet."
Chiyoko Reimers nickte nur. Wie konnte ein anderer verstehen, wie es sich anfühlte, den eigenen Mann nach 45 glücklichen Ehejahren siezen zu müssen und sich von ihm wie eine Haushälterin behandeln zu lassen, nur damit seine ihm begreifbare Welt nicht noch mehr ins Wanken geriet? Seinen Verfall miterleben zu müssen. Aber das Schlimmste war, dass er ihr die gemeinsamen Erinnerungen genommen, jeden Tag eine mehr, und sie mit seiner Demenz und seinem schleichenden Wahn überschrieben hatte. Die Tränen waren längst versiegt, das einzige, was ihr blieb, wäre ein Lebensabend in seligem Vergessen und in Ruhe.
In der Manteltasche presste sie die Finger Trost suchend um ein braunes, unbeschriftetes Fläschchen. Die Chance war vertan.
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Eve