...ohne uns

NSchaefer

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Die Sonne schien nicht untergehen zu wollen an diesem Abend. Sie krallte sich am Horizont fest, und dennoch – als ob sie die letzten Kräfte aus ihren Strahlen nahm, sich verkrampft an einer Häuserfront zu halten und nicht hinter ihr zu versinken, wurde es dunkler. Immer wieder schrak sie zwischendurch auf, beschien für einen Moment unsere Rücken, als wollte sie uns sagen – ich existiere, beachtet mich! – Doch nach einigen Malen, noch eh wir sie wirklich bemerkten, verschwand sie und machte Platz für die Nacht.

Wir saßen am Kanal, auf kalten Steinplatten und ließen unsere nackten Füße ins Wasser baumeln.
Seitdem wir uns begrüßt hatten, sprachen wir kein Wort mehr. Es war auch nicht nötig, denn allein die Anwesenheit des anderen genügte, um zu wissen, was wir sagten und was wir nicht sagen wollten.

Nachdem die Sonne uns nicht mehr beobachtete, gingen allmählich auch die Lich-ter der Stadt aus, als würden sie sich von uns wenden, Partei ergreifen für die große gelbe Kugel, Lichtjahre von uns entfernt.
Mit einem Mal verlöschte alles, bis auf den Schein unserer Augen spiegelte das Wasser vor uns nichts wider. Wir sahen unsere Hände, die Knie nicht mehr und hätten wir nicht gespürt, dass das Wasser bis zu unseren Waden reichte, hätten wir denken können, dass unsere Füße über der Erde schwebten.
In dieser plötzlichen Dunkelheit fuhr in uns die Angst hoch... mein rechtes Knie und dein linkes zuckten kurz und berührten sich. Es war die erste Bewegung, die wir beide taten und auch die letzte...

Unsere Augen verließen ihre Höhlen und flogen ein paar Meter von uns weg, drehten sich um und beobachteten uns. Sie sahen zwei Körper, deren Brustkörbe sich hoben und senkten – im Takt der Wellen, die gegen die Kaimauer klatschten – zwei Körper, deren Herz im gleichen Rhythmus schlug, und der ein kleines Papierboot, aus der Ferne immer näher kommend, anzulocken schien.

Ein Boot aus Papier, das, je näher es kam, immer kleiner wurde und immer leuchtender. Vier Hände griffen, ohne dass sich der restliche Körper bewegte, nach die-sem Boot.
Doch statt es hochzuheben, ließen die Hände plötzlich los, ließen sich von den Armen fallen, direkt ins Wasser und verschwanden.
Die Augenpaare blickten fragend, und die Körper antworteten ihnen, indem sie sich gleichzeitig in den Schneidersitz setzten, ebenso ratlos.
Doch die Füße blieben, wie in Zement gegossen, im Wasser stecken und verschwanden.
Erst jetzt aber hatten die Körper ein Gefühl – im Bauch, sie fanden es witzig, spannten immer wieder die Muskeln unterhalb des Halses an, schwangen ihre Ar-me und ließen sie auf die Oberschenkel klopfen – als wollten die Körper zeigen, dass sie lachten.
Die Augen klimperten ein paar Mal und wussten noch immer nicht, mit der Situation umzugehen. Ihr Blick ruckte – vom Boot, das völlig ruhig im Wasser schwamm, zu den sich krümmenden Körpern...

Es blitzte, nur ganz kurz, doch es blendete die Augen, so dass sie nichts mehr sahen.
Als sie wieder Umrisse erkennen konnten, war das Papierboot verschwunden. Es hinterließ nur seinen Schatten, der allmählich mit den Gesichtern, die sich im hel-len Licht gelöst hatten, im Kanal versank.
Zurück blieben nur noch die Augenpaare, die auf zwei schwebende Herzen in der Dunkelheit blickten.
Zwei blutende Herzen, die sich umarmten und von Freundschaft, Feindschaft, Liebe und Angst sprachen.

Die Augen fühlten sich bedrängt von der Innigkeit und den Gefühlen, konnten es nicht ertragen, nicht dazuzugehören und flogen in die Nacht, zu viert, doch einsam, in die Richtung, in die die Sonne verschwunden war.
Nur Augenblicke später, sich noch immer in den Armen haltend, wurden die Her-zen von den beobachtenden Blicken der Sonne durchschienen, durchlöchert, angenagt –

Bis sie sich entschlossen, auseinander zugehen, sich zu trennen –

Zurück blieb das Leuchten der Sonne, die Lichter und der Lärm der Stadt –

Alles hörte sich so einsam an –

...ohne uns.​


(18.02.2000)
 



 
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