...wie Eure Herzen !

...wie Eure Herzen !

Ali stand am kleinen Fenster seines winzigen Zimmers. Er blickte auf graue Häuser, deren Fenster wie Löcher darin aussahen. Nirgends konnte man eine Blume, die etwas Farbe in dieses Grau gebracht hätte, entdecken. Aus den Schornsteinen auf den Dächern der Häuser quoll dichter dunkelgrauer Rauch. Der Himmel war trübe und grau, kein einziger Sonnenstrahl konnte seinen Weg durch die dicken Wolkenschichten finden. Selbst die Regentropfen, die vereinzelt zur Erde fielen, schienen lustlos zu sein und sich in das Grau einzufügen.
Ali schüttelte sich. Ihm war kalt, er hatte eine Gänsehaut. Gedankenverloren starrte er in den wolkenverhangenen Himmel.

Wie anders war es doch bei ihm in der Heimat gewesen. Ali schloss die Augen.
Vor sich sah er einen hellblauen, strahlenden Himmel, Sonnenschein, bunte Vögel , die durch die Luft flogen, viele grüne Pflanzen mit bunten Blüten. Ali holte tief Luft. Fast meinte er den Duft der Blüten zu riechen. Aber vor allem - es war warm.
Seine Familie und die vielen anderen Menschen lebten in kleinen braunen Lehmhütten, die sie sich selbst gebaut hatten. Bunte selbstgefärbte Tücher verschönerten die Einfachheit der Hütten. Es gab kein Bad, dafür aber einen glasklaren Fluss und das Trinkwasser holte Mutter in großen Kübeln aus einer klaren Quelle.

Da es in der Hütte nicht viel Platz gab, war die Küche mitten im Raum. Am offenen Feuer wurde gekocht und zu den Mahlzeiten versammelte sich dann die ganze Familie, manchmal auch die Nachbarn, da herum.

Alis Vater hatte mehrere Felder, auf denen er das, was die Familie zum Leben brauchte, selbst anbaute. In guten Jahren konnte er noch einen Teil davon verkaufen und hatte somit noch ein wenig Geld, um der Familie und sich, ab und zu ein paar Wünsche zu erfüllen.

Um dies zu erreichen, musste er aber hart arbeiten. meist stand er schon vor Sonnenaufgang auf und arbeitete bis spät abends auf dem Feld. Wenn aber Ali und seine Geschwister ihm besuchten und ihm etwas zu essen und zu trinken brachten, dann freute er sich riesig und ließ die Arbeit sein und vergnügte ich mit seinen Kindern.
Alis Mutter war Tag für Tag zu Hause. Sie kümmerte sich um Alis kleine Geschwister, um das Essen und um die Ziege, die ihnen täglich frische Milch lieferte.

Alis Schule war auch ganz anders. der Unterricht fand unter freiem Himmel statt und wenn es besonders heiß war, fiel er auch einfach mal aus. Ali lernte lesen, rechnen und schreiben, aber auch ganz nützliche Sachen, wie man zum Beispiel Feuer entzünden konnte oder wie man an den Sternen die Jahreszeit erkennen konnte und vieles mehr.
Kam Ali aus der Schule, so schickte ihn seine Mutter frische Früchte holen. Ali kletterte auf die Bäume und pflückte die süßesten und saftigsten Früchte, die er nur finden konnte.

Fernsehen gab es natürlich nicht. Abends saß die Familie gemeinsam ums Feuer und erzählte das, was jeder am Tag erlebt hatte. Die Nachbarn kamen und schnell hatte sich eine große Menge Menschen um das Feuer versammelt. Man lachte, erzählte , sang und schimpfte manchmal sogar - meist spät bis in die sternenklare Nacht

Doch es blieb nicht so friedlich !
Bald schon verdunkelte sich der Himmel und in den Nächten hörte man dumpfes Grollen, das immer näher zu kommen schien. Doch jede Nacht ein Gewitter - das konnte Ali gar nicht glauben.
Die Menschen, die einst gemeinsam um das Feuer saßen, waren unzufrieden geworden und anspruchsvoller und neidisch auf die, die ein wenig mehr hatten. Menschen, die sich früher gut verstanden hatten, stritten sich mehr und mehr. Es wurde so schlimm, dass sie einander verletzten und viele Menschen sterben mussten.

„Wir haben Krieg“, sagte Alis Vater. „Krieg“ - dieses Wort hatte Ali noch nie gehört, doch wusste er sofort, dass es für ihn eine Bedeutung haben würde.

Alis Vater wollte, dass seine Familie nicht unter dem Streiten und Verletzen leiden sollte. Deshalb zog er fort.
Nicht etwa in die nächste Stadt - nein, in ein fremdes, unbekanntes Land.
Tagelang waren sie alle unterwegs - zu Fuß, mit Lastwagen, dann einem Schiff und zuletzt mit einem Flugzeug, so groß wie es Ali noch nie gesehen hatte.

Doch plötzlich war alles fremd um ihn herum. Es gab keine Lehmhütten. Große Häuser, in denen viele Familien wohnten, standen dicht an dicht.

Die ersten Tage waren die schlimmsten für Ali. In seinem Dorf kannte er jeden Erwachsenen und seine Mutter hatte ihm gelehrt, freundlich und höflich zu allen zu sein.
Als Ali das erste Mal allein unterwegs war, lachte er alle entgegenkommenden Leute an. Seine weißen Zähne blitzten in seinem dunklen Gesicht und seine dunklen Kulleraugen wurden zu kleinen Sehschlitzen.
Doch meist blieb das Gesicht des Gegenübers verschlossen - man verzog keine Miene. Statt zurückzulächeln wurden die Menschen häufig sogar böse und es prasselten Wörter auf ihn herab, die er gar nicht verstehen konnte. So verschwand bald das freundliche Lächeln auf Alis Gesicht.

Eines Tages, als er sich seine Nase an den Schaufenstern eines Obstladens plattdrückte, weil er endlich die Früchte sah, die er in seiner Heimat geerntet hatte, kam ein wütend schimpfender Mann aus dem Laden, fuchtelte wild mit den Händen und schrie etwas, das wie „Hau ab !“ klang. Ali wusste nicht, was es bedeutete, aber er konnte am Gesicht des Mannes erkennen, dass dieser es nicht freundlich mit ihm meinte.

Ali war unendlich traurig. Es war jetzt alles so anders. Mutter und Vater arbeiteten in einer Fabrik. Von morgens bis abends war er mit seinen Geschwistern allein. Einmal wollte Ali seinen Vater wie gewohnt bei der Arbeit besuchen, doch man ließ ihn erst gar nicht in die Fabrik und schimpfte wieder für Ali unverständliche Worte. Wenn seine Eltern dann spät von der Arbeit nach Hause kamen, waren sie müde. Es wurde nur noch schnell etwas gegessen - aber so gemütlich wie früher war das nicht mehr.
Vater schlief dann vor einem Gerät ein, das „Fernseher“ heißt. Er sagte Ali immer, dass er Bilder von zu Hause sehen wollte. Aber wenn die Nachrichten dann die Bilder aus der Heimat von Alis Familie brachten, schlief er meist schon längst. Alis Mutter, die erst dann einen Blick auf den Bildschirm warf, schüttelte nur den Kopf und als Ali genauer hinsah, kullerten ihr Tränen über das Gesicht, die sie heimlich wegwischte.

Ali wusste es gewiss, dass alle in seiner Familie genauso viel Heimweh hatten wie er selbst.
Nur am Vormittag war Ali von seinem Heimweh ein bisschen abgelenkt, dann nämlich, wenn er in der Schule war. Die Kinder, die mit ihm in eine Klasse gingen, schienen recht nett zu sein. So richtig konnte er sie ja nicht verstehen, aber er glaubte, dass das Lachen was er ständig hörte, wenn er in die Nähe kam, nur freundlich gemeint sein konnte.
Auch die Lehrerin verstand Ali nicht. Aber wenn sie seinen Namen aufrief, dann wusste er, dass irgend jemand irgend etwas von ihm wollte.
Manchmal gab ihm seine Lehrerin ein Blatt, auf dem etwas stand, was Ali dann sauber in sein Heft abschrieb, obwohl er es gar nicht verstand. Ali kannte fast alle Buchstaben und Zahlen, aber irgendwie war es doch ein ganz anderer Unterricht als in seiner Heimat.
Doch das störte Ali eigentlich nicht, fleißig erledigte er die ihm aufgetragenen Arbeiten. Er war froh, unter so vielen anderen Kindern zu sein. Zu Hause, da waren seine Geschwister auf die er hätte aufpassen müssen und sie würden ihm sicher Löcher in den Bauch gefragt haben, weil sie noch viel weniger von dem verstanden, was um sie herum passierte.

Ali lachte sehr viel in der Schule. Seine Lehrerin lachte auch immer zurück, tätschelte ihm den Kopf und sagte etwas zu den anderen Kindern, die dann verlegen nach unten schauten. Was sie damit meinte, konnte Ali nur erahnen, aber er dachte sich, dass sie wohl ganz froh wäre, wenn sie mehrere Kinder von Alis Art in der Klasse hätte. Ganz überzeugt war er aber nicht davon. Manchmal zupfte sie ihn auch am Hemd - immer dann, wenn Ali mit seinen Gedanken nicht bei der Sache war. Klar, denn dann waren Alis Gedanken dort, wo er sich viel mehr wohl fühlen würde - nämlich in seiner Heimat.

Patsch - ein dicker Regentropfen klatschte auf Alis Nase und holte ihn zurück in die Gegenwart. Ali stand noch immer am Fenster und schaute in die trübe Welt.
Plötzlich flatterte eine kleine Schwalbe über Alis Kopf hin und her.
„Warum bist du so traurig ?“ meinte Ali aus ihrem Gezwitscher verstehen zu können.. „Ach, du hast es gut. Du kannst wieder zurück in deine Heimat fliegen“, seufzte Ali auf. „Wieso, es ist doch schön hier“, piepste die Schwalbe weiter. „Wir kommen doch jedes Jahr hierher, nur im Winter, da fliegen wir in den warmen Süden - hier bekommt man ja nur kalte Füße, eine Erkältung und viel zu wenig Futter.“
„Tja, aber ich werde wohl immer hier bleiben müssen“, erwiderte Ali traurig. „Mir fehlt meine Heimat, die Sonne und.....“ schluchzte Ali und dicke Tränen kullerten über sein Gesicht. Die kleine Schwalbe legte das Köpfchen ganz schräg und hörte still zu, ab und zu zwitscherte sie leise, wohl als Zustimmung.
„Wie kann ich dir nur helfen ?“, piepste sie und flog auf. Schon flatterte sie im Wind davon.

Schwalben treffen sich meist mit ihren Familien auf Telefonleitungen. Dort werden die Neuigkeiten über gute Futterstellen, noch bessere Nistmöglichkeiten und vieles mehr ausgetauscht.
Jetzt stand aber die kleine Schwalbe ganz im Mittelpunkt. Sie flog aufgeregt hin und her und zwitscherte und zwitscherte und aus allen Richtungen kam zustimmendes Gezwitscher.
Plötzlich erhoben sich alle Schwalben wie auf ein Kommando und schwirrten durch die Luft. Alle flogen in eine Richtung und die kleine Schwalbe immer vorne weg.

Über Alis Haus kreisten und flatterten sie hoch in der Luft. Hoch, tief - der Himmel war voll von flügelschlagenden Schwalben. Sie flogen so lange auf und ab in der dunklen Wolkenschicht bis ein kleines Loch entstand. Durch dieses winzige Loch konnte ein Sonnenstrahl genau zu Alis Fenster durchdringen.

Als Ali diesen winzigen Sonnenstrahl sah, lief er sofort auf die Straße, jubelte und versuchte über diesen Sonnenstrahl zu hüpfen. „Sonne, endlich Sonne !“, rief er in die Welt.
Die vorbeigehenden Menschen wunderten sich, aber sie lächelten ein wenig über den Jungen, der im Sonnenfleck umherhüpfte. Immer mehr Menschen blieben stehen und je mehr Menschen ein Lächeln auf ihrem Gesicht hatten, desto größer wurde der Sonnenfleck.
Man holte Stühle und Tische und etwas zu essen und zum Trinken und Nachbarn, die sich noch nie miteinander unterhalten hatten, redeten miteinander.
Ali sah sich um. Die vielen Menschen, die an den Tischen saßen und laut und fröhlich miteinander redeten, erinnerten ihn an seine Heimat.
Der Himmel war inzwischen strahlend blau, die Sonne schien und die Menschen feierten gemeinsam ein fröhliches Fest. Ali tobte mit seinen Geschwistern in der Menge umher. Plötzlich hörte er einen alten Mann sagen: „So etwas habe ich schon lange nicht mehr erlebt !“

Ali sah zum Himmel und lächelte. Immer noch schwirrten viele kleine Schwalben durch die Luft. Er meinte aus ihrem Zwitschern etwas zu verstehen: „ Der Himmel ist so wie Eure Herzen !“
 



 
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