(Abschied)

roobin

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(Abschied)
Es hatte lange gedauert, bis er sich endlich zu eine Entscheidung durchringen konnte. Geschätzte zwei Monate hatte er über nichts anderes mehr nachgedacht, schließlich musste er sich ganz sicher sein. Und das war er jetzt. Todsicher quasi. Bei dem Gedanken musste er kurz schmunzeln. Er hatte es natürlich niemandem erzählt. Sie würden es sowieso nicht verstehen. Das ganze war seine Entscheidung, er hatte sie getroffen, und damit war die Akte dann auch geschlossen.
Als Theo in die Bahn eingestiegen war, hatte er sich einen der letzten Sitzplätze ergattern können. Nun, lediglich vier Stationen später, herrschten beinahe japanische Verhältnisse. Er hatte mal von einem Freund gehört, dass die Bahnen dort manchmal so voll sind, dass die ganzen Leute vom Schaffner regelrecht hineingeschoben werden müssen. Diese These hatte Martin dann mit einem Beweisvideo untermauert.
Martin. Theo erinnerte sich gerne an ihn. Sie hatten immer viel Zeit miteinander verbracht, kannten sich seit dem ersten Schuljahr. Damals waren sie beide sechs, wobei Martin fünf Tage älter war als Theo. Damit hatte er ihn immer aufgezogen. \"Dieser Mistkerl\", dachte Theo und lächelte in sich hinein, während die Bahn zum fünften Stopp ansetzte.
Er hatte noch vier Stationen vor sich, brauchte sich also noch keine Gedanken machen, wie er es letztendlich aus diesem überfüllten Wagon schaffen würde. Ja, Martin war schon ein lustiger Kerl gewesen, abgesehen von seinen Fünf-Tage-Witzen natürlich. Theo konnte sich allerdings nicht beschweren. Denn während Theo mittlerweile 18 Jahre alt war, würde Martin nie über die 16 hinauskommen. Passiert war das ganze an Sylvester vor zwei Jahren. Theo erinnerte sich noch gut an den Abend. Bis auf Martins Tod war er perfekt gewesen, ein besseres Sylvester konnte man sich eigentlich nicht wünschen. Die Stichworte waren sturmfreie Bude, eine Menge Feuerwerkskörper und eine noch größere Menge alkoholischer Getränke. So kam es auch zu dem Umstand, dass in Martin noch eine nicht geringe Menge an Restalkohol steckte, als dieser den Nachhauseweg antrat. Auf diesem passierte dann wohl das Unausweichliche. Martin kam nicht zu Hause an, man suchte verzweifelt nach ihm, und fand ihn dann ein paar Tage später in einem Graben am Straßenrand, vermutlich erfroren.
Die Bahn setzte sich wieder in Bewegung. Gegenüber von Theo saß ein Mädchen, ungefähr in seinem Alter. Die Tatsache, dass sie ein Smartphone in der Hand hielt und eifrig am SMS-Schreiben war, erlaubte es ihm, sie genauer zu mustern. Das Mädchen hatte tiefschwarzes Haar und braune Augen und entsprach durch aus dem, was Theo als hübsch bezeichnen würde. Mädchen waren nie ein großes Thema für ihn gewesen. Der Grund dafür war allerdings keinesfalls Homosexualität, Theo wünschte, er hätte eine dermaßen gute Ausrede. Er hatte einfach nie Zugriff gefunden. Er überlegte, ob er das Mädchen ansprechen sollte. Dann bemerkte er, wie merkwürdig er es finden würde, wenn ihn in der Bahn einfach jemand vollkommen Fremdes ansprechen würde, und verwarf den Plan so schnell, wie er ihm in den Sinn gekommen war. Das wollte er ihr nun wirklich nicht antun. Außerdem würde das ganze jetzt eh nichts mehr ändern.
Stattdessen widmete sich Theo nun der am Fenster vorbeirauschenden Landschaft. Jaja, es gab keinen Ort des alltäglichen Lebens wo man Einsteins erstes Postulat so gut beobachten konnte wie in einem Zug.
Die Bahn verließ nun langsam die Stadt, und anstelle von Fabrikschornsteinen und Industrierauchwolken zeichneten sich jetzt immer mehr Wälder und Felder vor dem Fenster ab. Wieder kam die Bahn zum Stillstand. Diesmal stiegen eine Menge Leute aus, auch das Mädchen von Gegenüber. Noch drei Stationen. Langsam wurde Theo dann doch etwas mulmig. Waren das etwa Zweifel? Nein, er hatte sich das ganze gut überlegt. Und er würde das jetzt durchziehen.
„Zurückbleiben bitte“, hörte er die Stimme vom Band sagen und der Zug setzte sich wieder in Bewegung. Draußen begann es leicht zu nieseln. Theo hatte damit kein Problem. Was er zu erledigen hatte würde im Regen nicht weniger gut funktionieren. Außerdem war er der Meinung, dass Regen sowieso alles ein wenig epischer gestaltete. Theo wurde aus seinen Gedanken über das kühle Nass gerissen, als er eine Vibration in seiner linken Hosentasche verspürte. Wer würde ihm wohl jetzt eine SMS senden?
Theo, ich weiß zwar nicht wo du bist, aber wir essen heute ein wenig später. Es gibt Spaghetti! – Mama
Regungslos nahm Theo die Nachricht zu Kenntnis. Spaghetti hatte er sowieso noch nie gemocht.
Während die Bahn die nächste Station passierte, wurde es langsam dunkel. Die Bahn war nun fast leer, und Theo hatte den Wagon fast für sich alleine. Die Landschaft wurde immer bergiger, und er bemerkte, dass er seinem Ziel immer näher kam. Er hatte lange überlegt, wie genau er es anstellen sollte. Es sollte besonders sein, eine einzigartige Erfahrung. Etwas Unwiederholbares, und zwar eben nicht nur technisch gesehen, sondern auch emotional. Dann hatte er sich an die Wanderungen erinnert, auf die ihn seine Eltern bereits von früh auf mitgeschleppt hatten. Das Wandern hatte ihn zwar eher weniger begeistert, aber die Aussicht hatte ihn fasziniert. Und somit war Theo nun auf dem Weg zu Aussichtspunkt Nummer eins von der grünen Wanderroute. Aussichtspunkt eins befand sich an einem riesigen Abhang, von dem man das komplette Tal überblicken konnte.
Die Bahn bremste ab. Das war seine Station. Theo erhob sich und verließ die Bahn. Aus seiner rechten Hosentasche kramte er die Karte vom Wandergebiet hervor, die er kurzerhand aus der Schublade der Kommode seiner Eltern entwendet hatte, und versuchte, sich zu orientieren. Sekunden später machte er sich auf den Weg und befand sich wiederrum nur kurze Zeit später auf der grünen Route. Nach 10 Minuten Wanderung fand er sich an Aussichtspunkt 1 wieder. Nun war es also soweit. Theo schloss die Augen. Er hörte Vögel zwitschern und den Wind, wie er die Blätter der Bäume zum Rascheln brachte. Die Natur hatte schon immer gemocht, nur eben das Wandern nicht. „Hey, du“, hörte er plötzlich eine Stimme hinter sich. Erschrocken drehte Theo sich um. Was zum Teufel? Damit hatte er nun wirklich nicht gerechnet. Als er seine 180-Grad-Drehung vollendet hatte, sah er einen Mann, den er auf circa 30 schätzte. Hinter ihm standen Frau und Kind. „Guten Abend, was gibt’s denn?“, erwiderte Theo. „Kannst du uns sagen, wie lange der Weg ungefähr noch dauert? Unser Kleiner wird langsam ungeduldig, und ich will nur wissen ob wir noch ‘ne Pause einschieben müssen“, sagte der Mann nun mit einem Schmunzeln im Gesicht. „Ach, das schafft er schon“, antwortete Theo, wobei er das Schmunzeln erwiderte. „Sind noch circa zehn Minuten!“. „Danke dir! Schönen Abend noch!“, bedankte sich der Mann, und die drei machten sich wieder auf den Weg.
Theo wartete noch etwas, etwa fünf Minuten, bis er sich ganz sicher war, keine Schritte mehr zu hören. Das war schließlich sein Moment und den sollte ihm niemand vermiesen. Dann war es soweit. Noch einmal schaute Theo hinunter ins Tal. Im Licht der Dämmerung sah das ganze echt fantastisch aus.
Dann tat er einen Schritt vorwärts und sprang.
 



 
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