„Der Spaziergang...“

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Leon

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„Der Spaziergang...“

„Und dort, wo Grüngesichtige dösen,
Wo Schwermut und Gehorsam - eins,
Musst du auf bleichen Seiten lösen
Das trübe Rätselbild des Seins.“
Andrej Gumilev

Die alte Allee. Das grünliche Leuchten antiker Laternen. Schwermütige Kälte
umhüllt sie mit der klotzigen Masse aus Leere und Zwielicht. Es riecht
säuerlich, nach Schimmel. Die profunden Schwingungen durchbohren die
Luft. Man spürt diese Wellen nicht wirklich, nur die Herzen der Passanten
zucken in sich zusammen und räsonieren auf ihre ängstliche Art.
Offensichtlich hat diese Angst noch keinen Grund, sie scheint aber bereits
allgegenwärtig zu sein. Die amorphen Zeichen der noch ungeahnter
Dämmerung, dickflüssig und intelligent in ihrer innovativen Versteckkunst,
lauern in der Luft. Ihre massiven Bewegungen sind abnorm, ihre Logik
ungewiss. Doch ich ahne bereits die bittere Wahrheit: Es sind die ersten
Zeichen, die jenes Ereignis manifestieren, von dem ich seit Jahren wusste.
Nur die wenigen sensiblen Geister spüren bereits jene Gewalt, die ihre
kraftvollen Schwingungen in dieser Welt ausbreiten lässt...

Zunehmend wird meine Aufmerksamkeit mit einem sanften magischen
Nachdruck in das Innere der dicht stehenden Bauwerke eingesaugt.
Besonders jene Öffnungen des inneren Kreises, jene Fenster, in denen die
bunt schimmernde Quelle der wohl konstruierter Wahrheit tobt: Der Lenker
des verstreuten Wissens, das einzig wahre Fernsehen. Eine Ahnung
verdichtet sich in meinem entspannten Bewusstsein. Eine Vorstellung.

Spät Abends an den Wochentagen, wenn die Mehrheit ihren mageren Geist
für eine dunkle Weile aus der Welt der Wirkung entzieht, werden Sendungen
ausgestrahlt, in welchen so etwas wie die Wahrheit zweiter Ordnung
schimmert. Nichts wie am Tage: Keine monströsen Hirngespenste, die eine
paranoide Aura aus Angst und Härte ausstrahlen. Keine fixierten Künstler,
die ihre Werke mit menschlichem Blut versiegeln, keine witzigen Proleten,
die ihre heile Welt von den „bösen Besserwissern“ verteidigen müssen.
Plötzlich werden Menschen sichtbar, die zumindest optisch wie jene lieben
Exzentriker wirken, die eine merkwürdige Gewohnheit pflegen: zu denken...
Ihre zunehmend verwirrten Gesichte erfüllen einen mit der trauriger
Gewissheit, dass der alte helle Geist aus der Welt entweicht.

Ihre Gesichter, welche die sympathischen Züge einer mentalen Verantwortung und einer
kreativen Leuchtkraft in sich tragen, erscheinen nun befremdet zu sein: Ihre
Worte sind ängstlich und unsicher, ihrer Aufmerksamkeit bedrückt...

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