Marc Freund
Mitglied
Das Telefon klingelte exakt um 2:35 Uhr in der Nacht. Henning Wahrenberg war sofort hellwach. Er schwang sich aus dem Bett und tastete sich durch das dunkle Schlafzimmer. Erst im Nebenraum machte er Licht, blinzelte und nahm den Hörer ab.
Beinahe erwartungsgemäß war die Seenot-Rettungsleitstelle aus Bremen in der Leitung. Ein Mitarbeiter mit dem Namen Müller meldete einen führerlosen Kutter, der sich offenbar losgerissen hatte und nun auf Höhe der zweiten Sandbank dümpelte.
„In Ordnung“, gab Wahrenberg zurück. „Wir fahren raus.“
„Noch eins“, schob Müller hastig hinterher. Seiner Stimme war anzumerken, dass er unerfahren war. „Die Meldung hat uns anonym erreicht. Ist also möglich, dass an der Sache gar nichts dran ist. Das Boot soll Claudia 2 heißen.“
Wahrenberg legte der Hörer auf. Er kannte den kleinen Fischkutter. Er gehörte Gernot Frantzen. Ausgerechnet.
Er verwarf die Gedanken an den Bootseigner und zog seine Seenotretter-Uniform an, die in einem Spind in der Waschküche hing. Zurück am Telefon, verständigte er Georg Asmussen und Lenard Wolff, seine beiden Kollegen.
Sie trafen sich nur wenige Minuten später am Fischereihafen, wo auch das Rettungsboot lag. Asmussen kam ihm bereits entgegen und fuchtelte mit den Händen. „Die Claudia 2 fehlt tatsächlich. Das kommt davon, wenn Leute wie Frantzen meinen, ein eigenes Boot haben zu wollen. Dafür gibt er am Sonntag einen aus, das steht schon mal fest.“ Damit sprang Asmussen, ein stämmiger Kerl von 52 Jahren an Deck des Rettungsbootes Nautika und startete den Dieselmotor.
Wahrenberg blickte zu einer der Hafenlaternen herüber, die trübe durch die Nebelwand leuchtete. Aus dieser Richtung hatte er Schritte gehört.
Lenard Wolff kam. Der junge blonde Mann mit dem Dreitagebart drückte Wahrenberg kurz die Hand und nickte ihm zu. „Scheiß-Novemberwetter“, sagte er knapp und folgte Asmussen an Deck. Wahrenberg machte die Leinen los. Zwei Minuten später hatten sie den Hafen verlassen und befanden sich auf der Ostsee.
Über das Wasser zogen Nebelbänke, die der starke Suchscheinwerfer der Nautika kaum zu durchdringen vermochte. Sie tauchten urplötzlich auf und zerfaserten beinahe genauso schnell wieder.
Wahrenberg und Wolff standen nebeneinander am Bug. Zum Glück war die See ruhig. Keiner der beiden verspürte große Lust, bei starkem Wellengang einen herrenlosen Kutter in Schlepp zu nehmen. Im Lichtkegel glitzerten Millionen von feinen Tröpfchen. Die nasse Kälte bahnte sich nach und nach einen Weg durch die Anzüge der Männer, so dass sie zu frieren begannen.
Sie kreuzten eine Weile hin und her, als die Claudia 2 plötzlich hinter einer Nebelbank auftauchte.
Wahrenberg winkte zu Asmussen herüber, der das Boot führte. Doch er hatte den Kutter im selben Augenblick bemerkt und drosselte den Motor. „Verdammt, der Kahn hat sich gar nicht losgerissen, der scheint da zu ankern.“ Der Rest von Asmussens Worten ging in unbeherrschten Flüchen und in den Geräuschen des Dieselmotors unter.
Wahrenbergs Blick fiel auf die heruntergelassene Ankerkette der Claudia 2 und das erste Mal in dieser Nacht beschlich ihn so etwas wie ein ungute Vorahnung.
Mit einem Feingefühl, das man dem kräftigen Asmussen nicht zugetraut hätte, glitt das Rettungsboot an den Kutter heran, bis sich die Seitenwände berührten.
Wahrenberg und Wolff hatten die Leinen bereits vorbereitet und vertäuten die beiden Boote miteinander.
„Dann wollen wir doch mal sehen“, sagte Asmussen und schwang sich über die halbhohe Reling. Mit einem dumpfen Geräusch landete er auf dem Kutter. „Das gibt’s doch nicht“, rief er den beiden anderen kurze Zeit später zu. „Frantzen liegt hier. Der muss total besoffen …“
Asmussen redete nicht weiter und Wahrenberg wusste sofort, dass dies kein gutes Zeichen war. Er folgte seinem Kollegen an Deck.
Asmussen beugte sich in diesem Moment über den am Boden liegenden Körper. „Verdammter Mist“, presste er hervor. „Frantzen ist tot. Seht euch das an. Das gibt’s doch nicht.“
Sofort waren Wahrenberg und Wolff neben ihm. Wahrenberg schob Asmussen beiseite. Sein Blick fiel auf Gernot Frantzen, der auf dem Rücken in seinem eigenen Boot lag.
Er trug noch immer seinen blauen Anzug, so wie man ihn aus der Bankfiliale kannte. Unter seinem geöffneten Jackett hatte sich ein kreisrunder dunkler Fleck ausgebreitet. Neben seinem rechten Fuß lag eine Pistole.
„Erschossen“, murmelte Wolff und bückte sich nach der Waffe.
„Nicht anfassen“, fuhr Wahrenberg ihn an.
Der junge Mann blickte erschrocken auf und hob dann beschwichtigend die Hände.
Wahrenberg schüttelte den Kopf. Frantzen erschossen. Auf seinem eigenen Boot. Der scheinheilige Mistkerl.
Asmussen schob sich seine Mütze in den Nacken und deutete zu Boden. „Ich will verflucht sein, wenn das da nicht die Pistole vom Neubauer ist. Habt ihr nicht gehört, dass man die vorige Woche aus seiner Kneipe geklaut hat? Als er das erzählt hat, dachte ich noch so, dass das bestimmt noch Ärger gibt.“
„Du hast Recht“, sagte Wahrenberg knapp. Sofort kam ihm der Streit in den Sinn, den Frantzen und der Gastwirt schon seit Jahren hatten. Dabei ging es um Frantzens ewige Vorwürfe, dass Neubauer angeblich geschmuggelte Ware ausschenken würde. Mehr als eine anonyme Anzeige war schon bei der Polizei eingegangen, doch hatte man dem Gastwirt nie etwas nachweisen können. Was blieb, war eine offene Feindschaft zwischen den beiden.
„Was machen wir denn jetzt mit ihm?“, unterbrach Wolff seine Gedanken. Der junge Mann kratzte sich aufgeregt am Kinn.
„Was schon?“, gab Asmussen zurück. „Ich gebe einen Funkspruch an die Wasserschutzpolizei raus. Dann geht uns das alles nichts mehr an. Nanu, was hat er denn da?“
Noch ehe Wahrenberg seinen Kollegen davon abhalten konnte, hatte dieser einen runden Gegenstand aus der Brusttasche des Toten gezogen.
„Was ist denn das?“, fragte Wolff, der sich über Asmussens Schulter streckte.
„Ich hab’ doch gesagt, ihr sollt nichts anf…“ Wahrenberg brach den Satz ab, als eine leise Melodie ertönte. Ein Kinderlied, das ihm nur allzu gut bekannt war.
Die Männer sahen auf die Spieluhr in Asmussens geöffneter Hand. „Ein Männlein steht im Walde“, stellte der stämmige Mann fest.
„Macht das aus!“, schrie Wahrenberg in diesem Moment.
Die beiden anderen starrten ihn fragend an.
Wahrenberg sprang dazu, riss Asmussen die Dose aus der Hand und klappte den Deckel zu. Sein Herz raste. Rasch bückte er sich und steckte die Spieluhr zurück in die Jackentasche des Toten.
Asmussen sah Wahrenberg zweifelnd an. „Was ist denn auf einmal mit dir los? Du bist ja kreideweiß.“
Wahrenberg wandte sich ruckartig ab. „Das weiß doch jeder, dass man in einem Mordfall nichts anfassen darf“, rief er, während er zurück an Bord der Nautika sprang. „Wegen der Fingerabdrücke“, brüllte er hinterher.
Asmussen erwiderte nichts. Von Bord der Nautika verständigte er die Polizei und gab ihnen die genauen Koordinaten durch. Wenig später steckte er seinen grauen Kopf wieder aus dem Führerhaus. „Wir können den Kahn zurück schleppen. Die Polizei kommt direkt zum Hafenbüro.“
Die Rückfahrt in den Hafen verlief in eisigem Schweigen, das keiner zu durchbrechen wagte. Wahrenberg fühlte, wie sich etwas Bedrohliches über ihnen ausbreitete.
Die Spieluhr. Das Lied. Das konnte einfach kein Zufall sein.
Seine Gedanken rasten, während sie durch den Nebel hindurch in den Hafen einliefen. Erinnerungen kehrten plötzlich zurück. Erinnerungen, die er über 20 Jahre lang erfolgreich verdrängt hatte. Sie wurden mit einem Mal an die Oberfläche gespült und forderten ihren Tribut.
Wahrenberg war in Gedanken wieder in dem Treppenhaus in der Bahnhofstraße. Der muffige Geruch nach Bohnerwachs. Das schmiedeeiserne Treppengeländer zum ersten Stock hinauf. Die im Laufe der Jahre vergilbte Wohnungstür, vor der er wartete. Auf Frantzen wartete, der sich da drinnen mit einer Frau vergnügte. Wahrenberg rauchte eine Zigarette, als plötzlich Stimmen hinter der Tür laut wurden. Das Geräusch einer Ohrfeige. Das Schluchzen der Frau. Dann wieder wütendes Geschrei. Ein dumpfes Poltern und das Schlimmste: Die furchtbare Stille danach.
Kurz darauf tauchte Frantzen an der Tür auf. Er blutete aus der Nase.
Wahrenberg stürzte an ihm vorbei.
Da lag die Frau im Flur. Auf dem Bauch. Nur halb angezogen. Verschmierter Lippenstift, zerzaustes Haar. Irgendwo lief eine Spieluhr und gab der ganzen Szene eine makabre Note.
„Los, wir verschwinden,“ raunte Frantzen ihm zu. Die Worte drangen kaum an Wahrenbergs Ohren. Nur widerwillig ließ er sich mitzerren. Als sie die Wohnung verließen, kam die Frau noch einmal zu sich. Ihr Blick blieb auf Wahrenberg haften.
„Lauf. Lauf, solange du kannst“, röchelte sie. Dann sackte ihr Kopf vornüber und die Stille kehrte zurück. Am nächsten Tag erfuhren sie aus den Nachrichten, dass die Frau in der Wohnung verstorben war. Die Fahndung wurde nach zwei Tatverdächtigen ausgeschrieben, zu denen es jedoch keine zuverlässige Beschreibung gab. Die Untersuchungen wurden nach acht furchtbaren, endlosen Monaten ergebnislos eingestellt. Zurück blieben die letzten Worte der Frau, die Wahrenberg bis heute beschäftigten.
Er hatte nicht mitbekommen, dass sie längst den Hafen erreicht und Asmussen und Wolff die Boote gesichert hatten.
Asmussen stieß ihn von hinten an. „Alles in Ordnung mit dir, Junge?“
Wahrenberg schreckte hoch. Er zwang sich zu einem Lächeln. „Ja“, brachte er hervor. „Es ist nur … naja, die Sache hat mir doch etwas mehr zugesetzt, als ich dachte.“
Asmussen nickte väterlich und klopfte ihm auf die Schulter. Als der Dienstälteste unter ihnen verständigte er im kleinen Hafenbüro die Polizei und bot sich an, hier auf das Eintreffen der Beamten zu warten.
Wahrenberg und Wolff gingen über den Steg, der auf die Strandpromenade führte.
„Wenn du jetzt nicht allein sein willst…“, setzte der junge Wolff beinahe schüchtern an und beobachtete seinen Kollegen.
Wahrenberg sah auf seine Uhr. Es war mittlerweile kurz nach fünf. An Schlaf war ohnehin nicht mehr zu denken. Er sah den anderen an. „Weißt du was?“, sagte er kurz entschlossen, „ich habe mir seit Jahren eine teure Flasche Wein aufgehoben. Das hier ist zwar kein Anlass zum Feiern, aber ich könnte jetzt gut etwas in der Art vertragen.“
Wolff stimmte zu. Gemeinsam gingen sie den Kiesweg zu Wahrenbergs kleiner Kate hinauf.
„In Neubauers Haut möchte ich nicht stecken“, sagte Wolff, als Wahrenberg die Tür aufschloss. „Der ewige Streit zwischen den beiden und dann die geklaute Pistole…“
Wahrenberg holte die Flasche und zwei Gläser aus dem Schrank und stellte sie auf den Couchtisch. Danach ging er in die Küche, um den Korkenzieher zu suchen.
Wieder musste er an Frantzen denken. Um den war es weiß Gott nicht schade. Sie beide waren jung gewesen damals. Anfang zwanzig. Das ganze Leben noch vor sich. Der Vorfall hatte einen Keil zwischen sie getrieben und sie begannen, sich aus dem Weg zu gehen. Über das Verbrechen hatten sie nie mehr gesprochen. Ja, sie hatten sogar in den letzten Jahren fast gar nicht mehr miteinander geredet. Sie mieden jeglichen Kontakt.
Wahrenberg wusste nicht warum, aber während er den Korkenzieher aus der Schublade nahm, fielen ihm die Worte der Sterbenden wieder ein. Lauf, solange du kannst.
Und plötzlich lag die Lösung vor seinen Augen. Wie ein Blitz durchfuhr sie seinen Körper, so dass er zu zittern begann.
Die Spieluhr. Das Kinderlied.
Die letzten Worte waren eine Warnung gewesen. Nicht für ihn, wie er immer angenommen hatte, sondern für jemanden, der sich die ganze Zeit über im Nebenzimmer aufgehalten hatte.
Wahrenberg ließ die Arme sinken. Der Korkenzieher entglitt seinen Fingern.
Ein leises Pfeifen drang an seine Ohren. Eine wohlbekannte Melodie.
Wie im Traum wandelte Wahrenberg durch den Flur und blieb im Wohnzimmer stehen. „Ein Männlein steht im Walde …“, sagte er trocken.
„… ganz still und stumm“, vollendete Wolff den Satz. Der junge Mann stand Wahrenberg direkt gegenüber. In seinen Händen hielt er ein Springmesser.
„Wie hast du es herausgefunden?“, fragte Wahrenberg.
„Ich war noch zu klein und habe mich nicht getraut, aus dem Zimmer zu kommen. Aber Frantzen hat sein Feuerzeug mit seinen Initialen in der Wohnung verloren. Seitdem bin ich auf der Suche. Nach einigen Jahren, die ich ganz in eurer Nähe verbrachte, war ich mir sicher, dass er einer der beiden Männer war, nach denen damals gesucht wurde.“
Wahrenberg schluckte schwer. „Was wirst du jetzt tun?“
Wolff s Blicke wanderten zwischen Wahrenberg und dem Messer hin und her.
Er musste nichts mehr sagen.
Beinahe erwartungsgemäß war die Seenot-Rettungsleitstelle aus Bremen in der Leitung. Ein Mitarbeiter mit dem Namen Müller meldete einen führerlosen Kutter, der sich offenbar losgerissen hatte und nun auf Höhe der zweiten Sandbank dümpelte.
„In Ordnung“, gab Wahrenberg zurück. „Wir fahren raus.“
„Noch eins“, schob Müller hastig hinterher. Seiner Stimme war anzumerken, dass er unerfahren war. „Die Meldung hat uns anonym erreicht. Ist also möglich, dass an der Sache gar nichts dran ist. Das Boot soll Claudia 2 heißen.“
Wahrenberg legte der Hörer auf. Er kannte den kleinen Fischkutter. Er gehörte Gernot Frantzen. Ausgerechnet.
Er verwarf die Gedanken an den Bootseigner und zog seine Seenotretter-Uniform an, die in einem Spind in der Waschküche hing. Zurück am Telefon, verständigte er Georg Asmussen und Lenard Wolff, seine beiden Kollegen.
Sie trafen sich nur wenige Minuten später am Fischereihafen, wo auch das Rettungsboot lag. Asmussen kam ihm bereits entgegen und fuchtelte mit den Händen. „Die Claudia 2 fehlt tatsächlich. Das kommt davon, wenn Leute wie Frantzen meinen, ein eigenes Boot haben zu wollen. Dafür gibt er am Sonntag einen aus, das steht schon mal fest.“ Damit sprang Asmussen, ein stämmiger Kerl von 52 Jahren an Deck des Rettungsbootes Nautika und startete den Dieselmotor.
Wahrenberg blickte zu einer der Hafenlaternen herüber, die trübe durch die Nebelwand leuchtete. Aus dieser Richtung hatte er Schritte gehört.
Lenard Wolff kam. Der junge blonde Mann mit dem Dreitagebart drückte Wahrenberg kurz die Hand und nickte ihm zu. „Scheiß-Novemberwetter“, sagte er knapp und folgte Asmussen an Deck. Wahrenberg machte die Leinen los. Zwei Minuten später hatten sie den Hafen verlassen und befanden sich auf der Ostsee.
Über das Wasser zogen Nebelbänke, die der starke Suchscheinwerfer der Nautika kaum zu durchdringen vermochte. Sie tauchten urplötzlich auf und zerfaserten beinahe genauso schnell wieder.
Wahrenberg und Wolff standen nebeneinander am Bug. Zum Glück war die See ruhig. Keiner der beiden verspürte große Lust, bei starkem Wellengang einen herrenlosen Kutter in Schlepp zu nehmen. Im Lichtkegel glitzerten Millionen von feinen Tröpfchen. Die nasse Kälte bahnte sich nach und nach einen Weg durch die Anzüge der Männer, so dass sie zu frieren begannen.
Sie kreuzten eine Weile hin und her, als die Claudia 2 plötzlich hinter einer Nebelbank auftauchte.
Wahrenberg winkte zu Asmussen herüber, der das Boot führte. Doch er hatte den Kutter im selben Augenblick bemerkt und drosselte den Motor. „Verdammt, der Kahn hat sich gar nicht losgerissen, der scheint da zu ankern.“ Der Rest von Asmussens Worten ging in unbeherrschten Flüchen und in den Geräuschen des Dieselmotors unter.
Wahrenbergs Blick fiel auf die heruntergelassene Ankerkette der Claudia 2 und das erste Mal in dieser Nacht beschlich ihn so etwas wie ein ungute Vorahnung.
Mit einem Feingefühl, das man dem kräftigen Asmussen nicht zugetraut hätte, glitt das Rettungsboot an den Kutter heran, bis sich die Seitenwände berührten.
Wahrenberg und Wolff hatten die Leinen bereits vorbereitet und vertäuten die beiden Boote miteinander.
„Dann wollen wir doch mal sehen“, sagte Asmussen und schwang sich über die halbhohe Reling. Mit einem dumpfen Geräusch landete er auf dem Kutter. „Das gibt’s doch nicht“, rief er den beiden anderen kurze Zeit später zu. „Frantzen liegt hier. Der muss total besoffen …“
Asmussen redete nicht weiter und Wahrenberg wusste sofort, dass dies kein gutes Zeichen war. Er folgte seinem Kollegen an Deck.
Asmussen beugte sich in diesem Moment über den am Boden liegenden Körper. „Verdammter Mist“, presste er hervor. „Frantzen ist tot. Seht euch das an. Das gibt’s doch nicht.“
Sofort waren Wahrenberg und Wolff neben ihm. Wahrenberg schob Asmussen beiseite. Sein Blick fiel auf Gernot Frantzen, der auf dem Rücken in seinem eigenen Boot lag.
Er trug noch immer seinen blauen Anzug, so wie man ihn aus der Bankfiliale kannte. Unter seinem geöffneten Jackett hatte sich ein kreisrunder dunkler Fleck ausgebreitet. Neben seinem rechten Fuß lag eine Pistole.
„Erschossen“, murmelte Wolff und bückte sich nach der Waffe.
„Nicht anfassen“, fuhr Wahrenberg ihn an.
Der junge Mann blickte erschrocken auf und hob dann beschwichtigend die Hände.
Wahrenberg schüttelte den Kopf. Frantzen erschossen. Auf seinem eigenen Boot. Der scheinheilige Mistkerl.
Asmussen schob sich seine Mütze in den Nacken und deutete zu Boden. „Ich will verflucht sein, wenn das da nicht die Pistole vom Neubauer ist. Habt ihr nicht gehört, dass man die vorige Woche aus seiner Kneipe geklaut hat? Als er das erzählt hat, dachte ich noch so, dass das bestimmt noch Ärger gibt.“
„Du hast Recht“, sagte Wahrenberg knapp. Sofort kam ihm der Streit in den Sinn, den Frantzen und der Gastwirt schon seit Jahren hatten. Dabei ging es um Frantzens ewige Vorwürfe, dass Neubauer angeblich geschmuggelte Ware ausschenken würde. Mehr als eine anonyme Anzeige war schon bei der Polizei eingegangen, doch hatte man dem Gastwirt nie etwas nachweisen können. Was blieb, war eine offene Feindschaft zwischen den beiden.
„Was machen wir denn jetzt mit ihm?“, unterbrach Wolff seine Gedanken. Der junge Mann kratzte sich aufgeregt am Kinn.
„Was schon?“, gab Asmussen zurück. „Ich gebe einen Funkspruch an die Wasserschutzpolizei raus. Dann geht uns das alles nichts mehr an. Nanu, was hat er denn da?“
Noch ehe Wahrenberg seinen Kollegen davon abhalten konnte, hatte dieser einen runden Gegenstand aus der Brusttasche des Toten gezogen.
„Was ist denn das?“, fragte Wolff, der sich über Asmussens Schulter streckte.
„Ich hab’ doch gesagt, ihr sollt nichts anf…“ Wahrenberg brach den Satz ab, als eine leise Melodie ertönte. Ein Kinderlied, das ihm nur allzu gut bekannt war.
Die Männer sahen auf die Spieluhr in Asmussens geöffneter Hand. „Ein Männlein steht im Walde“, stellte der stämmige Mann fest.
„Macht das aus!“, schrie Wahrenberg in diesem Moment.
Die beiden anderen starrten ihn fragend an.
Wahrenberg sprang dazu, riss Asmussen die Dose aus der Hand und klappte den Deckel zu. Sein Herz raste. Rasch bückte er sich und steckte die Spieluhr zurück in die Jackentasche des Toten.
Asmussen sah Wahrenberg zweifelnd an. „Was ist denn auf einmal mit dir los? Du bist ja kreideweiß.“
Wahrenberg wandte sich ruckartig ab. „Das weiß doch jeder, dass man in einem Mordfall nichts anfassen darf“, rief er, während er zurück an Bord der Nautika sprang. „Wegen der Fingerabdrücke“, brüllte er hinterher.
Asmussen erwiderte nichts. Von Bord der Nautika verständigte er die Polizei und gab ihnen die genauen Koordinaten durch. Wenig später steckte er seinen grauen Kopf wieder aus dem Führerhaus. „Wir können den Kahn zurück schleppen. Die Polizei kommt direkt zum Hafenbüro.“
Die Rückfahrt in den Hafen verlief in eisigem Schweigen, das keiner zu durchbrechen wagte. Wahrenberg fühlte, wie sich etwas Bedrohliches über ihnen ausbreitete.
Die Spieluhr. Das Lied. Das konnte einfach kein Zufall sein.
Seine Gedanken rasten, während sie durch den Nebel hindurch in den Hafen einliefen. Erinnerungen kehrten plötzlich zurück. Erinnerungen, die er über 20 Jahre lang erfolgreich verdrängt hatte. Sie wurden mit einem Mal an die Oberfläche gespült und forderten ihren Tribut.
Wahrenberg war in Gedanken wieder in dem Treppenhaus in der Bahnhofstraße. Der muffige Geruch nach Bohnerwachs. Das schmiedeeiserne Treppengeländer zum ersten Stock hinauf. Die im Laufe der Jahre vergilbte Wohnungstür, vor der er wartete. Auf Frantzen wartete, der sich da drinnen mit einer Frau vergnügte. Wahrenberg rauchte eine Zigarette, als plötzlich Stimmen hinter der Tür laut wurden. Das Geräusch einer Ohrfeige. Das Schluchzen der Frau. Dann wieder wütendes Geschrei. Ein dumpfes Poltern und das Schlimmste: Die furchtbare Stille danach.
Kurz darauf tauchte Frantzen an der Tür auf. Er blutete aus der Nase.
Wahrenberg stürzte an ihm vorbei.
Da lag die Frau im Flur. Auf dem Bauch. Nur halb angezogen. Verschmierter Lippenstift, zerzaustes Haar. Irgendwo lief eine Spieluhr und gab der ganzen Szene eine makabre Note.
„Los, wir verschwinden,“ raunte Frantzen ihm zu. Die Worte drangen kaum an Wahrenbergs Ohren. Nur widerwillig ließ er sich mitzerren. Als sie die Wohnung verließen, kam die Frau noch einmal zu sich. Ihr Blick blieb auf Wahrenberg haften.
„Lauf. Lauf, solange du kannst“, röchelte sie. Dann sackte ihr Kopf vornüber und die Stille kehrte zurück. Am nächsten Tag erfuhren sie aus den Nachrichten, dass die Frau in der Wohnung verstorben war. Die Fahndung wurde nach zwei Tatverdächtigen ausgeschrieben, zu denen es jedoch keine zuverlässige Beschreibung gab. Die Untersuchungen wurden nach acht furchtbaren, endlosen Monaten ergebnislos eingestellt. Zurück blieben die letzten Worte der Frau, die Wahrenberg bis heute beschäftigten.
Er hatte nicht mitbekommen, dass sie längst den Hafen erreicht und Asmussen und Wolff die Boote gesichert hatten.
Asmussen stieß ihn von hinten an. „Alles in Ordnung mit dir, Junge?“
Wahrenberg schreckte hoch. Er zwang sich zu einem Lächeln. „Ja“, brachte er hervor. „Es ist nur … naja, die Sache hat mir doch etwas mehr zugesetzt, als ich dachte.“
Asmussen nickte väterlich und klopfte ihm auf die Schulter. Als der Dienstälteste unter ihnen verständigte er im kleinen Hafenbüro die Polizei und bot sich an, hier auf das Eintreffen der Beamten zu warten.
Wahrenberg und Wolff gingen über den Steg, der auf die Strandpromenade führte.
„Wenn du jetzt nicht allein sein willst…“, setzte der junge Wolff beinahe schüchtern an und beobachtete seinen Kollegen.
Wahrenberg sah auf seine Uhr. Es war mittlerweile kurz nach fünf. An Schlaf war ohnehin nicht mehr zu denken. Er sah den anderen an. „Weißt du was?“, sagte er kurz entschlossen, „ich habe mir seit Jahren eine teure Flasche Wein aufgehoben. Das hier ist zwar kein Anlass zum Feiern, aber ich könnte jetzt gut etwas in der Art vertragen.“
Wolff stimmte zu. Gemeinsam gingen sie den Kiesweg zu Wahrenbergs kleiner Kate hinauf.
„In Neubauers Haut möchte ich nicht stecken“, sagte Wolff, als Wahrenberg die Tür aufschloss. „Der ewige Streit zwischen den beiden und dann die geklaute Pistole…“
Wahrenberg holte die Flasche und zwei Gläser aus dem Schrank und stellte sie auf den Couchtisch. Danach ging er in die Küche, um den Korkenzieher zu suchen.
Wieder musste er an Frantzen denken. Um den war es weiß Gott nicht schade. Sie beide waren jung gewesen damals. Anfang zwanzig. Das ganze Leben noch vor sich. Der Vorfall hatte einen Keil zwischen sie getrieben und sie begannen, sich aus dem Weg zu gehen. Über das Verbrechen hatten sie nie mehr gesprochen. Ja, sie hatten sogar in den letzten Jahren fast gar nicht mehr miteinander geredet. Sie mieden jeglichen Kontakt.
Wahrenberg wusste nicht warum, aber während er den Korkenzieher aus der Schublade nahm, fielen ihm die Worte der Sterbenden wieder ein. Lauf, solange du kannst.
Und plötzlich lag die Lösung vor seinen Augen. Wie ein Blitz durchfuhr sie seinen Körper, so dass er zu zittern begann.
Die Spieluhr. Das Kinderlied.
Die letzten Worte waren eine Warnung gewesen. Nicht für ihn, wie er immer angenommen hatte, sondern für jemanden, der sich die ganze Zeit über im Nebenzimmer aufgehalten hatte.
Wahrenberg ließ die Arme sinken. Der Korkenzieher entglitt seinen Fingern.
Ein leises Pfeifen drang an seine Ohren. Eine wohlbekannte Melodie.
Wie im Traum wandelte Wahrenberg durch den Flur und blieb im Wohnzimmer stehen. „Ein Männlein steht im Walde …“, sagte er trocken.
„… ganz still und stumm“, vollendete Wolff den Satz. Der junge Mann stand Wahrenberg direkt gegenüber. In seinen Händen hielt er ein Springmesser.
„Wie hast du es herausgefunden?“, fragte Wahrenberg.
„Ich war noch zu klein und habe mich nicht getraut, aus dem Zimmer zu kommen. Aber Frantzen hat sein Feuerzeug mit seinen Initialen in der Wohnung verloren. Seitdem bin ich auf der Suche. Nach einigen Jahren, die ich ganz in eurer Nähe verbrachte, war ich mir sicher, dass er einer der beiden Männer war, nach denen damals gesucht wurde.“
Wahrenberg schluckte schwer. „Was wirst du jetzt tun?“
Wolff s Blicke wanderten zwischen Wahrenberg und dem Messer hin und her.
Er musste nichts mehr sagen.