(peinlicher!) Versuch eines Betrunkenen.

4,30 Stern(e) 10 Bewertungen

nachtsicht

Mitglied
Es ist immer das gleiche. Ich wache irgendwo auf und weiss es: Nicht geschafft. So wie ich aussehe, wars knapp. Überall Kotze, ein bisschen schwarzgetrocknetes Blut, alles stinkt nach Urin. Vor mir an der Klotür, steht so Scheisse wie überall. "Träume nicht dein Leben, lebe deinen Traum", "T liebt J" und der ganze Dreck. Selbst im Gästebuch vom Buchenwald- KZs hab ich vor ein paar Jahren sowas schon gelesen, da wurde mir so schlecht, dass ich mich am liebsten in einen Verbrennungsofen gelegt hätte, aber wir mussten los, die Züge warten ja nicht. Garnicht lange her, da fand ich mich auch wieder, am Ende einer Nacht, zwei leere Flaschen des brennensten Wodkas auf den Fliesen, mein von Bakterien zerfressener, widerwärtiger Körper dazwischen, und da dachte ich, nein, sowas machst du nicht noch mal, fast entsetzt, ich bin wie ein Aufgestandener herumgerannt, nachdem ich mich ja selbst ans Kreuz nageln wollte. Würde ich jetzt einfach liegen bleiben, dann kämen irgendwann Leute, vielleicht so eine kakerlakike Eineuro-Wischfrau, und würde die ganze Szene vielleicht für einen Unfall halten, und dann hätte sie die 112 angerufen, oder vorher bei der Feldbusch nach der Nummer fragen müssen. Ich hätte mich nicht um Erklärungen bemüht, im Krankenhaus. Pumpt meinen Magen aus, oder schafft mich in die Ausnüchterungszelle, in der neulich mal jemand gestorben ist, ein Schwarzer. Hatte ein Feuerzeug dabei, das wurde ihm nicht abgenommen, also: aufgerissene Matratze, auf der man dann angekettet ist, anzünden und alles leuchtet. Auch die Zigarette von dem Wichser, der draussen raucht, statt vorschriftsgemäß die Zelle per Videokamera zu überwachen. Er hat einen Nigger mit dem Tod begnadigt, und dann wurde er im Gefängnis gefickt, bis ihm das Hetero-Sperma aus den Augen kam. Ich glaube, die meisten von den Typen im Knast, die alles ficken, sind garnicht schwul. Ein Vegetarier wird nicht verhungern, wenn man ihn tagelang einsperrt in einem Raum mit einem (bis dahin) lebenden Schwein. Er wird es fressen, während das Vieh quiekt, und übrig bleiben nur ein Haufen Menschenscheisse und ein paar Knochen.

Gehirnfasching hiess das früher, wenn sich alles dreht. Nach dreißig Runden auf nem Karusell ist einem das aber auch verdammt egal und deshalb stört mich das kaum, weil ich mich sozusagen nicht gerade in einer Ausnahmesituation befinde, hier auf dem Boden, in der verschissensten Bahnhofstoilette die man sich vorstellen kann. Fehlt nur noch Musik von Wagner, die hat Hitler so gern gehabt, wegen de Dramatik. Statt dessen Stille, nur der Ich-Erzähler in meinem Kopf, dessen Vertrag ich nicht kündigen kann. Zweimal mit dem Hinterschädel gegen die Keramik-Schüssel. Dreimal. Viermal. Hilft nicht, tut aber gut, eine Portion selbstmitleidiger Zerstörungsversuche. Ich stinke zwar, ewig kann ich trotzdem nicht hier bleiben, das Leben geht weiter, ich krieche notgedrungen mit wie ein Insekt, das einen minutenlang nervt, und das man dann nicht einfach totschlägt, sondern dem man viel lieber nen Flügel herausreisst. Mengele-like. Und dann krüppelt das Ding, und irgendwann eben nicht mehr, und dann lässt man es liegen. Ich hasse ja die Leute, die ritzen. Weil das so unernst ist, fast so erbärmlich wie meine Art, mit den Geschehnissen umzugehen, oder sie zu umgehen. Man bräuchte eben Mut, und ich kann nicht schnell genug trinken. Es geht nicht. Schnell schnell runter damit, und wenn man dann denkt, ja, los, jetzt gehts ab(wärts), dann checkt man nichts mehr und fällt um und einem garnicht mehr ein, dass man getrunken hat um etwas zu erledigen Das eigene Leben nämlich.

Mühsam aufgerappelt, keineswegs aufgepeppelt stehe ich da, Griff nach der Türklinke, einmal daneben, dann geht sie auf und ich raus aus der Kabine. Klingt nach Schiff, stinkt nach Schiffe. Muss von aussen so aussehen als würde ich auf beiden Beinen humpeln, wie dieses biologische Abfallprodukt, klarer Fall: grüner Punkt, nach draussen geht, und es ist doch schon irgendwie morgentlich. Diese Klarheit, die noch nicht veratmet wurde von den vielen gut programmierten Maschinen. Ich wäre auch gern eine, hat nicht funktioniert bei, Fehler, ich hätte alles dafür getan, nicht nachzudenken zu müssen, oder es richtig zu können, so, dass die Schlussfolgerung kein bloßes NEIN ist. Punk minus alles. Ohne Gemeinschaftsgefühl, ohne Meinung, keine Demonstration, ausser der, dass es auch Menschen gibt, die Hass wirklich verdient haben. Also, vor mir Bahngleise. Ich werfe mich vor einen Zug, aber er kommt nicht.

Wenn ichs nicht aufgesetzt fände zu heulen, dann könnte man mich vielleicht jetzt sehen, wie ich geschlagen, aber noch nicht tot, so wie die Fliege ohne Flügel, alles versuche, was ich kann, und das ist verdammt nochmal bestimmt nicht viel. Und dass ich in so nem Zustand sogar noch an das Wort "Konjunktiv" denke, dass ich vielleicht mehr "gekonnt hätte", das ist wirklich unrühmlich. "Meine" Frau kommt mir ins Bewusstsein, Jasmin. Hätte alles getan, um sie glücklicher zu machen. Ging nicht. Sie war die einzige, die ich jemals. Aber naja, sie hat immer noch an jemand anderen gedacht. Und sowas sieht man halt. Aber drauf geschissen, auf Langweilerstories beim Kaffeetrinken ohne Ralf Morgenstern ("Blond am Freitag"), dafür mit dem Verderben. Fuck, ich rede mich immer weiter rein in die Gewöhnlichkeit. Weg damit. Etwas besonderes muss man wenigstens sein, egal ob besonders widerlich oder was anderes. Anthony Robbins, der erfolgreichste Personal Coach, dem Agassi die Zurückeroberung der Weltspitze und Michel Crichton das Buch "Jurassic Park" zu verdanken hat, der hat mal gesagt, dass der Wunsch, etwas Besonderes, jemand von Bedeutung zu sein, eines der sechs menschlichen Grundbedürfnisse ist, neben Liebe, Wachstum, Sicherheit, Abwechslung und gesellschaftlichem Beitrag. Bei allen Punkten habe ich versagt. Ein Vater, der sein Kind ins Heim gibt. Ein Mensch, der sein einziges Versprechen bricht. Ein Unmensch, überflüssige Ressourcenvernichtung.

Viele gebildete Menschen neigen zur Fremdanekdotenerzählung, zum Zitieren, weil sie eingesehen haben: einige haben Dinge besser gemacht, als man es jemals könnten. Ich neige nur dazu, weil ich selbst nichts erlebe. Blick in den Spiegel der nullten Dimension. Wenn jemand diesen Scheiss, den ich denke, hören könnte, ich würde mich schämen für alles pseudointellektuelle, und dafür, dass ich das Wort pseudo tatsächlich benutzt habe, und intellektuell im Zusammenhang mit mir. Meine Augen sind nass. Keine Tränen, nur Wasser. Zwei Euro in der Tasche gefunden, ein Automat mit Erdnüssen und zum Glück auch Bierdosen. Rein, drücken, rausnehmen, schlucken.

Das Grausamste ist wohl, weder Mut zum Ertragen zu haben, noch den zum logischen Nichtertragenmüssen. Schwebend unwirksames Dasein, quälend wirksam. Die Bierdose sorgfältig im Mülleimer entsorgen. Weg gehen, den Weg gehen durch die Stadt. Mehrere Aktentaschen, befestigt an Krallen, mehrere Köpfe, befestigt an gierigen Hälsen, laufen mit gewissenhafter Entfernung an mir vorbei. Ihre Bahnschienen sind unsichtbar. Vielleicht um fünf oder um sechs. Sogar noch ein paar Nutten auf der Straße, sie kennen mich, oder ich sie wenigstens. Jaqueline fickt am besten, sie schaut nicht an die Uhr, im Hotelzimmer, sie bewegt sich nicht wie Pinochio und sie schluckt. Kein Geld mehr dabei, wir sehen uns später Jaqueline, grüß deine Kinder und deinen Mann, vielleicht kommt ein Neger vorbei mit einem Riesenschwanz.

Meine Halswirbelsäule beugt sich nach oben (grauer Himmel), dann nach unten (tote Zigarettenleichen). Der Betrunkene neigt zu Pathos. Ich gehe weiter, und dann verschwimmt wieder alles und brennt, wie beim Tauchen im Chlorbecken. Wenn Jasmin bei mir wäre, dann wäre der Kummer woanders und ich wahrscheinlich auch. Bei ihr, und ich würde sie zudecken, und küssen, und ihr Dinge ins Ohr flüstern, die man garnicht gewohnt sein kann von so einem Wicher, und sie würde im Halbschlaf ihre Mundwinkel nach oben ziehen. Ich würde stöhnen wie ein Schwein, das vom Schlachtband abspringt, und dann würde ich neben ihr schlafen. Letztlich kann man alles auf die Gefühle schieben, sie liegen als Fundament unter der Ratio, sie sind alles. Sie sind alles was mir fehlt.

Wenn ich mir vostelle, dass alle Knochen in mir in etwa gleichzeitig brechen, und ich zusammenfalle wie das World Trade Center, dann bin ich endlich nackt am FKK vor Gott, die Gesetze für Hundebesitzer schreiben das Entfernen der Häufchen vor, und um mich kümmert sich der Wind.

[Dies ist alles nur ein Test: mit vorsätzlich deutlich über einem Promille erhofft sich der Schreiber später Klarheit über die Leistungsfähigkeit des "Verstandes" unterm Einfluss des Neuronenkrieges.]
 
H

Henry Lehmann

Gast
Hallo Nachtsicht,

ein erstklassiger Text, hat Spaß gemacht zu lesen! Ein gekonntes Spiel mit Tabus, ein dreckiger Gedankenstrom vom Feinsten. Perfekt zusammengesetzt und zum Kunstwerk erhoben.

Wenn sich der Kater verzogen hat, geh doch noch mal durch den Text und hol die Flüchtigkeitsfehler raus!

LG Henry
 

nachtsicht

Mitglied
Hi Henry,

habe das ganze nun nochmal durchgelesen, die Fehler sind nicht in der Überzahl, und weil das ja auch den Anspruch hatte, ein Test unter Alkoholeinfluss zu sein, lass ich die Unreinheiten einfach mal drin. Ist ja sonst Betrug. Danke für deine Worte.

Nachtsicht
 
X

xzar

Gast
hi nachtsicht,

bisher hab ich dich hier gar nicht bemerkt - ein schlimmes versäumnis. bei deinem text dachte ich mir: endlich wieder ein text, der was neues bringt, der nicht alle bereits tausendmal abgelutschten sätze noch einmal in den mund nimmt und daran herumzuzelt. und noch dazu ist dein text sehr angenehm zu lesen. er legt sich förmlich ins hirn, man muss die sätze nicht ins ohr zwingen, sie schmiegen sich rein. witzig obendrein.

vielleicht solltest du öfter beim trinken schreiben. oder beim schreiben trinken.

lg
co
 

Wolkenreiter

Mitglied
Hallo Nachtsicht

Einer der besten und kraftvollsten Texte die ich in den letzten Wochen hier gelesen habe - eine rundum gelungene Sache. Die Sprache ist hart und beschreibt die Scheißhärte des Lebens, aber nicht nur: Der Text ist vielschichtig und Du nimmst so ganz locker und wie nebenbei Bezug zu allem Möglichen. Das wirkt dann alles wie aus einem Guss, in sich stimmig und ist, ja ich schreibe es hier ganz groß: GRANDIOS!, wie ich finde. Mein Kompliment.

LG, Wolkenreiter
 

Nicolas

Mitglied
Klasse.

Sehr schön zu lesen.
Zwar wirken ein paar Worte oder Szenen für meinen Geschmack ein bisschen aufgesetzt bzw. zu dick aufgetragen, aber das relativiert sich im Text ("ich würde mich schämen für alles pseudointellektuelle, und dafür, dass ich das Wort pseudo tatsächlich benutzt habe, und intellektuell im Zusammenhang mit mir").

Interessant und gelungen finde ich vor allem die Passagen, die sich ein bisschen stilisiert/poetisiert geben. (Ab Ende des zweiten Absatzes ungefähr.)

Nicolas
 

nachtsicht

Mitglied
Hi Kommentateure,

vielen Dank für eure Meinungen.
@Nicolas: ja, stimmt, es relativiert sich. Nur: ist das nicht eigentlich ein bisschen zu einfach, den Kopf immer aus der Schlinge zu halten, nur indem man sich selbst kritisiert?

An alle anderen: Es ist so dass ich bisher sehr wenige Dinge geschrieben habe, und vor einem halben oder dreiviertel Jahr anfing. Im Grunde fehlt mir die Motivation, es öfters zu tun, weil es mir bislang aussichtslos vorkam. Da der Text ja fast keine Handlung hat, kann die also auch nicht beeindruckt haben, zurück bleiben Sprache, Bilder, Gedanken. Wenn ich nun hier lese, dass mein Geschichtchen größeren Anklang findet, dann stellt sich mir stets die Frage: könnte ich vielleicht ETWAS daraus machen, aus meinem Schreiben, und wenn ja was überhaupt? Das Business ist hart, hört man überall. Deshalb:

hätte Nachtsicht nach eurer Einschätzung halbwegs reale Chancen, durch sein Schreiben Geld zu verdienen, wenn er genug dafür übt?

Vielleicht denkt ihr jetzt: da sagt man ein mal was nettes und schon will der einem ein Buch andrehen. Ja so ist es.

Grüße.
 
H

Henry Lehmann

Gast
Hallo Nachtsicht,

wenn Du so einen Text auch ohne Alkoholstimulanz hinbekommst und dazu noch eine Handlung, einen Helden und ein wenig Spannung und Witz hinzufügst, hast Du schon mal einen Käufer für Dein Buch!

LG

Henry
 
D

Denschie

Gast
hallo nachtsicht,
der text ist recht schmissig, aber wie es mit dem
geldverdienen damit aussieht, weiß ich nicht.
so liest er sich wie eine freie assoziationskette.
man kennt das. fängt an zu schreiben und kommt von
höckschen auf stöckschen. selbstironisch, schnodderig
usw. das ist als artikel im wochenendteil der zeitung
unterhaltsam. frühstückslektüre. aber mehr meiner
meinung nach auch nicht.
um mich wirklich zu fesseln bräuchte es mehr herz.
einige tabubrüche in deiner story sind nämlich nicht
nur das, sondern reichlich geschmacklos. nichts zum
mehrfachen lesen. spätestens dann fallen die schwächen
des textes auf.
viele grüße,
denschie
 
X

xzar

Gast
hi,

denke auch, dass du am boden bleiben solltest. dein text gefällt mir sehr gut, keine frage. arbeit weiter, schreib fleissig.
 
H

Henry Lehmann

Gast
Ursprünglich veröffentlicht von xzar
hi,

denke auch, dass du am boden bleiben solltest. dein text gefällt mir sehr gut, keine frage. arbeit weiter, schreib fleissig.
Ich fass es nicht, geht es noch peinlicher? Der väterliche Rat eines Jungspundes: Schreib schön fleißig, bis ich dir sage, dass du es mal versuchen könntest!

Bloß nicht jemanden zu etwas ermuntern, was man selber gerne erreichen würde.

Henry
 
X

xzar

Gast
hi,
so hatte ich es nicht gemeint. sorry falls du es falsch verstanden hast. ich sprech dir deine chancen in keinem fall ab. deswegen sag ich ja: schreib weiter. das war eine aufmunterung.

lg
co
 
D

Dominik Klama

Gast
Ja, da würde ich gerne mal wissen, wo der sich mittlerweile rumtreibt. Ein halbes Jahr lang hat er Texte in die Leselupe eingestellt - und das ist jetzt schon viele Jahre her. Er sagt zwar, es fehlt ihm die richtige Motivation, viel Energie in schreiberische Arbeit zu stecken, aber man glaubt, wenn man diesen Text gelesen hat, nicht, dass das einer ist, der irgendwann mal komplett aufhört. Der tut das mittlerweile anderswo und vielleicht in anderen Formen. Und ich würde halt gern wissen, wo und was.

Es ist schon einigermaßen erstaunlich, dass in der LL eine Arbeit, in der "Kotze" und "in den Arsch gefickt" und "Nigger" vorkommen und die nicht bei Erotik erschienen ist, erstens überhaupt kommentiert und bewertet wurde, zweitens dies ziemlich oft und drittens durch die Bank sehr wohlwollend, ermutigend.

Es war sein zweitletzter Text. Dann hat er noch einen eingestellt, der weniger rüpelhaft auftrat, den hat noch nie einer kommentiert. Das war's, dann ist er gegangen.

Er fragt: "Was glaubt ihr, könnte Nachtschicht das Zeug dazu haben, Texte zu produzieren, die so gekonnt sind, dass man damit Geld verdienen kann?"

Solche Erwartungen kenne ich von mir selber, wenn man ein halbes Jahr in so einem Forum drin ist. Viel zu spät will ich ihm eine eindeutige Antwort geben:

"Vergiss es!"

Nämlich kann sein, dass ein paar Leute finden, was du schreibst, sei geschmacklos oder vielleicht schreibtechnisch stümperhaft. Kann aber auch sein, dass die Mehrheit, deiner LL-Echos dir sagt, dass du was drauf hast, dass sie sich wirklich gefreut haben, weil du so anders schreibst als die meisten.

Aber auch die würden niemals in den Buchladen gehen und ein kartoniertes 220-Seiten-Buch von dir bestellen, was dann 15,99 € kostet und weder auf der Spiegelbestsellerliste steht noch im FAZ-Feuilleton besprochen wurde. Kein Buch, das aus lauter solchen Texten besteht. Schon wahr, die lesen das gern im Internet, so mal ab und an, zwischendurch, das war's dann aber.

Das muss dich zu der Erkenntnis führen, dass dir es genügt, dass du niemals, wirklich niemals von deinem Schreiben leben wirst, dass du aber immerhin gelesen und von einigen Leuten ernst genommen wirst. Oder du kannst sogar zu dem Schluss kommen, dass dir auch dies eigentlich egal ist, dass es dir letztlich nur darum geht, sprachlich was zu machen, was irgendwo deinen eigenen Ansprüchen genügt, egal, ob sich irgendwer sonst noch drum kümmert.

Kürzlich fiel mir bei Eckhard Henscheid wieder die Stelle in die Hand, wo er sagt, dass von den deutschen Autoren nur fünf Prozent ein Leben über die Einnahmen aus ihren Werken fristen können. Er übrigens durchaus, sagt er. Aber das muss gar nicht Henscheid sein, solche Zahlen kriegst du in etwa dieser Größenordnung öfter zu hören.

Man muss dann mal kapieren, dass nicht jeder Lance Armstrong sein kann. Es scheint unumgänglich zu sein, dass es die anderen 95 Prozent auch noch gibt. Wenn man einer von denen ist, muss man irgendwann seinen Frieden damit machen, dass man, was immer man auch probieren und wie viel man auch an sich feilen mag, niemals ganz nach oben kommen kann. Und mittlerweile stellt sich ja sogar die Frage, wer Lance Armstrong geworden wäre, wenn er nicht geschummelt hätte.

Bei den fünf Prozent von Henscheid ging es allerdings nur um solche Autoren, die direkt aus ihren Buchverkäufen oder Inszenierungshonoraren existieren können. Da kommt schon noch ein weiterer Kreis dazu, welcher über Zeitungsartikel, Lesungen, Preisgelder, Übersetzungen, diesen ganzen Mix, den es da theoretisch noch gäbe, seine Existenzgrundlage findet. Allerdings ist meist das eine ans andere gekoppelt. Wenn niemand deine Bücher kauft, zahlen dir auch keine Feuilletons Honorare, damit du was über Wolfgang Hohlbein oder Martin Walser schreibst. Laden dich keine philosophischen Fakultäten ein, damit du Vorträge über "Moderne Ich-Entzifferung per Autorschaft" hältst.

Ich würde einfach mal davon ausgehen, dass es in aller Regel so ist, dass die Verlage keine Bücher herausbringen von noch nie gedruckten Autoren, deren Manuskripte ihnen unverlangt eingesandt wurden, die sie dann gelesen und für toll befunden haben. So was passiert praktisch nie. Wer sein Zeug so herumschickt, sollte davon ausgehen, dass es nicht gelesen wird, bzw. dass drei Absätze an drei unterschiedlichen Stellen im Buch gelesen werden, was dann dazu führt, dass sie zum Schluss gelangen, auch dies passe leider nicht in ihr Programm.

Was gedruckt wird, ist, was irgendwie schon bekannt ist. Solltest du jemals so bekannt werden wie Patrick Süskind, kannst du zehn Jahre später den letzten Dreck schreiben und irgendein Verlag wird sich auftreiben lassen, der dir das abnimmt. Solltest du auf Nummer 1 der Bestsellerliste in Neuseeland stehen und keiner in Deutschland hat je was von dir gelesen, besteht eine gewisse Chance, dass sich das bald mal ändert. Solltest du ein Talkshowmoderator sein und jetzt eine Studie über Heidegger auf der Pfanne haben, dürfte irgendwer das ganz witzig finden. Solltest du ein paar Mal Cocktails mit Dennis Scheck an der Bar vom Maritim-Hotel geschlüft haben und es dir gelungen sein, den dazu zu bringen, dass er erstens deine Jugenderinnerungen gelesen und zweitens dann auch noch paar Kritkerkollegen und paar Lektoren geflüstert hat, dass sie umwerfend unterhaltsam sind, dann stehen deine Chancen so übel nicht mehr. Ein Forum, wo man versuchen kann, in diese Richtung zu gelangen, sind literarische Wettbewerbe. Es gibt solche, wo tatsächlich Verlagsmenschen aufpassen, ob sich dort was Interessantes auftun lässt.

Ansonsten kannst du es vergessen, die Welt davon zu überzeugen, dass deine Arbeiten wirklich gut sind, wenn du der einzige bist, der ihr das sagt. Das sagt nämlich jeder, der was geschrieben hat. Das wissen die auch schon. Darum ist dieses System, was die Amerikaner haben, gar nicht unproduktiv. Da haben die Schriftsteller ihre Agenten. Du bist ein Künstler und wurstelst so vor dich hin. Und der Agent ist ein Verkäufer und überlegt sich ein Marketing für dich. Wen er wann und mit genau was über oder von dir konfrontieren kann. Problem nur: Diese Agenten musst du bezahlen und die erwarten einen gewissen Lebensstandard, eher einen höheren als Künstler. (Allerdings teilen sich natürlich immer mehrere Künstler in einen Agenten, das macht es einfacher.)

Man muss sich da aber vor einem Missverständnis sowieso hüten. Dass, was gekauft würde, gut wäre, was also gut wäre, auch verkaufbar. Es gibt selbstverständlich Ausnahmen, aber ich würde mal davon ausgehen, welcher Text es tatsächlich erreicht, dass erstens er gedruckt, dann aber zweitens auch noch so oft verkauft wird, dass irgendwer tatsächlich vom Profit leben kann (Autor, Agent, Lektor, Verleger, Sortimenter, Buchhändler), an dem dürfte in aller Regel wirklich was dran sein. Da hat jemand was richtig gemacht, da kann irgendwer was.

Aber es gibt auch Texte, die sind genauso gut und die kannst du nicht profitabel verkaufen. Die Verlage sind geschult darin, so was vorherzusehen, das ist ihr Job. Verlage sind nicht dafür da, die Menschheit mit guten Texten zu versorgen, sondern dafür, Geld für ihre Eigner einzuspielen.

Nicht immer und in jedem Fall, aber doch als so ungefähre Tendenzen lässt sich beobachten:
Das Buch, für das die Leute ihr bares Geld hinlegen, ist eher ein Prosabuch als ein Lyrik- oder Dramatik-Buch.

Ist eher eine ziemlich lange Geschichte (Roman) als eine Sammlung von verschiedenen Kurztexten unterschiedlichen Charakters.

Und in demselben geht es um etwas, das der Leser für Wirklichkeit hält. Was jetzt nicht heißen soll, dass der Leser keine Märchen, Fantasy, SF oder Vampirromane kaufen täte. Der Leser ist schlau genug, dass er weiß, es handelt sich um Gedankenspiele, um Ausgedachtes. Aber er will eben, dass er sich und seine Lebenswelt da irgendwie reinübersetzen kann. Wenn ich ein Vampir wäre und ich eine liebreizende junge Schülerin heiraten wollte, dann... Erzählst du jetzt eine Geschichte, in der ein Vampir eine Rollator schiebende Achtzigjährige heiraten will, meint der Leser, das sei doch Scheiß, das würde nicht stimmen. So was will er nicht lesen und daher kauft er es nicht.

Der Leser will Texte mit Welt und mit Personen. Dein Buch kann in Patagonien oder in Island spielen, aber er will, dass du ihm davon was erzählst. Manche Leute schreiben aber Bücher, da bekommt man den Eindruck, die Autoren hätten von der ganzen Welt noch nie was gesehen außer einer großen Bibliothek von innen. So was wird nicht gekauft. Junge Leute schreiben heute Texte, da bekommt man den Eindruck, sie hätten von der Welt noch nie was anderes gesehen als Hollywoodkino, Musikvideos, Werbespots und Pornofilme. So was wird auch nicht sehr oft verkauft. Und halt sehr viele Schreiber schreiben fast nur über eine Figur, nämlich über sich selber. Die Leute wollen in der Regel aber nicht eine Figur, sondern mehrere. Und die sollen sich voneinander unterscheiden. Erst sollen sie sich unterscheiden, dann sollen sie was miteinander anfangen. Das interessiert die Leute.

Leider, leider interessiert die Leute gar nicht, was wir, die Schreiber, für herrlich komplexe, hoch intelligente, kreative, gefühlsintensive Charaktere sind, wir Autoren. Wir sind das zwar selbstverständlich und daher sehr stolz auf uns und zurecht, aber das ist nicht, was sie lesen wollen.

Und da sind wir bei einem gewissen Problem von dem obigen Text.

Der ist zwar wirklich gekonnt, fantasievoll, unterhaltsam, anregend, ungewöhnlich, aber es ist auch so ein Ich-in-meiner-Nuss-drin-Text. Das liest man durchaus mal gern. Eine Geschchte lang, zwei Geschichten lang, drei Geschichten lang. Aber nicht 120 Seiten oder mehr. Man kann aber nicht davon leben, drei fünfseitige Texte über den Bewusstseinsschmerz, den man in sich hat, irgendwo zu verkaufen.

Allerdings kann man 600 davon über 30 Jahre hinweg in Internetforen einstellen. Irgendwer wird auch die letzte irgendwann klicken. Aber sagte ich ja schon.


Wenn man sich mal umschaut, wer verkauft Bücher damit, dass er sich vornehmlich seiner eigenen Gedanken- und Gefühlswelt widmet, dann findet man nicht viele. Die Leute kaufen Kehlmann-, Süskind-, Grass-, Schulze-Romane um irgendwelche Geschichten über irgendwelche mehreren Personen zu erfahren. Nicht um die Seelenlage der genannten Autoren zu erfahren. Charlotte Roche schreibt über sich. Aber erstens hatte die es einfach, an einen Verlagsvertrag zu kommen, denn sie war ja vor dem Schreiben schon bekannt und beliebt. Und zweitens lesen die Leser nicht die Seelenlage von Roche in dem Buch, sondern ihre eigene.

Kaum irgendwer dürfte in dem obigen Text aber seine eigene Seelenlage lesen. Das heißt, wohl gemerkt!, nicht, dass er schlecht ist. Ich betonte , dass es gute Texte gibt, die sich nicht verkaufen lassen. Und gute, die sich verkaufen lassen.

Einer fällt mir ein, der das begnadet hinbekommen hat, ein Leben lang über fast nur immer sich zu schreiben: Thomas Bernhard. Aber untersucht man den Fall intensiver, stellt man fest, dass er erstens gar nicht wirklich über sich geschrieben hat, sondern über eine Kunstfigur, die er aus seinem wirklichen Selbst heraus stilisiert hat, und dass er in all diesen Büchern eben doch auch viel über anderes als die Erzählerfigur spricht. Er macht das ähnlich wie der obige Text. Er schaut um sich herum und alles ist verlottert und brutal. Das, als extreme Sichtweise auf die Realität, scheint die Leute irgendwie zu interessieren. Aber man muss natürlich auf jeden Fall sagen, dass Bernhard die Regel für nichts ist. Sondern fast singulär. Er hat es mit etwas geschafft, das man schon schreiben kann, mit dem man es sonst aber nicht schafft. (Und es mögen ihn darum auch viele gar nicht.)

Wo ich weitere Probleme des obigen Textes sehe: Wenn Bernhard mir ein düsteres Bild der ihn umgebenden Außenwelt zeichnet, dann glaube ich entweder das, was er schreibt, sei tatsächlich so gewesen, oder ich glaube es ihm nicht, fasse es dafür aber als absichtliche Stilisierung und Übertreibung auf, als Spiel mit der Wirklichkeit, das was über die Einstellungen der Erzählerfigur mitteilt.

Beim obigen Text habe ich da an mancher Stelle meine Zweifel.

Da steht, dass man in der Ausnüchterungszelle an seine Pritsche gekettet wird. Und mir scheint, du willst das nicht als polemischen Fantasieauswuchs eines herumgrantelnden Bernhard-Erzählers verstanden haben. Sondern man soll es glauben. Es ist so, es wurde so gemacht. Das mag ich aber gar nicht glauben. Gibt es tatsächlich Ketten auf Polizeistellen? Na gut, das soll man wohl als Handschellen verstehen, die gibt es. Aber warum werden Betrunkene in doch ausbruchssicheren Ausnüchterungszellen, in denen sie alleine sind, handgefesselt? Weil man das im Kino immer wieder mal so sieht. Ha, das reicht mir als Erklärung aber nicht hin. Nein, weil sie sich sonst was antun könnten in ihrem besoffenen Zorn und ihrer Verzweiflung? Darum werden sie auch videoüberwacht. (Werden sie das übrigens? Die haben da überall in Deutschland das ganze Geld ausgegeben, um in jeglicher Zelle eine kleine Kamera zu installieren und da wurde dann eine Stelle geschaffen und ständig bezahlt, wo einer rund um die Uhr dasitzt und all die abwechselnd geschalteten Videobilder von all den Zellen anschauen muss? Und das ist jetzt nicht irgendwie daten- und individualtitätsschutmäßig verboten, dass man Inhaftierte rund um die Uhr abfilmt? Wenn sie aufs Klos gehen? Wenn sie mal wichsen wollen? Tja, also ich weiß es leider nicht. Du aber.) Aber, warum, wenn man ihnen doch alles abgenommen hat außer dem einen Feuerzeug, was man vergessen hat, die Schnürsenkel bestimmt auch, warum meint man dann, die würden sich was antun? Weil man ihnen noch freundlicherweise eine Schnapsflasche hingestellt hat, schließlich sind sie alkoholabhängig?

Oder, andere Stelle: die 1-€-Putzfrau, welche sich hier offenbar in einer Bahnhofstoilette befindet. Ein Euro, das kann sich doch wohl nur auf die sogenannten 1-€-Jobs nach Hartz IV beziehen. Ansonsten sind mir keine Putzfrauen bekannt, die für einen Euro pro Stunde arbeiten. Putzfrauen verdienen nämlich im Allgemeinen gar nicht so übel, da solltest du dich mal umschauen. Zwar ist das so, dass inzwischen die allermeisten Putzkolonnen von Arbeitnehmerüberlassungen organsiert sind und also hält da immer noch der Personaldienstleister auch die Hand auf, bevor das Geld die Arbeitenden erreicht, aber andererseits ist eben Raumreinigung etwas, was unverzichtbar notwendig und schlecht maschinell ersetzbar ist und was ziemlich viele Leute eher ungern tun als Lebensaufgabe. Was nach den Gesetzen einer Marktwirtschaft, in so einer leben wir, dazu führt, dass solche Leistungen einigermaßen honoriert werden. Zum Vergleich: Literarische Texte werden viel mehr produziert, als die Leute zu brauchen glauben, die werden also viel schlechter honoriert in einer Marktwirtschaft. Es gibt aber diese 1-€-Jobs (wobei erwähnt werden muss, dass die da zuerst mal ihr Hartz IV kriegen und der 1 € obendrauf dann das Taschengeld ist, was sie erhalten, weil sie arbeiten, obwohl sie arbeitslos sind)- und es gibt sogar Putzfrauen im 1-€-Job-Sektor. Die gibt's aber nicht auf Bahnhofs- oder Kaufhaus- oder Finanzamt-Toiletten, weil das nämlich gesetzlich verboten ist. Die DB AG hätte sicher ganz gern so schlanke Personalausgaben, wie man sie mit Hartz-IV-Arbeitern erzielen könnte, darf die aber nicht einsetzen, weil das den Markt kaputt machen würde, nämlich den Zeitarbeitsfirmen-Putzfrauen, die vielleicht 8,20 € in der Stunde erhalten, die Stellen wegnimmt (und den Personalagenturen somit ihren Profit gleich auch noch).

Womit wir dahin gelangen, dass es den Leser schon auch mal sehr freuen kann, wenn einer in seinen Texten gewaltig wütet und das Pathos des Elends wuchern lässt. Aber dennoch verlangt, dass auch dann alles solide und verlässlich gearbeitet ist. Die Verzweiflung so, als habe sie ein Uhrmacher handgefeilt bei jedem einzelnen Zahnrädchen. Und wo das nicht so ist, kann man eher nicht leben davon.
 

Herbstblatt

Mitglied
Hallo nachtsicht,

wenn dies das Ergebnis von gewollt 1,x Promille ist - dann isses gut. Punkt.

Wenn (!) du das erst dreizehn mal verdaut hättest, sähe es sicher anders aus. So aber unterhält der Text. Ich hatte an jedem Punkt das Gefühl - japp, so könnte der Gedankenstrom hüpfen, wenn man schön was drin hat.

Mir hats gefallen. Danke!

LG Herbstblatt
 

DocSchneider

Foren-Redakteur
Teammitglied
Na endlich mal die Wahrheit über das beschissene Leben eines Süchtigen.
Empfehle ich allen Rosamunde-Pilcher-Musikantenstadl-dasLebenistkeinPonyhof-Anhängern.
LG Doc
 



 
Oben Unten