"EXS" - PartII - (Der Wahn geht weiter.)

Markus Veith

Mitglied
Montag, 7. Mai 2001 10 : 15 Uhr
Dieses Standbild zeigt Ernst bei seiner in der Zwischenzeit zur Gewohnheit gewordenen Tätigkeit, wie ein Tiger im Käfig auf und ab zu laufen. Kurz zuvor hatte er, einer beunruhigenden Eingebung folgend, einen Bilderrahmen von der Wohnzimmerwand genommen. In dem Glas befand sich eine Photographie, welche er bei einem Spanienurlaub vor einigen Jahren geknipst und, zurück in der Heimat, sofort entwickelt, vergrößert und im Schlafzimmer aufgehängt hatte. Seitdem unberührt hatte sie die Raufasertapete verziert und den Bewohner des Raumes in Erinnerungen an den idyllischen Hafen von Cambrils schwelgen lassen.
Zunächst hatte Ernst versucht, die schwarzen und weitaus weniger malerischen Dreckstreifen, die sich ihm beim Abhängen auf der Tapete präsentierten, mit einem feuchten Lappen fortzuwischen. Doch hatte er beim verzweifelten Herumreiben feststellen müssen, dass sich die Ränder stattdessen nur breitflächig verschmieren ließen.
Seitdem haderte er hin und her laufend mit den ihm nun zu Gebote stehenden Möglichkeiten: Er konnte es natürlich mit schärferem Reiniger versuchen. Von denen stand ihm mittlerweile ein beachtliches Sortiment zur Auswahl und die ausgiebige Verwendung derselben zeigten sich in den ausgebleichten Flecken seiner Haushose. Allerdings auch in nicht von den Händen zu weisenden roten Pusteln.
Eine weitere Möglichkeit war, die hässlichen Stellen weiß zu übermalen. Er vermutete ähnliche optische Effekte auch unter den anderen Bilder, scheute sich aber noch, sich von ihrer Präsenz zu überzeugen. Zudem befürchtete er, ein neues, helles Weiß könne auf der Tapete einen himmelschreienden Kontrast zum restlichen Nikotingelb ergeben. Dann musste er notgedrungen das gesamte Zimmer streichen. Was wiederum zur Folge hatte, die Wände der gesamte Wohnung zu tünchen, wenn nicht gar, wo er schon einmal dabei war, vollständig neu zu tapezieren.
Natürlich gab es noch die weitaus unaufwendigere Alternative, das Bild einfach wieder aufzuhängen und so zu tun, als habe er den hässlichen Makel weder gesehen noch zu entfernen versucht. Doch diese Variante wurde ihm hartnäckig von etlichen flüsternden und wispernden, murrenden und knurrenden, raunenden und drohenden Stimmen in seinem Kopf verboten.
So knoteten sich in Ernst die Für & Wider's seiner Auswege zu einem wirren Wust zusammen. Die einzelnen Stränge endeten in einem Gedankenwust, entweder in ätzenden Schmerzen und gekränktem Umweltbewusstsein, in kaum überschaubarem Arbeitsaufwand oder puren Wahn. Verbissen kämpfte er gegen die frisch aufkeimende Panikattacke an - der jüngsten innerhalb der letzten 42 Stunden. Irgendwann hatte er es aufgegeben, die Begebenheiten zu zählen, zu denen immer wieder lästige Stimmen wie ein aufgeriebenes Ameisenvolk in seiner Hirnschale herumzukrabbeln begannen.
Leider ist in diesem Bild das Knacken der Fingernägel zwischen seinen Zähnen nicht hörbar. Auch sein leises Murmeln ist jetzt noch nicht zu vernehmen, aber seien Sie versichert: Könnten wir es, würden wir es nicht verstehen. Darum starten wir den Film doch einfach.
Na? Können Sie aus dem Gebrummel irgend etwas heraushören? Also, ich nicht.

Das schrille Schellen der Türklingel riss Ernst aus seinem apathischen Pendellauf. Hektisch blinzelte er um sich, als müsse er sich erst vergewissern, wo er sich befand. Dass es seine Wohnung war, beruhigte ihn nicht sonderlich.
Es klingelte noch einmal. "Herr Sacher?!" Hallendes Klopfen an der Wohnungstüre. "Ich bin's nur."
Ernst ging in den Flur und öffnete.

Sigrid Büsch war eine bemerkenswert unattraktive Frau Ende vierzig. Sie wohnte seit fast zwanzig Jahren in diesem Haus und hatte etliche Bewohner kommen und gehen sehen. Nicht zuletzt auch ihren mittlerweile geschiedenen Mann, den sie eines abends nach verfrühter Heimkehr beim orgastischem Herumgereibe mit einer der polnischen Prostituierten erwischte, die damals in wechselnden Besetzungen illegalerweise eine Wohnung in der zweiten Etage behausten. Dass dieses von Sigrid in diesem Zusammenhang mit Vorliebe verwandte Verb durchaus seine Berechtigung hatte, begründete sie mit der damaligen Ansammlung gefüllter Plastikmülltüten, die wochenlang den Hausflur schmückten und holden Duft verbreiteten.
Nun, Sigrid hatte dafür gesorgt, dass sie verschwanden. Die Mülltüten, die polnischen Schlampen und - erst im nachhinein auch rechtlich, doch zuallererst auf für sie ungewohnt rabiate Weise - auch ihr Göttergatte.
Doch das gehörte der Vergangenheit an und sie redete nicht mehr mit jedem darüber. Ihr Psychotherapeut sagte, er sei sehr zufrieden mit ihr, also war sie es mit sich auch. Sirgid hatte ihren Alltag wieder in Ordnung gebracht und lebte ihr ausgeglichenes Leben. Sie kümmerte sich rührend um ihren Wellensittich und das wirbelig rote Meerschweinchen, zu denen ihr gute Freunde geraten hatten. Puppis lebendiges Zwitschern bewies ihr, dass immer jemand da war und das Streicheln in Murkels warmen weichen Fell war reinste Flaumtherapie. Sie besuchte einmal in der Woche ihre Frauengruppe und hatte sich zu einem Töpferkurs in der Toskana angemeldet, wo hoffentlich besseres Wetter herrschte als hier. Ihre lieben Kleinen konnte sie dorthin natürlich nicht mitnehmen. Doch Ernst Sacher, der seit einigen Jahren direkt neben ihr wohnte, war ein netter, zuvorkommender, junger Mann. Manchmal hörte er zwar etwas laut und noch spät abends seine 70er-Jahre-Bombast-Rockmusik, und auch mit der monatlichen Flurreinigung nahm er es nicht allzu genau, aber, na ja, musste jeder selbst wissen. Aber davon mal abgesehen, freute es sie immer, ihn zu sehen und sich mit ihm auf dem Flur ein bisschen zu verplaudern.

Sigrid bekam einen kleinen Schrecken, als sie gerade noch einmal gegen die Nachbartür klopfen wollte und jene genau in diesem Moment aufgerissen wurde. Ein "Huch" entfuhr ihr und sie kicherte verlegen.
"Verzeihung, Herr Sacher, ich bin auch sofort wieder weg; ich wollte nur fragen, ob Sie vielleicht in den nächsten ... holla, was riecht denn da so gut bei Ihnen", unterbrach sie sich selbst, als ihr frisches Cirusaroma in die Nase schlich. "Störe ich Sie etwa beim Hausputz?"
Der junge Mann blinzelte hektisch und sein Kopf schnackte kurz zur Seite. "Ma-hmmacht nix", brachte er heraus.
"Na, dann ist ja gut", lächelte Sigrid. "'Reinlichkeit ist eine Tugend', sagte meine Mutter immer. Oh, wenn Sie schon so fleißig sind, dann können Sie eigentlich auch gleich bei mir drüben weitermachen. Ich hab da so ein paar verflixte Ecken, die ..." Sie unterbrach sich und fügte ein "Ha-ha-nein-nein" hinzu.
Sie gehörte zu den Leuten, die sich ihrer Unfähigkeit zum Flunkern bewusst sind und selbst alberne Scherze vorschnell als solche erklären, noch bevor sie eine Wirkung, geschweige denn einen Lacher erzielen konnten. Aber unerwarteterweise schien sie Herrn Sacher tatsächlich kurzzeitig hinters Licht geführt zu haben. Für einen Sekundenbruchteil hatten sich seine Augen leidvoll geweitet und nervös geflimmert. In diesem Augenblick war sie sich unsicher, ob er nun sie verulkte und so tat, als nehme er ihren Jux für bare Münze. "Ha-ha", wiederholte und fügte sie vorsichtshalber noch hinzu. "War doch nur'n kleiner Witz. Darf man doch mal machen, nicht?" Sie gehörte außerdem zu den Leuten, deren Sprachschatz zu einem Großteil aus unausstehlich alltäglichen Floskeln und Bestätigung heischenden Gegenfragen bestand.
"Aaach ..." Herr Sachers Gesichtszüge entspannten sich wieder etwas. "Ja, klar, ha-ha, nur'n kleiner Witz", nickte er. "Ein guter Witz, das Witzchen. Ja-ha-ha."
Sigrid blinzelte irritiert und erinnerte sich, weshalb sie eigentlich angeschellt hatte. "Ich ... ähm ... ich habe einen Anschlag auf sie vor, Herr Sacher."
"Einen Anschlag?" Sofort war das Flimmern wieder da.
"Na, ja, wissen Sie, ich fahre heute für ein paar Tage weg und da wollte ich sie fragen, ob sie nicht vielleicht daheim sind und ab und zu mal bei mir drüben reingucken könnten. Meine Kleinen füttern, Blumen gießen und so weiter. Würden Sie das für mich tun?"
"Oh." Eine gewisse Erleichterung glättete wieder sein angespannte Miene. "Ja. Ja, klar."
"Das ist lieb. Hier sind die Schlüssel." Sie holte ihren Zweitbund hervor. Herr Sacher ergriff ihn schnell, riss ihn ihr förmlich aus der Hand und stopfte ihn in die Hosentasche. Sigrids Blick fiel auf die bleichen Flecken auf dem Baumwollstoff, auch die roten wunden Hände hatte sie gesehen und überlegte kurz, ob sie nach dem Grund fragen sollte. Doch hielt sie es schließlich für geraten, es zu unterlassen. Herr Sacher sah heute gar nicht gut aus. Er war doch deutlich blass um die Nase und ein Schmierstriemen zog sich an ihr entlang bis auf die Wange herab. Hatte er sicher noch gar nicht bemerkt. Und dann dieses Flimmern in seinen Augen und die hektischen Flecken in seinem Gesicht. Sicherlich etwas überspannt, der Gute. Hatte sicher viel zu tun.
Eine Weile standen sie voreinander, nickten und lächelten sich an, lächelten und nickten zurück. Insgeheim wartete Sigrid auf die Frage nach dem Ziel ihrer Reise, doch Herr Sacher schien sich nicht dafür zu interessieren.
"Tja, heute abend fahr ich dann also los", erwähnte sie deshalb noch einmal. "Soll ja bilden, nicht wahr?" Aber außer weiterem Nicken und einem durch zusammenpressten Lippen gestoßenes "Ja-a" war ihrem Nachbarn offenbar nichts zu entlocken. "Und ich kann mich auf Sie verlassen, ja? Ich muss nämlich wieder rüber. Ist ja doch viel Arbeit, ne? Die ganze Packerei und so. Sie wissen doch noch, wo alles steht, oder?"
Nichts als Nicken.
"Steht alles in der Kammer. Können sich auch gerne was von den Schnuckersachen nehmen, woll? Stehen auf dem Tisch. Beruhigt die Nerven. Aber dass Sie sich mir nicht zu genau umschau'n. Ich weiß nicht, ob ich noch dazu komme, richtig aufzuräumen. Aber ist ja auch nur für ein paar Tage."
"Wie lange denn?" fragte ihr Nachbar schnell. "Bleiben Sie weg. Meine ich."
Na, endlich taute er auf. "Och, wissen Sie, bloß drei Tage", verharmloste Sigrid. "Toskana." Ihre Gedanken beschäftigten sich schon mal damit, die farbenfrohen Toskana-Preisungen aus dem Reisekatalog wortgetreu und abrufbereit vorzubereiten. So bemerkte sie nur beiläufig, dass das Flackern in Herrn Sachers Augen zu funkeln begann.
"Toskana? Schön. Drei Tage?"
"Drei, mh-hm. Siena. Nee, doch, wird sicher schön. Hauptsache, ich hab eine saubere Unterkunft. Unordnung ist ja nicht sooo wichtig. Aber sauber musses schon sein, nicht? Und bei den Ausländern weiß man ja nie, ne?"
(Ach ja. Ein weiterer von Sigrids Wesenszügen war ihr nahezu unbedarfter Hang zu subtilem Rassismus.)
"Möglich", antwortete Herr Sacher, wahrscheinlich unbewusst diplomatisch. Das Flimmern in seinem Blick war gänzlich verschwunden. Als hätte das Funkeln es verschluckt. "Auf mich können Sie sich verlassen, Frau Büsch. Einen schönen Urlaub wünsch ich Ihnen."
Sigrid konnte einen Anflug von Enttäuschung nicht verbergen. "Tja, dann also ... Danke schon mal. Ich mach das wieder gut und ... ja, und lassen Sie sich nicht aufhalten, woll?"
Ein wenig gekränkt, so abgewürgt worden zu sein, wandte sie sich ihrer Wohnungstür zu. Ein leises "Nein. Lasse ich mich nicht" glaubte sie hinter sich zu hören, weigerte sich aber innerlich, dem Beachtung zu schenken. "Ach, übrigens ...", drehte sie sich noch einmal um und tippte in ihrem Gesicht an die Stelle, an der Herr Sacher den Schmierstriemen hatte. "Schauen Sie mal in den Spiegel. Sie haben da was." Dann schloss sie lächelnd die Tür. Er war ja ein netter Nachbar, aber den hatte sie ihm doch noch stecken wollen. So ein Desinteresse!

Ernst starrte die Tür gegenüber an. Irgendwann hob er die fleckige Hand an die Nase, rieb die ihm gewiesene Stelle und betrachtete dann seine Finger. Er japste. Der wabernde Anblick erinnerte ihn an unansehnliche Stellen in seinem Wohnzimmer. Doch nicht nur das. Er zeigte ihm auch hässliche schwarze Ränder, die sich unter den Nägeln seiner Finger verbargen.
Es knackte, als er wieder zu Nagen begann, als wolle er das Zittern verleugnen.

* * *

Dienstag, 08. Mai 2001 17 : 25 Uhr
Hier sehen wir Arthur Westphal bei seinem täglichen Einkauf. Gerade hielt er mit seinem Wagen an der letzten Station seines stets gleichen Parcours, dem Weinregal. Im folgenden wird er sich zwei Flaschen Rotwein herausgreifen. Er wird dafür nicht extra suchen müssen, da er ganz genau weiß, welche Sorte er nimmt und wo sie steht.
Das Einkaufen bereitete dem 75-jährigen Rentner viel Befriedigung. Im Supermarkt hatte alles seinen zugeordneten und sinnvollen Platz. Das Obst war stets frisch und sah schön aus. Arthur konnte seine Tageszeitung erwerben und sich darauf verlassen, das Frau Schnaak für ihn den Lottoschein richtig ausfüllte. Er empfand es als äußerst angenehm, wenn das Fräulein Herbig an der Wursttheke ihn mit Namen begrüßte und genau wusste, was er haben wollte. (4 Scheiben geräucherten Schinken, hauchdünn, drei Scheiben Bierwurst und jeden zweiten Montag ein Pfeffersäckchen oder ein Zipfel Kalbsleberwurst.)
Ja, der Supermarkt war seine zur lieben Gewohnheit gewordene Erlebniswelt. Daher ging er auch nicht vormittags, obwohl er die Zeit dazu hatte, sondern abends, kurz bevor der Markt die elektrischen Schiebetüren abschließen wollte. Da war mehr los. Er konnte sich mit seinen Wagen in aller Seelenruhe die Gänge entlangbewegen und dabei sorgsam darauf achten, dass die Leute, die kurz nach Feierabend nur noch wenig Zeit zum Einkaufen hatten, nicht an ihm vorbeikamen. Wenn jemand deshalb nörgelte, tippte er an sein völlig intaktes Hörgerät und gaukelte gekonnt ein entschuldigendes Lächeln vor. An der Kassenschlange gönnte er sich jeden Tag den Spaß, der Kassiererin den Pfenniginhalt seiner Geldbörse in die Hand zu schütten und aus den sehr gesunden Augenwinkeln das ruhebewahrende Luftholen der nachfolgenden Kundenschlange zu beobachten. Jeder zeigte notgedrungen Verständnis für sein Alter und seine offenbare Schwäche.
Außerdem konnte er hier viele gute Ratschläge verteilen. Gute Ratschläge waren Arthur Westphals Spezialität. Er war seit nunmehr fünfundzwanzig Jahren Witwer und tätigte seitdem ohne Hilfe und dementsprechend stolz seinen Haushalt alleine. Wenn es um sinnvolles Einkaufen ging, konnte ihm niemand etwas vormachen. In seinem Ratschlag-Lager befand sich eine Unmenge Tipps, Energie zu sparen, Lebensmittel richtig zu lagern und gesund einzukaufen. Er wusste, wie sich Brot anzufühlen und Obst auszusehen hatte und vor allem, ab welchem Haltbarkeitsdatum man welche Produkte billiger bekam. Zudem verließ er nicht eher den Laden, bis er sich nicht genauestens von der Richtigkeit des Kassenbons überzeugt hatte. Jawohl, Arthur Westphal genoss es, dass die Angestellten der Supermarktfiliale ihn bis aufs Blut hassten und er bemühte sich rege, diese Genervtheit auch auf die Kunden zu übertragen. Jederzeit, und meist, wenn sie nicht wollten, stand er jedem mit aufdringlichem Rat und nahezu penetranter Tat zur Seite. Mit unglaublicher Vehemenz erklärte er wie man Sauce Hollandaise selbst machen konnte, ohne nach diesen abgepackten Konservierungsmitteltunken zu greifen. Oder er schrieb, ohne Widerworte zu dulden, vor, welche Salatsorte man doch unbedingt zu nehmen hatte.
Mit Genuss dachte Arthur an jenen Abend zurück, an dem es ihm durch unbarmherziges Zureden gelungen war, einem verschüchterten Studenten nicht nur Erbsensuppe auf den Speiseplan des folgenden Tages zu zwingen, sondern ihn zudem auch noch widerwortlos dazu gebracht zu haben, sich von ihm das beste Rezept auf einen Schmierzettel diktieren zu lassen. Daraufhin hatte der Rentner den hilflos stammelnden Jungpädagogen durch die Regalreihen geschoben und ihm sämtliche Zutaten in den Wagen geworfen. Inklusive Brühwurst. Dass sein bald völlig entnervtes Opfer Vegetarier war, hatte Arthur nicht die Dicke Bohne interessiert. - So viel zu Herrn Westphal.
Doch richten wir doch einmal unser Augenmerk auf das Regal dort vorne links. Sehen sie den Bug des Einkaufswagens, der da um die Ecke lugt? Gleich neben dem Sonderangebotstand für Waschmittel.
Nun, sehen wir mal, was passiert.

Die Weinflaschen in Arthur Westphals Karren dengelten leise aneinander, als er weiterfuhr. Er holte einen zerknüllten Zettel aus der Jackentasche, schob seine Brille in die Stirn und betrachtete eingehend die Notiz der außernormalen Besorgungen für diesen Tag. Margarine? Hatte er. Milch? Auch. Tube Senf? Arthur kramte und fand sie unter dem Wurstbeutel. Toilettenpapier? Fehlt noch. Wumms! - Sein Wagen krachte mit einem anderen zusammen. Vor Schreck rutschte die Brille des alten Herrn wieder auf die Nase zurück.
Die beiden Karamboleure gafften sich ein, zwei Momente lang verdutzt an. Arthurs Gegenüber, ein junger Mann mit fleckiger Gesichtsfärbung, schaute noch etwas verstört drein und wankte, da ihm die eine Ecke des gegnerischen Wagens empfindlich in der Leistengegend getroffen hatte.
"Da schau her! Der Herr Junggeselle aus der Nummer 57! Na, was machen die Fenster?"
"Sauber", kam es wie aus der Pistole geschossen. "Sauber! Alles sauber!"
"Wirklich? Na, wenn Sie sich da aber mal nicht täuschen. Ich hab Sie von meinem Fenster aus genau im Blick. Und als ich sie letztens putzen sah, dachte ich mir gleich, dass das nichts wird. Schauen Sie, wenn sie daheim sind, ihre ‚sauberen' Scheiben mal genauer an."
"Wie ... wieso?"
"Na, Schmierstreifen!" Arthur war von der Reaktion, die diesem mit Bedacht laut und wohl betonten Wort folgte, höchst entzückt. Der junge Mann zuckte zusammen und weitete die geröteten Augen in einer Weise, die seine Mimik zu sprengen drohte. Jede Fensterputzmittel-Werbesendung-Aktrice hätte sich daran ein Beispiel nehmen können. "Ich sag Ihnen was. Diese Kunstleder-Dinger, die taugen nix. Wissen Sie, was Sie nehmen müssen?" Arthur ließ eine durch intensives Werbeblockstudium anerlernte Kunstpause folgen und neigte verschwörerisch den Kopf, als wolle er ein großes Geheimnis anvertrauen. Der junge Mann kam ihm entgegen. "Zeitungspapier", zischte der Rentner. "Stink-nor-ma-les Zeitungspapier. Ist das beste, wo gibt, sag ich Ihnen."
"Zeitungspapier", wiederholte sein Opfer. Es hörte sich nicht nach einer Frage an, mehr nach einer geistigen Notiz.
"Ja, genau. Billig und gründlich. Fragen Sie mich mal."

Nun liebe Leser, hier folgte Arthurs mit den Jahren auswendiggelernter Vortrag über "Selbstständigkeit und Behauptung in hohem Alter", den ich Ihnen nicht in voller Länge antun möchte. Vielleicht ist Ihnen der Inhalt auch bereits bekannt, denn oftmals ändert sich an diesen Monologen nur der Name der Interpreten. Die Themen bleiben häufig die gleichen. Aber den Ablauf und die Übergänge so geschickt und virtuos zu harmonieren, um das Höchstpensum an zu vermittelnden Informationen loszuwerden, ohne dem meist unwilligen Zuhörer eine Chance zum Gesprächsabbruch zu bieten, ja, darin liegt die wahre Kunst der alternden Profilneurose. Und Arthur Westphal war ein ganzer Mann. Der diese Kunst sehr wohl umzusetzen wusste.
Zu Anfang kamen die enormen Leistungen des greisen Herrn zur Geltung, der gezwungen war, nun die Dienste seiner verstorbenen Frau - Gott habe sie selig! - selbst und allein zu verrichten und es vortrefflich verstand mit diesen niedrigen Arbeiten fertig zu werden. (Er betonte ein subtiles Unverständnis darüber, wie seine Gemahlin - Gott behalte sie gnädig! - zu Lebzeiten stets über die Belastungen des Alltags klagte, welche er nun "mit links" erledigte.) In Folge dieser Aufzählungen ging der Redefluss mit "Das mach ich alles nebenher" über in den Hauptstrom der Informationen. In ihm auftauchende Wortwendungen wie "fit wie ein Turnschuh" und einhergehende, beängstigend heftige Fausthiebe gegen Brustkorb und Muskulatur widersprachen sich wenig später mit der Aufzählung aus harter Arbeit und noch härterer Kriegsjahre resultierten Altersbeschwerden. Diese setzten sich mit einer detailliert beschriebenen Krankheitsgeschichte fort, welche den Patienten Westphal trotz aller selbsterhaltenden Anstrengungen und Resistenz, offenbar als medizinisch hoffnungslosen Fall erscheinen lassen sollten.

Arthur war viel zu sehr in seiner Litanei vertieft, um das immer hektischer werdende Kratzen, das zuckende Nicken und das nervöse Augenknibbeln seines Gegenübers zu bemerken. Auch das genervte Fingertrommeln auf den Laufbändern der Kassenschalter im Hintergrund störte ihn nicht im geringsten.
Niemand traute sich, den alten Mann auf den fälligen Ladenschluss aufmerksam zu machen. Himmel, sah man mal von den späteren Beschwerdebriefen ab: Die Schimpftirade hatte das letzte Mal länger gedauert, als wenn man den Alten einfach hätte reden lassen. Also ergab sich die Belegschaft ihrem Überstundenschicksal.
Den Protokollen der letzten Krankenhausaufenthalte mit ausführlichen Beschwerden über stümpernde, kurpfuschende und vor allem viel zu jungen Ärzte, folgten schließlich die Verwünschungen über die zu Wünschen übrig lassenden Krankenbesuche der undankbaren Westphal-Kinder. "Ich sag Ihnen was: Heiraten Sie! Suchen Sie sich ein angenehmes und sparsames Weibchen, haben Sie nicht nur ein paar amüsante Jahre mit nicht zu verachtenden Steuervorteilen, Sie ersparen sich in dieser Zeit auch den Haushalt. Aber schaffen Sie sich um Gottes Willen keine Kinder an. Heiraten ist völlig in Ordnung, wenn Sie sich den Pantoffel gleich richtig herum anziehen. Aber Kinder - ob als kleine Kröten oder große Geier - Kinder verarbeiten Ihre Nerven zu Hackepeter. - Erinnern Sie sich meiner Worte: Später, wenn Sie so alt sind wie ich, sind Sie für ihre Brut nur der letzte Dreck."
"Dreck?" Der junge Mann zuckte zusammen.
"Ja, Dreck, sag ich Ihnen. Scheiße zum Abspülen. Mehr nicht. Die wären doch alle froh, wenn ich nur endlich weg vom Fenster wär."
Hinter den Kassen konnte man schwelgerisches Seufzen vernehmen. Arthur registrierte es unwillig und sandte einen missbilligenden Blick über die Schulter. So bekam er das leise, fiebrig genuschelte "Fffenster ..." seines Opfers nicht mit.
"Ach, a propos Scheiße zum Abspülen", wandte sich der alte Herr wieder um. "Darf ich mal eben." Er langte an dem Mann vorbei ins untere Regal und bereicherte seine Warenkorbbeute um ein Paket Billigmarken-Klopapier. "So, die sind gut genug. Doppellagig und ungebleicht. Was soll's, hm? Geht doch am Arsch vorbei sag ich immer." Stolz auf seinen sprachlich ausgefeilten Schenkelklopfer rammte er dem beständig Nickenden einen Ellenbogen in die Rippen. "Meine Frau war da damals ja anderer Meinung. Die wollte immer dieses weiche Zeug da vorne. Unmengen hat sie davon verbraucht. Ich hab ihr damals schon gesagt, du machst das ganz falsch, hab ich gesagt, du musst das dreimal um die Finger drehen. So." Der Rentner wirbelte eine imaginäre Klopapierrolle um Ring-, Mittel- und Zeigefinger. "Dann kommt man damit auch gut in die Mokkaritze rein. Aber nein, sie knüllte sich so'n ganzes Knäuel in die Hand. Hauptsache schön weich. Pah! Diese Frauen! Haben Angst, einen roten Hintern zu bekommen. Aber Sie, sagen Sie mal, haben Sie sich eigentlich mit Sandpapier abgetrocknet?"
Vor lauter Verblüffung, plötzlich konkret angeredet worden zu sein, bekam der junge Mann bloß ein irritiertes "Was?" heraus.
"Na, ihre Haut. Da. Überall rot." Arthur tippte sich mit dem Zeigefinger im Gesicht herum. "Wurden Sie mit Brennnesseln gegeißelt. Sieht ja schrecklich aus. Was nehmen Sie denn da fürn Zeugs?" Mit einem schnellen Griff holte er eine Flasche Waschlotion aus dem Warenkorb des Mannes. Der Rentner schob die Brille in die Stirn und betrachtete skeptisch das Etikett. "Mensch, so was dürfen Sie auch nicht nehmen. Schon mal auf den ph-Wert geguckt? Das ist ja fast Säure." (Wer Arthur näher kennenlernte, wusste oftmals nicht, was schockierender war: Sein Chemie-Allgemeinwissen oder sein Sinn für Relationen.) Der alte Herr ließ das Kassengestell wieder auf die Nase rutschen. "Wenn Sie eine gesunde Hautfarbe und zudem eine gute Durchblutung bekommen wollen", fuhr er fort, "dann müssen Sie Trockenduschen." Kunstpause. "Wissen Sie, was das ist?" Selbst wenn der junge Mann es gewusst hätte, wäre er kaum zu Wort gekommen. "Hat man mir in der Kur 19-73 gezeigt. Morgens um sechs. Vors offenen Fenster. Und dann mit der Kratzbürste drüber. Ü-ber-all." Er demonstrierte es mit einem unsichtbaren Objekt. Seine Bewegungen ließen die wartenden Kassiererinnen auf Selbstkasteiungstechniken schließen. Die Ablenkung durch ihr hämisches Grinsen schien den jungen Mann einen Augenblick aus der Sprachlosigkeit zu locken. "Eigentlich wollte ich nur einen einfachen Einmalrasierer, um ..."
Doch ein Arthur Westphal ließ sich nicht so einfach vom einmal bestiegenen Rednerstatus vertreiben. "Ach, Sie auch?! He, sie werden mir je richtig sympathisch!"
Dem erfreuten Ausruf folgte ein Referat über die Vorteile der Nassrasur. Also, wenn man Arthur fragte, so mochte er diese elektrischen Apparate nicht. (Danach wurde er auch nie gefragt, doch war das auch unerheblich.) Richtiges Rasieren, so lernte der junge Mann, sei eine der letzten, rein männlichen Domänen und müsse ergo auch richtig männlich von statten gehen. Mit Klinge und Schaum, angerührt selbstverständlich, nicht aus der Sprühflasche, dieses sauige Zeug. "Und dann nachher schön frisch mit Aftersheef. - Ach, darum sind sie auch so rot um die Nase, was? Mensch, Sie dürfen auch nicht diesen billigen Pansch nehmen."
Nach einer Exkursion über das beste Rasierwasser, welche ich hier aus Marktwettbewerbsgründen nicht wiedergeben darf, entließ der alte Herr sein Opfer. Allerdings nicht ohne vorher noch dem jungen Mann eben jenes beste Aftershave aufzuzwingen. Daraufhin ließ er ihn einfach stehen und überließ ihn seinem hektischen Nicken und Handflächenschubbern.
Arthur hätte es niemals zugegeben, doch ihm war der Jüngling ein wenig unheimlich geworden. Kinder! Kaum noch belastbar. Haben alle kein Rückgrad.
Mit einem so freundlichen "Hallo, die Damen!", dass es den Kassiererinnen ein durch und durch verdorbenes Lächeln in die Mundwinkel ätzte, schob er seinen Einkaufskarren neben die Kasse. "Tippen Sie schon mal. Es sind exakt fünfzehn Mark fünfundsiebzig." Dann schüttete er den Inhalt seines Portemonnaies auf dem Fließband aus. "Können Sie wohl mal eben ... Sie wissen ja, meine Augen ..."

Ernst hielt die eine Hand vors Gesicht, während er sich mit der anderen am Einkaufswagen festkrallte und auf dessen Standhaftigkeit hoffte. Sein Blick hatte so gezittert, dass der ganze Supermarkt zu beben schien. Alles drehte sich und schwankte noch dabei. In seinem Kopf kündigte sich eine Sturmflut an, die sein ganzes Hirn zu überschwemmen drohte. Tosendes Rauschen, Heulen und Knacken, dazu ein Ziehen, als werde sein Verstand notdürftig mit Nervensträngen festgezurrt.

(Fortsetzung folgt ...)
 

Der Denker

Mitglied
Hallo Willie,

du hast einen wirklich ungemein unterhaltsamen Erzählstil.
Und wie du alltägliche Dinge so treffend und zugleich komisch beschreibst... ich hatte direkt das Gefühl, Arthur schonmal begegnet zu sein. ;)
Hab gleich Part I und Part II in einem Rutsch gelesen.
Warte geabannt auf die Fortsetzung.


Libe Grüße,
der Denker
 



 
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