"L" wie Liebe, "S" wie Schönheit und "K" wie Krieg

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denLars

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"L" wie Liebe, "S" wie Schönheit und "K" wie Krieg

Das Opernhaus des Waldes hat zur kleinen Nachtmusik geöffnet.
Unter dem Dach der schützenden Laubkronen der Baumriesen tanzten die Glühmwürmchen,hell leuchtend wie die Sterne am blauen Himmel, ihren neckischen Tanz im Takte des großen Waldorchesters, das vom Wind dirigiert wurde. Der Chor der Gräser wisperte leise, als der Wind durch sie fuhr, die tiefen Stimmen der Eulen schwangen mit in der Melodie, als der Wind diese nächtlichen Gesellen aus ihrem Schlaf erweckt, während die hellen Stimmen der Nachtigall sich mit dem Knistern des Laubes und dem trommelwirbelartigem Knarzen der Äste zu einer wunderbaren Melodie vermählete. Das Glucksen des Sees, der in den Tiefen des Waldes auf einer sonnenbeschienen Lichtung lag, untermalte die leise, vielstimmige Sinfonie des Waldes.
Und in diesem See, wohlbehütet im Schoße der Natur, saß ein wunderschönes Mädchen mit nackter, blütenweißer Haut und langem, silbern glänzenden Haar, das im Licht des Mondes badetete und sich mit gespitzten Ohren am Orchester des Waldes ergötzte. Das süße Kind fürchtete sich nicht vor der nächtlichen Dunkelheit des Waldes. Warum auch?
Um sie herum war nur friedvolles, gedeiehendes Leben, sorgenfrei und unbeschwert.
Das Lied des Waldes wurde von meinen Schritten übertönt, als ich unbeholfen durch die Dunkelheit des Waldes tapste. Ich schwieg ehrfürchtig, da ich fürchtete, schon beim kleinsten Laut meiner selbst diese wunderbare, friedvolle Szenerie, die sich vor mir auftat, zu zerstören.
Wer es war, der es sich da anmaßte, den Wald in seiner friedvollen Monotonie zu stören, war schnell erklärt. Es war ich, Jonathan, der Kartograf und Naturwissenschaftler. Ich hatte es mir zur Lebensaufgabe erklärt, alles, was es auf dieser Welt gibt, aufzuschreiben, einzuordnen und zu definieren, um die ganze Welt in einem einzigen Buch festzuhalten. Ein umögliches Unterfangen, würde jeder denken. Doch was wäre die Menschheit, wenn sie nicht stets versuchen würde, das Unmögliche möglich zu machen. Wenn sie nicht unermüdlich versuchen würde, ihre Träume nicht nur zu träumen, sondern zu leben.
Wenn ich irgendwann in meinem Buch das Wort "Schönheit" definieren müsste, würde ich wohl genau diesen Augenblick beschreiben.
"Schönheit...", würde ich schreiben, "ist, auch wenn manche Leute das Gegenteil sagen, spürbar und fassbar. Man muss nur die Augen weit aufreißen, sein Herz öffnen und nicht an gute, alte Zeiten denken oder auf neue, gute Zeiten hoffen. Man muss immer wissen, dass jetzt die schönste Zeit ist und jetzt der schönste Moment deines Lebens ist"
Ich lächelte. Vielleicht würde ich noch zum Philosoph werden. Ich trat auf die Lichtung und stellte den Korb, den ich bis dahin getragen hatte, ins weiche, wispernde Gras. Der Korb war mit dem gefüllt, was ich als "Genußmittel" in meinem Lexikon definieren würde: Wein, Hartkäse, Landbrot und einige rot - goldene Äpfel.
Das Mädchen im Wasser drehte sich zu mir um und ein süßes Lächeln huschte über ihre Lippen, deren Farbe irgendwo zwischen rosen- und karmesinrot war. Ich glaube, dass "Liebe" das einzige Wort sein wird, dass ich in meinem Lexikon nicht beschreiben werde, denn Liebe ist so etwas intimes, geheimnisvolles und individuelles, das es einfach nicht zu definieren ist. Deshalb will ich das Gefühl, das mich bei ihrem Anblick wie ein elektrischer Impuls durchzog, auch nicht näher beschreiben. Das muss der, der diese Worte liest, schon selbst herausfinden.
Auch das, was ich in der anderen Hand halte, lege ich ins Gras der Lichtung. Eine gewachste, bisher unbenutzte M1 Garand. Das Gewehr war das einzige, was nicht in dieses harmonische Bild passte. Das einzige, was an die grausame Welt um uns herum erinnerte.
Sie stieg ohne Scham aus dem Wasser. Die Wasserperlen, die über ihre geschwungenen Hüften, ihren Busen und ihren flachen Bauch rannen, glitzerten im Mondlicht und es wirkte, als würde sie ein Gewand aus funkelnden Perlen tragen.
Wir umschlangen und küssten uns. Ihr Körper schmiegte mich an den meinen, der in eine frisch - gewaschene Uniform der deutschen Wehrmacht gehüllt war. Der Moment dauerte gleichermaßen eine Ewigkeit lang und war gleichermaßen viel, viel zu kurz. Wir lösten uns voneinander. Ihre blauen Augen sahen mich. Sie wirkten wie zwei Seen, in denen ich mit meinem Blick versinken und ertrinken konnte.
"Ich habe uns etwas mitgebracht!", ich deutete auf den Korb. Sie nickte, ihre Augen funkelten freudig.
Während ich eine rot - weiß karierte Decke aus dem Korb holte, auf dem Gras ausbreitete und die mitgebrachten Leckereien darauf ausbreitete, zog sie sich ihr weißes Leinenkleid über.
Wir setzten uns auf die Decke, auf der wir aßen, streichelten, küssten, kraulten, schmusten und liebkosten, als ob es kein Morgen geben würde. Dies alles geschah ohne ein einziges Wort. Wir führten eine stille Konversation aus Blicken und Berührungen, jedes Wort hätte nur diesen dünnen Kokon zerstört, den wir um uns herum geschaffen hatten, damit wir die Welt vergaßen, die sich gegen uns verschworen hatte.
Es heißt, dass Liebe stärker als alles andere ist. Dem konnte ich so nicht zustimmen, denn sie war nicht einmal stärker als die Wehrpflicht, die mich zwang, am nächsten Morgen meine Heimat und meine Geliebte zu verlassen.
Je näher der Morgen trat, desto stärker schlug mein Herz vor Angst. Ich wollte nicht fort. Ich wollte nicht ins ferne Russland. Ich wollte einfach nur bis zu meinem Lebensende hierbleiben, die Welt definieren und mit meiner Geliebten alt werden.
Doch dies hatte mir das Schicksal nicht vergönnt. Es hatte mir nur noch diese eine Nacht gegeben. Diesen einen, friedvollen Moment, der nah an der Grenze zur Perfektion war. Doch nun neigte er sich schon seinem Ende zu. Ich spürte Unruhe, klamme Kälte, nassen Schweiß auf meiner Haut und einen Kloß in meinem Hals. Am liebsten hätte ich mein kleines Notizbüchlein aus meiner Hosentasche geholt und diese Gefühle unter der Definition zu "Angst" aufgeschrieben. Doch dies hätte mir nur die wenige, verbleibende Zeit dieses Momentes genommen.
Als die Nacht dem Tage wich erhob ich mich von der Decke, nahm das Gewehr, küsste meine Geliebte und ging ohne einen Ton davon. Ich war nicht fähig zu sprechen. Nur fähig zu weinen und zu schluchzen.
Am Saume des Waldes hielt ich an.
Die Sonne erstrahlte am Horizont, sie war so blutrot wie der Krieg und so hell wie das letzte Licht in der Dunkelheit des Todes.
Noch einmal lauschte ich in den Wald hinein.
Er war verstummt. Das Opernhaus des Waldes hatte seine friedvolle Nachtmusik beendet und ich wusste, dass es nie mehr so schön spielen würde wie in dieser Nacht.
 



 
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