"Mauerblume"

Markus Veith

Mitglied
Mauerblume

Wie jeden Freitagabend war das Kneipencafé sehr gut besucht. Das Publikum bestand ausschließlich aus zwanzig- bis vierzigjährigen Szeneschwärmern, die keine Lust auf Diskothekengezappel hatten. Das "Corvus" hatte den Anspruch, eine ungewöhnlich vielfältige Auswahl auch ungewöhnlicher Getränke und ein gepflegtes, schaurig-schönes Themenambiente zu bieten, ohne dabei beklemmend zu wirken. An den Wänden hingen verschiedene Bilder von Raben, und schwarzgefiederte Vogeltrophäen starrten von Fensterbänken und aus Nischen.
Vom blauen Dunst eingenebelt, saß ein junger Mann auf der Bank, die die gesamte Länge der hinteren Wand einnahm, und kritzelte in den Seiten eines Notizbuches. Den Malboro-Aschenbecher auf dem Tisch füllten Kippen und Bleistiftspäne. Hin und wieder nahm er einen Schluck von seinem Hövelsbier und ließ einen verengten Blick durch den Raum wandern. Von seinem Platz aus genoss er den Überblick auf alles und jeden.
Manni, der Kellner, hechtete mit seinem Tablett von Tisch zu Tisch, um leere Gläser einzusammeln. Sein Ruhe bewahrender Blick traf den des Stammgastes mit dem Notizbuch und verstand in dessen freundlich aufforderndem Nicken und Brauenheben die Bestellung eines neuen Bieres. Bald darauf stellte er eine volle Flasche vor den Gast hin, der seinen Kopf kurz zu einem zufriedenen Lächeln hob und ihn dann gleich darauf wieder auf seine Notizen herabsenken ließ.
Wem ein Einblick in das Büchlein gegönnt worden wäre, dem wären sicherlich Zweifel gekommen, dass jemand fähig sein könnte, diese Krakeleien später noch einmal zu entziffern. Die langgezogenen Schlangenlinien, die vorgedruckte Zeilen völlig ignorierten und die hier und da Platz sparende Bleistiftergänzungen hatten erdulden müssen, hätten das Lesen selbst einem Schultergucker schwer gemacht.
Menschen 2001-04-20
Frauentyp; Marke Mauerblümchen; irgendwo zw. Tippsen-Fräulein Trudel (Gaston) im Ausgeh-Look & Mädel, das sich in Männerzeitschriften als Sekretärin verkleidet; zierlich; unscheinbar hübsch; ungeschliffener Rohdiamant' (hübscher Begriff!! Merken!) schwer bestimmb. Alter, mögliw. 25-35, ungew. rege Mienentätigkeit
> unnötig prüde Seidenbluse m. Schnürschlaufe, farbl. passende Weste & Stoffhose, typische Schuhladen-Schaufenster-Lederpumps; Brille, zu bunt.
> Lange, leicht lockige Haare; Mahagoniton, Pferdeschwanz, m. zur Kleidung pass. Spange (H. glänzen wunderschön, machen sich geöffnet sicher besser, erahne Silbersträhnen)
- Trinkt nach wiederh. Bestellung endlich Milchkaffee (logisch)
- ständiger Blick z. Tür; Aufrichten bei jeder Windfangbewegung, als wolle sie den leichten Schreibtischbuckel durch geradere Haltung vertuschen
- häuf. Uhrenschauen & Ponylockenzwirbeln
- besorgt Umhergucken, als könne sich jmd (der Erwartete?) unter die Gästen gemischt haben & sich über ihr Warten lustig machen. (Wer macht denn sowas?)
- holt Taschenkalender aus Handasche (konserv. Exemplar; tippe auf Lederimitat, Muster erinnert an Mauerfugen aus Leder), blättert, Stirnzunzeln > dann ein Handy, drückt 1-2 Tasten, verharrt, wählt nicht, steckt beides wieder ein.
- Wiederh. Taschengriff; Armbanduhr, Draufschauen, Wegstecken (blödsinnig, sie nicht am Handgelenk zu lassen) > Schminkspiegel (Hallo, Klischee!), skept. Lippen-&Brauenmustern, Blick zur Tasche (Frisches Rouge? Lippenstift?), offenb. entmutigter Verzicht.
- stellt Tasche vom Schoß auf den Tisch, vom Tisch auf Nachbarstuhl, von Stuhl neben sich auf Bank; kurzes Verharren, Türenblick, Mantel schnell über Handtasche. Warten. - Armes Mädchen."
Das so beschriebene Beobachtungsopfer saß am Tisch links nebenan. Den Kopf in die aufgestellte Hand gestützt, matschte sie nun im Wachs einer in eine Baileysflasche gepfropften Kerze herum. Heller Wachs flutete wie ein Aderlass.
Der Mann lächelte mitleidig und zündete sich eine Zigarette an. Als er das Zündholz auswedelte, bemerkte er den Blick seiner Tischnachbarin mit verlangend verbogenen Brauen auf seiner Glimme herumtanzen. Ihr Mund öffnete sich leicht, schloß sich aber wieder mutlos. Er griff nach der Zigarettenschachtel und rappelte damit in ihre Richtung. "Auch eine?"
Ertapptes Zusammenzucken. "Oh, ich ... ich wollte Sie nicht ..."
"Tun Sie auch nicht", unterbrach er sie. "Kein Problem. Nehmen Sie ruhig. Sind die Billigen."
Sie gab sich einen Ruck. "Ach, warum nicht?"
Umständlich fingerte sie sich eine Zigarette heraus. Er riß für sie ein Streichholz an. "Danke. Sehr freundlich." Sie blies den Qualm schnell nach oben, schmunzelte verlegen. "Ich rauche eigentlich gar nicht."
"Sieht man", grinste er.
Ihr Blick krallte sich erneut am Kneipeneingang fest.
"Läßt ganz schön auf sich warten, hm?"
Ihre Aufmerksamkeit ruckte zu ihm herum. "Wie bitte?"
"Ihr Date."
"Mein ..." Sie runzelte verwundert die Stirn, lachte dann befreit. "Oh, ach so. Nein, nein, ich ..." Ihr Kopfschütteln verwandelte sich in ein resigniertes Nicken. "Ja. Ja, ich schätze, Sie haben recht." Sie mühte sich mit einem Lächeln ab, umfaßte ihre Kaffeetasse, als wolle sie sie erwürgen.
Der Windfang bewegte sich. Blitzschnell straffte sich ihre Haltung, ihre Mundwinkel zuckten empor, in ihrem Hals wippte der Kehlkopf. Der schwere Stoff vor der Tür wurde zur Seite bewegt. Einige Endzwanziger betraten herumflaxend das Lokal.
Die Frau am Nebentisch sackte wie ein Käsesoufflee in sich zusammen. Ihre Mundwinkel drückten Grübchen in die Wangen, ihre Brauen sanken zwischen die grauen Augen.
"Ein Er?"
Als hätte sie die Bewegung einstudiert, ruckte sie wieder zu ihm herum. Ihr Gesicht war eine ständige, verunsicherte Bewegung. "Wie bitte?"
"Erwarten Sie einen Mann?"
"Ahm. Ja."
"Ihren Freund?"
Dieselbe Geste, die gleiche Mimik. "Einen ... ja. Ich meine Nein! Er ist ..." Sie wankte unbeholfen mit dem Kopf. "Eigentlich ist er mein Kollege."
"Aah", dehnte der Mann und legte eine wohl dosierte Kunstpause ein. "Und uneigentlich?"
Sie schnalzte genervt, rollte die Augen. "Uneigentlich auch."
"Uneigentlich was? Ihr Freund oder ihr Kollege?"
Sie musterte ihren Tischnachbarn befremdlich, konnte sich aber ein Schmunzeln nicht verkneifen. "Eigentlich sind Sie ganz schön neugierig."
"Jep, ich weiß." Er gönnte sich ein breites Grinsen. "Norm-Erlaubnis für ´ne Zwanzig-Pfennig-Fluppe. Sollten Sie sich merken, wenn sie sich an die Dinger gewöhnen wollen, ohne sie zu kaufen. Wäre das ´ne Sechs-Mark-Schachtel, hätte ich jetzt das Recht beleidigt zu sein."
"Er ist ein Arbeitskollege", gestand sie ein wenig patzig, schaute wieder zur Tür.
"Ah, ein Arbeitskollege."
"Ja."
"Arbeitskollegen, die jemanden warten lassen, machen sich Feinde in der Geschäftsführung."
Sie schnappte nach einem Widerwort, räusperte sich aber nur. "Er ist die Geschäftsleitung", murmelte sie bitter.
"Ups!" machte er, sichlich verblüfft über ihre Tonart. "Der Junior-Chef?"
"Nicht ganz. Abteilungsleiter."
"Ah. Welche Branche?"
"Sagen Sie mal ..." Sie wandte sich ihm wieder zu, ein hinreißend entrüstetes Funkeln in den Augen. "Warum wollen Sie das eigentlich wissen? Das interessiert Sie doch eigentlich gar nicht."
Lächelnd hob er die Schultern. "Neugier? Interesse?"
"Interesse." Sie grunzte leise, etwas höhnisch. "Wer's glaubt ..."
Der junge Mann schob den Malboro-Becher an die Tischkante. "Versuchen Sie's mal hin und wieder mit Abaschen. Manni wird Ihnen dankbar sein."
"Wer?"
Er nickte zu ihrer Zigarette, an der sich ohne einen zweiten Zug gute drei Zentimeter Asche klammerten.
"Oh." Mit untergehaltener Hand balancierte sie die Glimme über die Keramikschale. "Zu dumm." Ihr verkniffenes Lächeln bemühte sich um eine unnötige Entschuldigung.
"Warum zweifeln Sie an meinem Interesse?"
"Ich zweifle nicht an Ihrem Interesse an sich, sondern an Interesse an mir."
"Ah, verstehe."
Sie schaute ihn verstimmt an. "Na, danke auch", knurrte sie, sog noch einmal schnaubend am Filter, drückte dann die Kippe aus.
Er lachte amüsiert. "Entschuldigen Sie. Aber das war zu einladend." "Hübsche Tasche", fügte er nach einer kurzen Pause hinzu.
"Hm?"
Er wäre enttäuscht gewesen, eine andere Reaktion zu sehen. Gekonnt beiläufig winkte er zu ihrem Mantelversteck. "Ihre Tasche. Hübsch."
"Oh, danke." Sie schob den Mantel beiseite, stellte sich lächelnd die Handtasche auf den Schoß, legte die Hände wie schützend auf die Lederimitatschnalle.
"Ist das tatsächlich Ihre?"
"Ja. Die habe ich mir ... die ist neu. Sehr praktisch. Paßt alles rein, was man zum Leben braucht. Gab auch noch ein Portemoinaie in der selben Art."
"Oh. Ja, natürlich gab es das", schmunzelte er. "Passende Assessoirs sind wichtig. Sonst sieht's ja nicht aus. Kenn' ich noch von meiner Mutter."
Sie musterte ihn befremdlich von der Seite. "Sie reden komisch, wissen Sie das? Finden Sie sie wirklich hübsch?"
Er grinste. "Nö. Nicht wirklich."
"Bekommst du noch was?" Mannis Stimme riß sie aus der Verwirrung. Doch dessen fragender Blick war ihrem Nachbarn zugewandt.
"Noch mal dasselbe."
"Für mich auch", fügte die Frau am Nebentisch hinzu.
Der Kellner blinzelte sie an, als sei sie gerade vor ihm aus der Sitzbank gewachsen, nickte kurz und entschwand wieder in den von Gästen überfüllten Nebeln.
Der junge Mann rutschte auf der Bank entlang, bis er neben der Frau saß. "Darf ich?"
Einen Moment lang pendelte ihr hektischer Blick zwischen ihm und der Kneipentür hin und her, doch schließlich zuckte sie mit den Achseln, als gebe sie damit eine Hoffnung auf.
Er holte Zigaretten und Jacke zu sich herüber. Bevor er die Flasche auf seinen Bierdeckel stellte, trank er den letzten Schluck aus. "Der Milchkaffee soll hier sehr gut sein", erwähnte er lächelnd.
"Ja, stimmt, das ist er wirklich", bestätigte sie. "Mit Kaffee kenne ich mich aus, wissen Sie. Wenn in der Firma Konferenzen anberaumt sind, mache ich immer den Kaffee. Aber keinen aus der Tüte. Wir haben da so eine Maschine. Die ist richtig toll. Mit Aufschäumer. Gestern hat er gesagt, in unserer Abteilung würde er immer den besten und schönsten Cappuccino bekommen. Wegen dem Schaum. Ich mache da immer noch so'n Schokopulver oben drauf."
Der Mann an ihrem Tisch nickte. "Wie ist er so, Ihr Herr Kollege Abteilungsleiter? Kennen Sie sich gut?"
Verlegen senkten sich ihre Wimpern herab. "Kennen ..." Sie zuckte lapidar mit den Schultern. "Kennen wäre übertrieben. Ab und an trifft man sich halt in der Firma. Auf dem Flur, in der Kantine. Na ja, und er kommt eben zu den Besprechungen. Über ihn selbst weiß ich eigentlich nicht viel. Aber er ist immer sehr ... sehr lustig. Flapsig. Sie verstehen? Eigentlich ´n bißchen unanständig manchmal, aber na ja. Shakert immer ein bißchen mit den Kolleginnen rum und bringt sie zum Lachen."
"Mit den Kolleginnen?"
"Ja, ja. Ach, kein Wunder, bei dem Aussehen. Ist aber solo. Sagen jedenfalls die Kolleginnen. Und er sieht immer gepflegt aus. Duftet gut und so. Ja-a, da achtet er sehr drauf. Vermittelt immer so etwas ... Sicheres. Souveränes. Verstehen Sie? Ja-a, er ist in der kurzen Zeit sehr weit gekommen. Der Chef setzt große Erwartung in ihn. Sagt man."
Manni kam zu ihrem Tisch, setzte die Getränke ab, machte Kreuzchen auf den Deckeln und tauchte wie ein geschäftiger Geist in der Menge unter.
Die Frau rührte in ihrer Tasse herum. Mit einem Male stutzte sie, senkte die Nase in den Dampf, verzog das Gesicht. "Das ist kein Milchkaffee", bemerkte sie. "Da ist ..."
"... ein Pharisäer." Grinste ließ der junge Mann den Verschluß der neuen Flasche aufschnacken. "Riecht man doch. Der Rum ist ja kaum zu verleugnen. Trinken sie ruhig. Schmeckt gut."
Ihr Blick war schon auf Kellner-Suche durchs Lokal. "Ich möchte aber gar ..."
"Probieren Sie doch erst einmal, bevor Sie ‚Ich mag das nicht' sagen. Hat ihre Mutter Ihnen das nicht beigebracht?"
"Aber den hat doch bestimmt jemand ande..."
"Na und? Dann wird Manni das schon merken und es nicht wieder machen. Nun kosten Sie schon."
Sie seufzte ergebend, nippte vorsichtig, verengte die Brauen, nippte noch einmal. Ihre Miene erhellte sich. "Na ja. Eigentlich gar nicht so schlecht", gestand sie, als sie sein Grinsen bemerkte und begann wieder zu rühren. "Das passiert mir häufig. Wenn ich irgend etwas bestelle, bekomme ich entweder erstmal das Falsche oder muß noch zweimal nachfragen, wo die Bestellung denn bleibt. Meistens hat man sie wirklich vergessen."
"Das kommt Ihnen sicher nur so vor."
"Nein, wirklich, das ist so", beharrte sie und nahm einen Schluck aus der Tasse. "Ich versuche immer an alles zu denken. Darum schreibe ich mir auch alles sofort auf." Sie schmunzelte. "In meiner Tasche fliegen Dutzende von kleinen Notizen herum. Da, schauen Sie." Mit einem Griff hatte sie die Handtasche geöffnet. Eine wilde Ansammlung gelber, an einer Leiste befestigter Selbstklebezetteln, wedelte ihnen entgegen. Der Mann neben ihr konnte seinen verblüfften Blick nicht verbergen. "An meinem Arbeitsplatz im Büro hängen auch ganz viele", fuhr sie fort. "Sieht vielleicht ein bißchen ungeordnet aus, aber dafür vergesse ich nichts. Na ja, Sie wissen schon: Was du nicht willst, das man dir tu, und so weiter, nicht wahr?" Ihre schmalen Finger durchwebten den gelben Papierwust. Bei einer Notiz verharrten sie. "Oh. Der kann weg." Sie zerknüllte den Zettel und warf ihn in den Aschenbecher. "Einkaufsliste von vorgestern", sagte sie, als müsse sie sich wieder entschuldigen. "Ist aber eine sichere Methode."
"Hat aber offenbar ihre Tücken."
"Wieso?" fragte sie, immer noch in der Tasche herumnestelnd.
"Haben Sie auch Notizen für Verabredungen?"
"Nein. Nie." Sie schaute irritiert auf. "Warum?"
"Nun, Sie hätten ihrem Herrn Abteilungsleiter eine auf die Kaffeetasse kleben sollen."
Sie wurde rot. "Das ... genau das habe ich ja gemacht", gestand sie leise. "Unten drunter."
"Und wie hat er reagiert?"
"Ach, was weiß ich." Wirsches Schulterzucken. "Ich mache den Kaffee nur. Reinbringen tut ihn eine Kollegin."
Er betrachtete sie aus verengte Augen. "Was stand auf dem Zettel?"
Wieder Achselzucken. "Na, das Übliche halt."
"Das Übliche? Nun sagen Sie bloß noch, Sie machen das öfter?"
"Nein, Gott bewahre", sagte sie fast empört. "Eigentlich nicht. Aber ich wollte eben auch endlich mal ..." Sie zögerte, nippte an ihrer Tasse, schluckte schwer. "Ich dachte, es würde vielleicht funktionieren."
Er nickte. "Sie haben ihn eingeladen, nicht wahr? Nicht umgekehrt."
Ihr Mund öffnete sich lautlos. Dann wandte sie sich ab, als suchten ihre Augen nach einem ausweichenden Thema. Endlich schaffte sie ein Nicken, nahm einen Schluck, peinlich darauf achtend, dabei tief genug in ihren Kaffee zu schauen. "Das hab ich nun davon", klang ihre dumpfe Stimme grimmig aus der Tasse. "Da ist man mal ein bißchen mutig ..."
Neben ihr lehnte sich der Mann zurück und sog einen langsamen, hörbaren Atemzug ein. "Na, dann scheint er wohl doch nicht der so sichere und souveräne Lebensabschnittsgefährte zu sein, den Sie sich in ihm erhofft haben." Seine Betonung des Wortes ratschte haarscharf am Sarkasmus entlang.
"Nur weil er noch nicht gekommen ist? Herrje, jedem kann doch mal was dazwischenkommen. Sonst ist er immer pünktlich. Zu den Konferenzen und so. Immer auf die Minute. Eine Kollegin meinte neulich, er sei in jeder Hinsicht zuverlässig. Ich habe jedenfalls noch von keiner gehört, dass er irgendwann auch nur eine Gele ... eine ... Verabredung ausläßt. Er ist da sehr ... rege. Sagt man." Beinahe erfolgreich beiläufig nahm sie die Kaffeetasse, bemerkte, dass sie leer war, stellte sie wieder hin, schaute ihn an. Sein Blick war sehr ernst und nachdenklich. Sie wich ihm aus.
"Darf ich fragen, wie alt Sie sind?" fragte er unvermittelt.
"Vierunddreißig." Beklommen rutschte sie auf der Bank ein Stückchen von ihm weg. Ihre Hand fand die kleine Zuckertüte auf der Untertasse und drückte auf den verpackten Körnern herum.
"Und wie alt ist er?"
Ihr Körper ruckte nach hinten. "Ach, das ... was hat denn das Alter damit zu tun? Meine Güte, immer wird so besorgt nach dem Alter gefragt. Das ist doch eigentlich gar nicht wichtig, oder? Na ja, gut, es ist schon ... aber viel mehr kommt es doch darauf an, dass ein Mensch einen anderen ... na ja ... auch will. Und außerdem ..."
"Okay, okay", fiel er ihr ins Wort. "Bitte. Bitte vergessen Sie meine Frage." Dann, nach einer Pause: "Was denken Sie jetzt?"
Die Papiertüte riss auf. "Mist." Mit fahrigen Bewegungen fegte sie den Zucker zu einem Häufchen zusammen. "Das ... wie gesagt: Das hat sicher alles einen Grund. Vielleicht kennt er die Kneipe nicht, vielleicht sucht er noch. Wahrscheinlich fährt er da draußen irgendwo herum. Mit dem BMW findet er wohl nur schwer einen Parkplatz. Oder ein dringender Termin. Kann doch sein. Irgend etwas wird ihm halt dazwischengekommen sein."
"Sie haben doch ein Handy. Warum hat er Sie nicht angerufen, um Ihnen ..." "Ach, oder was weiß denn ich!" unterbrach sie ihn heftig. "Kann auch sein, dass er vom LKW überfahren wurde, oder sowas. Ist doch eigentlich auch egal. Wahrscheinlich hat er es einfach nur vergessen." Ihre Stimme wurde wieder ruhiger. "Außerdem hat er meine Nummer nicht", gestand sie murmelnd.
Seine Miene verzog sich. "Ihre Zettelchen funktionieren nicht bei jedem, hm?"
Die Zuckertüte landete zerknüllt im Aschenbecher. "Im ‚Nicht-Vergessen'-Kleben bin ich gut." Grimmige Muskeln ballten sich in ihrem Kiefer. "Aber im Vergessen-Werden bin ich besser."
Der Mann neben ihr wiegte langsam den Kopf. Beide schauten sie in die Flamme der Tropfkerze. Das Kneipengemurmel übertönte ihr Schweigen. Erst nach einer ganzen Weile brach er es.
"Ist er über dreißig?"
"Siebenundzwanzig."
Nicken.
Schweigen.
"Schwärmen viele Kolleginnen von ihm?"
"Alle."
Er schnalzte. "Ja-a, das macht neugierig."
Flammenstarren.
"Und alle sind jünger als Sie, hm?"
"Nächstes Jahr habe ich Betriebsjubiläum. - Zehnjähriges."
"Werden Sie es feiern?"
Sie grunzte verbittert. "Wenn's jemand bemerkt."
"Wenn Sie's verschweigen."
"Wenn's keiner beachtet."
"Dagegen kann man was machen."
"HÖREN SIE ENDLICH AUF!!" schrie sie ihn plötzlich an. "Was wissen Sie denn schon davon?! GAR nichts! NICHTS kann man dagegen machen! Seit zehn Jahren mache ich diesen verflixten Job! Seit zehn Jahren setzt man ganz einfach voraus, dass ich gute Arbeit mache! Dass es aber vortreffliche Arbeit ist, die ich abliefere, dass ich in der ganzen Zeit nicht ein einziges Mal krank war, mich nie beschwert habe, wenn mit etwas nicht passte, dass meine Arbeit keinerlei Makel aufweist, dass sie aber - Verdammt nochmal!! - auch sehr gerne ab und an mal gelobt werden möchte, darauf achtet niemand! Niemand achtet auf irgend etwas, das mit mir zu tun hat! Ich bin so unsichtbar und unwichtig wichtig wie ein Feuerlöscher in einer Wandnische! Meine Anwesenheit merkt man nicht, meine Abwesenheit aber sofort! Und wollen Sie wissen, woran?! KEIN KAFFEE!! Oder, was für diese Schlipsaffen wahrscheinlich noch schlimmer sein wird: Kein Schaum obendrauf! Weil keine von diesen dämlichen Vorzimmer-Küken wissen wird, dass dafür erst einmal Wasser in den Aufschäumertank muß! Ach, Mensch, ist doch so!!" Ohne sich mit einer Bitte aufzuhalten, holte sie sich eine Zigarette aus seiner Packung und entzündete sie an der Tropfkerze. Der junge Mann betrachtete ihr Gesicht - die zierlichen, sich wütend blähenden Nasenflügel, die normalerweise grauen, doch nun funkelnden Augen.
"Man nimmt mich nicht wahr", grollte sie. "Bestenfalls nimmt man mich zur Kenntnis. Aber mehr nicht. Wenn überhaupt." Ihre Stimme bekam einen ätzenden, parodierenden Klang. "‚Oje, ich hatte Sie ganz vergessen, Frau WiehießenSiedochgleich.' -‚Ach herrje, Frau Dingens, jetzt haben wir für Sie gar kein Stück Jubiläumskuchen mehr übrig. Warum haben Sie denn nichts gesagt?' - ‚Hoppla, Frau Äh, hab ich Sie angerempelt? Hatte sie ganz übersehen. Tut doch nicht weh, oder?' - Doch! Verdammt! Es tut weh! Es tut sogar saumäßig weh, wenn die Luft um mich herum dichter ist als ich!!"
Sie hielt inne. Etliche Köpfe hatten sich gedreht. Das Kneipengemurmel war zu einem entrüsteten Flüstern verebbt. Nun, da der Ausbruch offenbar vorbei war, wurden die Konversationen wieder lauter.
"Entschuldigung", hauchte sie, wischte sich über die Augen. Ihr Lidschatten verschmierte. Der Mann neben ihr blickte gleichgültig zu einer Uhr mit Coca-Cola-Emblem. "Eine erfolgreiche halbe Minute Aufmerksamkeit. Nicht übel."
Sie stöhnte. "Ich habe nicht erwartet, dass Sie mich verstehen."
"Tut mir leid, dass ich's kann", sagte er unbeeindruckt. "Sie haben doch bestimmt ein Paket Taschentücher in ihrem Wunderbeutel da, oder?"
Ihre Finger begannen sofort zu kramen.
"Wollen Sie noch etwas trinken? Ich lade Sie ein." Seine Augen suchten kurz zwischen den Rauchschwadenköpfen herum und sendeten dem Kellner einen brauenwippenden Wink. Kurz darauf kam Manni zu ihrem Tisch. "Nochmal dasselbe?"
Sie ließ das Taschentuch sinken. "Nein, ich möchte bitte ..."
"Doch." Er ignorierte den großen Blick, mit dem sie ihn ansah und griff nach seinen Zigaretten.
"Was jetzt?" fragte der Kellner ungeduldig.
"Nochmal dasselbe", bestätigte der Gast am brennenden Streichholz vorbei und Manni verschwand gen Tresen.
Sie starrte den Mann an ihrer Seite immer noch an. Er warf das angebrannte Hölzchen in den Aschenbecher. "Was sollte das denn? - Also wirklich, hören Sie, dieser Pharisäer mag ja ganz passabel schmecken, aber ich möchte eigentlich einen ganz norma..." Sie wurde unterbrochen. "Warum spielen Sie mir hier jetzt schon wieder einen vor? - Eigentlich?"
"Vorspielen? Wie ...? Oh, da ... da irren Sie sich. Wirklich. Ich habe nie ..."
"Ach, kommen Sie." Seine Miene verrenkte sich genervt. "Hören Sie mit diesem Firlefanz auf. Was soll das ganze? Verkaufen Sie mir das doch nicht als ihre Masche?"
"Na, hören Sie mal ... ", empörte sie sich, griff nach ihrer Handtasche, ihrem Mantel. "Was rede ich denn? Ich sag's ja: Das hat man davon, wenn man jemandem ..."
Da wandte er sich ihr mit ganzem Körper zu, die linke Hand mit der Zigarette auf die Rückenlehne gelegt, die Rechte stemmte sich schwer auf das Lederimitat ihrer Tasche. Sie zerrte an dem Riemen, konnte sie aber nicht befreien.
"Gnädigste." Seine Stimme klang herausfordernd, auf seltsame Weise jedoch nicht unfreundlich. Er lächelte. "Ich habe ein Paar gute Augen und Ohren und einen relativ intakten Verstand mit eine hübschen Pensum Menschenkenntnis als Extra. Und Sie können mir nicht weismachen, dass ihr Rumgehabe hundertprozentig ist."
"Was ... was meinen Sie? Lassen Sie sofort los!"
"Ich meine diese unsicheren, verschüchterten Halbwegs-Bewegungen, mit denen sie herumgestikulieren. Ihre Art, die Stirn, genau wie jetzt, in dümmliche Rehblickfalten zu legen. Ich meine dieses ständige Handtaschengefummel und fahrige Geplapper. Ihre geradezu penetrante Höflichkeit. Soll ich noch weiter aufzählen, ja? Ich meine Ihre sprachlichen Absicherungen und dieses nachgefaselte Heruntergefloskel von Ansichten, die den Meinungen anderer Leute entsprechen. All diese ‚Sagt-man's', Eigentlich's, ‚Vielleicht's, et cetera pp. Dieses ganze archetypische Tippsen-Gehabe, dass jedem männlichen Hammel notorische Einfältigkeit vorgaukelt, so viele Schutzinstinkte weckt, dass es fast unerträglich ist, und trotzdem jede maskuline Libido auf meilenweite Distanz rücken läßt, weil man Schmetterlinge niemals vögeln würde."
"Aber ..."
"WAS ?! Schreit Ihr einstudiertes Verhalten Ihnen gerade zu, bitte empört zu sein, weil ich ‚vögeln' gesagt habe?"
"Ich ..." Sie schnappte nach Luft. "Glauben Sie etwa tatsächlich, dass ich Sie die ganze Zeit belogen habe?"
Sein gereizter Blick schweifte über die verrauchte Decke. "Nein, ich glaube nicht, dass Sie mich belogen haben. Ich glaube, dass sie sich selbst belügen. Ich glaube, dass Sie sich auf ein Rolle eingespielt haben, in der Sie alle Welt gerne sehen möchte. Diese Rolle - diese Comicwitzfigur - tut ohne Murren, was man von ihr verlangt, fällt züchtig nicht auf, macht Milchkaffee für Konferenzen zurecht, hübsch, mit Milchschaum und Schoki obendrauf, gibbelt sich mit den Kolleginnen die rot lackierten Lippen feucht über die erfolgsgeilen, patent potenten Chefhengste mit dem Rasierwasserschweif. Es läßt sich nach Strich und Faden verarschen - ohne es zu merken, ha-ha, kichi-kichi - und träumt klammheimlich vom ultimativen Betriebsfick im Kopierzimmer, während das wahre, kleine Ego in der hintersten Seelenecke hockt und den Finger in den Hals steckt. Hut ab! Ein wundervoll handelsübliches Stilles Wasser haben Sie sich da zurechtinszeniert. Das Paradebeispiel eines Mauerblümchens. Und was ist heute? Ihre Rollenschublade ist eingerostet, hoffnungslos festgefahren. Ab und zu mal ein paar Mutschübe. Heimliche Willst-du-mit-mir-gehen?-Ja-Nein-Vielleicht-Zettelchen an Kaffeetassen - daß ich nicht lache. Natürlich kommt der Freiher nicht! Er mußte befürchten, heute abend zu verstauben. Dafür setzt man keinen mühevoll zusammengefickten Ruf aufs Spiel. Eine Naivität haben sie sich da zurechtinszeniert, die wäre bewundernswert, wenn sie funktionieren würde."
Er stampfte den Zigarettenstummel in den Aschenbecher. "Herrgott nocheins! Sie sind doch so temperamentvoll, so voller Feuer. Sie könnten sich geschnorrten Zigaretten an subtilem Sexappeal anflemmen. Aber nein, noch bevor sie etwas entfachen können, drehen sie sich selbst den Gashahn ab, entschuldigen sich sogar noch dafür, dass man sich nach Ihnen umgedreht hat. Kein Wunder, dass sie sich für einen Feuerlöscher halten. Was, zum Teufel, soll das ganze?!"
Fassungslose Wut hatte ihr hübsches Gesicht hochrot anlaufen lassen. Bei seiner Frage preßten sich ihre Augen feucht. "Weil es nicht stimmt", knirschte sie. "Weil ich das eigentlich gar nicht will?"
"Ist das eigentlich Ihr Plan?! Dass in mindestens jedem Satz mindestens einmal das Wort ‚eigentlich' vorkommt?! Natürlich wollen Sie das eigentlich nicht! Sie wollen es eigentlich nicht mehr! Aber was wollen Sie stattdessen? Sicherheit? Anerkennung? Oder ein Abenteuer, damit Sie endlich mal bei ihren Kolleginnen strunzen können? Wenn es das war, dann ist es gründlich in die Abteilungsleiterhose gegangen. Freuen sie sich schon mal auf den morgigen Tag. Sie erleben die perfekte Firmenalltaghölle. Totlachen wird man sich über Sie. Die spitzen Bemerkungen in der Kaffeeküche werden ihnen die Ohren ausstechen. Würde mich doch arg wundern, wenn ihr Herr Souveränundsicher diese alberne Klebezettelaktion für sich behalten hat? Ist doch ein schöner Gag, um wieder ein Küken zum Lachen und auf den Kopierer zu bekommen."
Er nahm einen Schluck und setzte die Flasche so heftig ab, dass Schaum aus dem Flaschenhals quoll. Doch störte er sich nicht daran. "Mauerblumen pflanzen sich nicht fort. Sie stecken in einer Wand fest und verblühen. Machen sie nur weiter so. Verbuddeln Sie sich zwischen den Zettelchen in ihrer Handtasche und alle Welt wird mit Ihrer Vorstellung so zufrieden sein, wie mit ihrer Arbeit. Aber rechnen Sie nicht mit Applaus. Ihr stilles Wasser wird tief und tiefer werden. So tief, dass es irgendwann anfangen wird, nach Methan zu stinken."
"Halten Sie den Mund!" stieß sie hervor.
"Was WOLLEN sie?!" schrie er. "Wenn Sie mir eine scheuern wollen, dann tun Sie das! Aber tun Sie endlich das, was Sie wirklich WOLLEN!!"
"ICH WILL, DASS SIE ENDLICH DEN MUND HALTEN!"
Es klatschte so heftig, dass sein Kopf zur Seite ruckte.
Schadenfreude kicherte durch die Kneipe und aus den Augenwinkeln wartete man gespannt auf eine Reaktion.
Die Frau saß zitternd, die Hände vor dem Mund, neben dem junge Mann, der seine zunehmend roter werdende Wange rieb. Langsam nickte er, nahm die halbvolle Bierflasche, setzte sie an und trank sie in einem Zug leer. Die Frau beobachtete ihn, die Augen flimmernd geweitet, nicht mehr wissend, was sie mit ihren Händen anstellen sollte.
"Oh, bitte, bitte verzeihen Sie ... Gla..glauben Sie mir, das ... das wollte ich eigent ..." "Entschuldigen Sie sich nicht." Er zündete sich eine neue Zigarette an der Kerze an, wandte sich ihr zu - und lächelte. Seine Hand streckte sich ihr entgegen. "Aleksander", sagte er. "Und wie heißt du?"
Eher automatisch als gewollt ergriff sie die Hand. Ihr Druck war kraftlos und klamm. "Judith", brachte sie endlich heraus.
"Hat mich gefreut." Er legte die Schachtel, in der noch einige Zigaretten waren, vor ihr auf den Tisch. "Hier. Damit du heute nicht mehr schnorren mußt." Er erhob sich.
In ihrer Miene stand nichts als Verwirrung. "Wirklich", begann sie zögernd. "Du darfst nicht denken, dass ich das ... Ich meine diese Unbeherrschtheit ... Das ist ei... das ist echt nicht meine Art. Sonst."
"Sonst. Genau." Sein Lächeln wuchs zu einem breiten Grinsen. "Rauchen war auch nicht deine Art, oder? Was dies betrifft: Übertreib es nicht, okay?"
Daraufhin griff er nach seiner Jacke und seinem Notizbüchlein, wedelte mit diesem kurz. "Ich habe zu danken. Interessanter Abend."
Er ging, die Hände tief in den Taschen seiner Jacke, Richtung Ausgang. Bei einem kurzen Stop nahm er eine Flasche Hövels vom Tablett des Kellners, der gerade an einem anderen Tisch bediente, wisperte ihm etwas ins Ohr, worauf dieser lächelnd nickte. Dann verschwand der junge Mann hinter dem schweren Windfang.

(Rest paßt leider nicht mehr hier rein. Fortsetzung unter "Mauerblume"/Fortsetzung)
 



 
Oben Unten