"Meine Mutter hat mich beim Wichsen erwischt" Teil

bassimax

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"Gut, ich hab'ne Taschenlampe dabei, für den Fall der Fälle", sagte ich.
"Und ich Süßigkeiten, falls wir später Hunger kriegen." Frank wedelte mit seiner Tasche.
"Dann kann ja nichts mehr schief gehen. Versteckt eure Räder im Gebüsch, meins nehm' wir zum rüberklettern. Wenn nur ein Rad am Zaun steht, fällt das nicht weiter auf", erklärte Nils. Nachdem wir das erledigt hatten, warteten wir auf weitere Anordnungen.
"Na, und jetzt eben rüber!"
Er nahm seine Tasche, warf sie über den Zaun und kletterte rüber. "Erster!", hörten wir von drüben. Ich folgte seinem Beispiel und landete hockend auf dem Rasen. Wir grinsten uns dämonisch an. Wo blieb Frank?
"Jetzt komm' halt!", drängelte ich.
"Gleich, ich schließ nur eben mein Rad ab", klang es dumpf durch den Zaun.
"Das gibt's doch nicht!" Nils stand auf.
"Wieso? Wenn's weg ist, krieg' ich bestimmt kein neues."
Gleich darauf flog Franks Tasche rüber und traf Nils im Gesicht.
"Danke!"
"Was?"
"Du hast mir deine blöde Tasche an den Kopf geworfen."
Franks Kopf erschien über dem Zaun.
"Oh, 'tschuldigung!", ächzte er.
Nachdem auch Frank drüben war, griffen wir unsere Sachen und schlichen gebückt Richtung Halle, die etwa einhundert Meter entfernt vor uns lag. Einzelne Bäume nutzten wir zur Tarnung aus und sicherten nach allen Seiten.
"Wartet mal!", sagte ich. "Wieso schleichen wir eigentlich? Hier ist doch keiner mehr."
"Und wenn doch?" Nils war skeptisch.
"Na, dann isses' doch besser hier erwischt zu werden, als in der Halle. Bis jetzt ham' wir ja gar nichts gemacht."
"Schleichen macht aber mehr Spaß!", stellte Frank fest.
"Ich find's aber cooler gerade zu gehen", beharrte ich. "Immer diese scheiß Vorsicht! Ich geh' gerade!"
"Dann geh' doch gerade! Als einziger Einbrecher der Welt, der möglichst aufrecht geht!"
"So Mädels, können wir?", unterbrach Nils, "kann ja jeder machen wie er will."
Wir gingen weiter. Nur Frank verhielt sich weiterhin wie ein Indianer, tarnend und täuschen schob er sich konspirativ vor, schien sich nach einer Weile allerdings blöd vorzukommen.
"Ja, schon gut", maulte er und schloss zu uns auf.
Schließlich erreichten wir die Halle. Es gab zwei Türen auf dieser Seite, eine kleinere und eine Doppeltür. Nils entschied sich für die kleinere, kniete sich davor und kramte in seinem Beutel.
"So, jetzt wartet mal eben."
"Was machst du jetzt?", wollte ich wissen.
"Ich hab' mir überlegt, die Tür krieg ich nicht auf, außer ich bohr' den Zylinder raus. Also schneid' ich einfach die untere Scheibe raus. Mit'm Glasschneider. Einfach anritzen und rauskloppen."
"Das ist zu laut!", sagte Frank.
"Viel zu laut!", pflichtete ich bei.
"Nee, isses' nicht! Jedenfalls dann nicht, wenn man die Scheibe dick mit Marmelade einschmiert." Triumphierend zog er ein Glas aus seinem Beutel.
"Woher weißt du das alles?" Frank war von Nils' Wissen beeindruckt, genau wie ich.
"Von mein'm Bruder."
"Aber der sitzt doch im Knast."
"Ja, hat wohl aus Versehen Nutella genommen." Nils bekam einen Lachanfall und hielt sich den Bauch. Nachdem er sich beruhigt hatte, nahm er den Glasschneider und ritzte die Seiten der Scheibe entlang, dann folgten zwei diagonale Linien. Er öffnete das Marmeladenglas und strich den Inhalt mit der Hand auf die Scheibe. "Reicht nicht", murmelte er, nahm ein weiteres Glas aus seinem Beutel und wiederholte das Procedere.
"Fingerabdrücke!", zischte Frank erschrocken.
"Scheißegal. Öffentliches Gebäude, Millionen Fingerabdrücke. Die können uns höchstens nachweisen, dass wir hier mal baden war'n. Nicht grad' ein sensationeller Beweis. Wir wohn' schließlich hier. So, jetzt gibt's 'nen kleinen Rums." Er zog einen Hammer aus dem Beutel, dessen Kopf mit einem Tuch umwickelt war.
"Wart' mal!," unterbrach ich und drückte, einer plötzlichen Intuition folgend, die Klinke. Die Tür ging auf.
"Oh Wunder!", staunte ich.
Nils räumte seine Utensilien ein.
"Da macht man sich ja fast lächerlich. Is' ja richtig langweilig so."
"Buck is' zu alt", meinte Frank sachlich.

Wir betraten die Halle. Die Atmosphäre, die uns entgegenschlug, brachte uns sofort zum schweigen. Stille, Dunkelheit, spiegelglattes Wasser. Kein Getöse, kein Lachen, Quietschen und Plätschern, Rufen und Plumpsen, Spritzen und Jagen. Es war, als stünde man in einer Kathedrale, einem heiligen Raum, den wir durch unser verbotenes Betreten entweihen würden. Ich war eingeschüchtert und fühlte mich unsicher. Wir schwiegen eine ganze Weile. Dann spürte ich einen Widerwillen gegen diese Einschüchterung, ewas Wildes in mir begehrte dagegen auf.
"Is' nur 'ne Badewanne!", sagte ich, schubste Nils in das Becken und sprang hinterher. Der Bann war gebrochen, Frank machte eine Arschbombe vom feinsten. Wir brüllten herum, tauchten uns unter und bespritzten uns. Es störte uns nicht, in unserer Straßenkleidung zu planschen. Scheiß doch auf Badesachen! Wir sind die Könige der Nacht, die Herrscher des Wassers! Wir wurden immer überdrehter, ich verließ das Becken, raste hoch auf das Fünfmeterbrett und ließ mich hinab in die Dunkelheit fallen, das brausende Eintauchen, die Taubheit unter Wasser, grölendes Auftauchen. Gleich darauf die Anderen. Frank, oben auf dem Brett, der noch nie gesprungen war!, schrie "Ich bin der Grösste! Wer bin ich?" "Der Grösste!", antworteten wir. Er zog sein T-Shirt aus, wirbelte damit herum, als sei es ein Lasso und plumpste ungelenk ins Wasser. Nils brachte sogar einen Salto zustande. Mitten in unserer Raserei bemerkte ich, dass ich einen Ständer hatte, aber das irritierte mich nicht, es passte zur Kraft, die ich spürte, zum großen Losgelassensein. Wer ist hier süss? Ich griff von hinten nach Nils und nahm ihn in den Schwitzkasten, er röchelt und bohrte mir seinen Daumen ins Auge, Frank stürzte sich dazu, schubste mich zur Seite, ein Kuddelmuddel entstand, adrenalin- und euphoriegeschwängert balgten wir uns. "Die Rutsche!", fiel Frank ein, wir ließen voneinander ab, um die nächste Station zu feiern. Nach einiger Zeit erlahmten unsere Kräfte, taumelte der Rausch seinem Ende entgegen. Wir stiegen aus dem Wasser, zogen dann doch unsere Straßenkleidung aus, Badehosen hatten wir ja drunter, und legten uns in die Liegestühle. Nur unser schneller Atem war zu hören, der sich langsam beruhigte, wie die Wasseroberfläche vor uns.
"Du hast doch Süßigkeiten?", wandte ich mich an Frank.
"Ja, her damit!", forderte Nils. "Stop!", schrie er auf einmal, sprang auf, als habe er einen Stromschlag erhalten, kniete sich bebend zwischen uns, umgriff unsere Nacken und zog uns ganz nahe an sein Gesicht. Dann flüsterte er wie ein Geisteskranker "Ki-osk".
"Du meinst...," ich stockte, zögerte auszusprechen, was ich nicht zu denken wagte.
"Ja! Genau! Ki-osk!", wollte er die Bedeutung dieser Worte in unser Gehirn zwingen. Wie ein Mann sprangen wir auf, rannten das lange Becken entlang zur großen Eingangstür, durchquerten den Flur mit den Schließfächern und standen im halbdunkel vor dem Kiosk. Die Rollladen waren nicht hinuntergelassen. Alles lag genau so in der breiten Theke, wie immer. Süßigkeiten, Knabbereien, Zigaretten, im Hintergrund eine Kühltheke mit Wurstbrötchen, Koteletts, Hähnchenschenkeln und Getränken. Es war wie im Film, erst geht die Schatzkiste auf, die Finder stehen kurz gebannt und dann geht's los, als bestünde die Gefahr in wenigen Sekunden aus diesem Traum zu erwachen. Wir stiegen rüber und griffen zu, was das Zeug hielt, nahmen schließlich sogar Einkaufstüten zur Hilfe. Ich raubte zwei Schnitzel, drei Hähnchenschenkel, Coladosen, Lakritze, Negerküsse, zwei Schwimmbrillen und eine ganze Hand voll Schokoladentafeln. Nils nahm zudem einige Schachteln Zigaretten. Wie eine feierliche Prozession gingen wir still zurück und nahmen wieder auf den Liegen Platz. Fressen, rülpsen, saufen, sabbern, das Knistern diverser Verpackungen, dazu Musik aus meinem Radio. All das heimelig beschienen vom sternenklaren Himmel und einem großen Halbmond. Dann setzte ein sattes, wohliges Stöhnen ein.
"Herrlich!", seufzte ich.
"Der Tag meines Lebens", sagte Frank.
Nils paffte seine Zigaretten. "Göttlich", meinte er. "Ach ja, wir müssen den Müll dann mitnehm', diese Fingerabdrücke sind gefährlich", er streckte sich und gähnte. Wie gut, dass wir einen Fachmann dabei hatten!
"Wie spät ist es eigentlich?", fragte Frank nach einer Weile.
"Keine Ahnung", antwortet ich.
"Geh' doch vor zur Uhr", schlug Nils vor. Die Uhr befand sich über dem Eingang zur Halle, von hier aus konnte man sie nicht erkennen. Frank stand auf, Nils schubste ihn ins Wasser.
"Schwimmen ist gesünder!"
"Arschloch! Nach dem Essen soll man nicht baden". Er schwamm das Becken entlang, das zum Eingang hin immer seichter wurde, bekam Bodenkontakt, krabbelte einige Meter auf allen vieren, richtete sich schließlich triefend auf und ging auf die Uhr zu. Plötzlich stolperte er, fing sich und blieb stehen. "Da liegt was!" seine Stimme zitterte, "Da liegt was!", wiederholte er erregt. Alarmiert richteten wir uns auf.
"Was denn?" fragte Nils.
Frank stand wie eingefroren und blickte ins Wasser.
"Ich glaub' da liegt einer! Aaaaaahhhh!", schrie er gellend, rannte wie vom Teufel gejagt aus dem Wasser zurück zu uns. Wir sprangen aus den Liegen, ich bekam eine Gänsehaut.
"Da liegt einer! Da liegt einer!", schrie Frank hysterisch, hoppste wie von Sinnen vor uns rum und sah uns mit entsetzten Augen an.
"Da liegt doch keiner!", sagte Nils streng. "Das issen' Schwimmring oder so!"
"Doch! Da liegt einer!" Frank zitterte am ganzen Leib. "Ich hab' Angst!"
"Ich auch", hauchte ich, denn das Grauen hatte mich ergriffen.
"Ruhe bewahren!", fauchte Nils, "Gib' mir mal deine scheiß Funzel, los!"
Ich konnte meine Hände kaum kontrollieren, so sehr bebten sie, bekam die Taschenlampe dann doch zu fassen und reichte sie Nils. "Ihr wartet hier!"
Sein Befehlston war das Einzige, was uns einigermaßen zusammenhielt. Nils ging
vor, betrat das flache Wasser und knipste die Lampe an. Suchend bewegte er den Lichtkegel herum. "Scheiße! Scheiße! Scheiße!", brüllte er plötzlich und zuckte zurück. "Er hat recht. Oh nein!"
"Was issen!", schrie ich durch die Halle, ich hielt es nicht mehr aus.
"Buck! Buck!", brüllte er zurück. "Buck ist tot! Oh scheiße, scheiße! Ich pack's nicht. Buck! Jetzt kommt her, Mann!"
"Nein!", schrie Frank, der zu schluchzen begonnen hatte.
"Komm' du Helmut! Los!"
Eigentlich wollte ich nicht, aber gleichzeitig suchte ich die Nähe des Stärkeren und ging mit zitternden Knien zu ihm.
"Oh, scheiße!", weinte Nils und richtete die Lampe auf das Wasser. Ich ging näher und beugte mich herab. Buck. Seine hellblauen Augen waren geöffnet, die langen, grauen Haare bewegten sich sanft im Rhythmus des Wassers, ein ordentlich gestutzter Vollbart, sein Mund war locker geöffnet. Er trug ein weißes Unterhemd. Für ine Sekunde betrat ich eine andere Welt und fand dieses Bild schön. So ruhig und klar, dieses friedliche, alte Gesicht.
"Frank, kannst kommen, is' schon gut". Ich wollte, dass wir zusammenblieben.
Der Ruhe meiner Worte vertrauend näherte er sich vorsichtig. Schweigend betrachteten wir den Alten. "Wir sollten verschwinden", sagte Nils. Aber es war zu spät. Unsere Brüllerei hatte wohl jemanden alarmiert. Blaulicht blinkte durch die Scheiben.
"Jetzt is' aus", stellte Nils fest. Die Deckenbeleuchtung zuckte an, zwei Polizisten betraten die Halle.
"Meine Herren, das Bad ist schon seit Stunden geschlossen!", sagte einer der Beiden. Ihm fiel gleich auf, dass etwas nicht stimmte. Drei Jungs standen todtraurig im Becken. Frank deutete mit dem Finger auf das Wasser.
"Buck", sagte er nur. "Tod", fügte er an.

Nachdem der Krankenwagen und schließlich ein Leichenwagen gekommen waren, hatte man uns zur Wache mitgenommen und verhört. Erst gegen vier Uhr morgens wurden wir heimgefahren und nacheinander bei unseren Eltern abgeliefert.
Die Konsequenzen dieser Nacht waren für uns sehr unterschiedlich. Frank wurde von seiner Mutter mit Liebe überschüttet, wegen des Entsetzlichen, dass er erlebt hatte. Jede Nacht kontrollierte sie sein Zimmer, um zu prüfen, ob er auch wirklich daheim war.
Bei Nils war mit solchen Tröstungen natürlich nicht zu rechnen. Sein Vater wollte ihn wiederum verprügeln und scheiterte, denn Nils hatte sich gewehrt und konnte sich endlich behaupten. Er meinte, wegen dieses Erfolges habe sich unser Ausflug für ihn, trotz allem, gelohnt. Dennoch musste er in Zukunft vorsichtig sein, von amtlicher Seite hatte es nämlich geheissen, bei einem weiteren Vorfall würde Nils' Eltern das Sorgerecht entzogen werden, und eine Heimeinweisung folgen.
Ich erhielt eine kombinierte Bestrafung. Mein Vater ohrfeigte mich, das erste mal in meinem Leben. Diese Strafe war für mich schlimmer, als der Schrecken im Hallenbad und alle anderen Konsequenzen. Meine Mutter ignorierte mich eine ganze Weile und das konsequent. Da konnte ich so brav und hilfsbereit sein, wie ich wollte. Es dauerte Wochen, bis der Alltag in unserer Familie wieder eingekehrte und ein Pfannkuchen auf meinem Teller landete.
Aber das war noch nicht alles. Ausgerechnet auf dem Friedhof mussten wir vierzig Stunden gemeinnützige Arbeit ableisten - Wege rechen, Gartenabfälle beseitigen, Pflanzen wässern und Unkraut jäten. Auf ein Weihnachtsgeschenk musste ich in diesem Jahr auch verzichten. Schließlich hatten meine Eltern den durch das Plündern des Kiosk entstandenen Schaden zu begleichen.
Die Kreiszeitung berichtete vom unserer Tat und dem Auffinden des Alten Bucks,
der, wie sich herausstellte, einem Herzinfarkt erlegen war. Der Artikel war sehr ausführlich, und widmete sich gottseidank mehr den Verdiensten des Verstorbenen als unserer Nebenrolle. Zu seiner Beerdigung gingen wir nicht.
Von unseren Mitschülern wurden wir bewundert, von den Lehrern auseinandergesetzt und von vielen Eltern ein zeitweiliges Kontaktverbot ausgesprochen.
Unser Ziel hatten wir erreicht. Wollten wir nicht nach Schulbeginn in der Lage sein, eine aufregende Geschichte zu erzählen? Nur, wir hatten keine Lust mehr, diese zu erzählen.
 

Sammis

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Das ist eine spannende, gut geschriebene Geschichte, die mich ein kleinwenig an Tschick erinnert.
Leider wurde das Ende etwas überhastet.
 

Johnson

Mitglied
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Das ist eine spannende, gut geschriebene Geschichte, die mich ein kleinwenig an Tschick erinnert.
Leider wurde das Ende etwas überhastet.
Weil niemand hier aus der Hochkultur zugeben will, das wegen des Titels gelesen zu haben. Ja, unterhaltsamer Text
 



 
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