"Meine Mutter hat mich beim Wichsen erwischt!", ein Pubertätsdrama in zwei Teilen

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bassimax

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"Gestern hat mich meine Mutter beim Wichsen erwischt!", sagte Frank.
"Oh Gott!" Nils schlug sich mit der flachen Hand auf die Stirn. "Wieso haste' denn nicht abgeschlossen?"
"Ich dachte ja, ich hätte. Aber Pustekuchen. Ganz direkt hat sie mich ja auch gar nicht erwischt."
"Wie denn dann? Indirekt?", fragte Nils.
"Also, das kam so, ich hab' doch ein Mikroskop. Ich wollt' mal sehen, wie mein Rotz vergrößert aussieht. Ob da wirklich so ein Gewimmel ist. Jedenfalls hab' ich mir einen runtergeholt und in ein Glas gespritzt. Dann hab' ich einen Tropfen auf 'nen Objektträger getan und mir die Sache angesehen. Hat tatsächlich gewimmelt. Dann geht die Tür auf. Ich nackt auf'm Teppich mit'm Mikroskop, hab' noch'n halben Ständer, steht meine Mutter in der Tür."
"Was hat'se denn gesagt?", fragte ich.
"Nix. Fast nix. Nur 'Also, das ist doch...', dann hat'se die Tür zugeknallt. Das war der schlimmste Tag in meinem ganzen Leben. Ich wär' am liebsten gestorben."
Wir schwiegen betroffen. Schadenfreude empfanden wir keine, vielmehr Solidarität. War doch bei einem Freund der Albtraum aller Dreizehnjährigen wahr geworden. Frank lebte allein mit seiner Mutter, sein Vater war vor Jahren bereits gestorben.
"Ich hab' mich den ganzen Tag nicht mehr aus meinem Zimmer getraut. Nicht mal auf's Klo, obwohl ich pinkeln musste. Und jetzt spricht'se nicht mehr mit mir."
"Zuhause ist sowieso scheiße", sagte Nils. "Gestern hat mein Alter wieder einen Anfall gekriegt. Zum Kotzen!"
"Was hat er gemacht?", fragte Frank.
"Mir eine Ohrfeige gegeben. Ich hab' mir Zigaretten von ihm geklaut. Zwei Stück. Der Sack hatte 'se aber abgezählt gehabt. Das wusst' ich aber nicht. Und dann hat's gekracht". Auch Nils war dreizehn, sah jedoch aus wie ein Fünfzehnjähriger. Kräftig, mit behaarten Unterarmen, als dränge etwas in ihm, möglichst schnell erwachsen zu werden, um seinem tyrannischen Vater bald widerstehen zu können. "Na, dann haben wir ja beide ein tolles Wochenende gehabt. Wie war es denn bei dir Helmut?", wandte sich Frank an mich.
"Ich hab' ferngesehen. Ansonsten war nicht viel los."
Dies waren die ersten Sommerferien, die wir als langweilig empfanden, mag die Vorfreude noch so groß gewesen sein. Dem Spielalter gerade entwachsen, hatten wir die nächste Stufe noch nicht erklommen und hingen zwischen den Zeiten. Einem unbewussten Drang nach Beschäftigung folgend, lümmelten wir ausgerechnet auf einer Bank im verwaisten Schulfhof.
"Noch zwei Wochen, dann sitzen wir wieder offiziell hier", stellte Frank fest.
"Oh Gott!", stöhnte ich. Vier Wochen waren schon zäh vergangen, so zäh wie der letzte Rest Ketchup aus einer Flasche fließt.
In einiger Entfernung fuhr die schöne Cordula auf ihrem Rad vorbei. Sie war 16Jahre alt und mit allem ausgestattet, was uns dann doch gut schlafen liess.
"Vielleicht zeigt'se uns ja ihre Möpse, wenn wir zusammenlegen", sagte Nils.
"Genau, du sagst 'Entschuldigung, ich weiß, wir kennen uns kaum, wir sind drei aufstrebende jungen Menschen, die gerne ihre Möpse sehen würden", lachte ich.
"Oh, gleich sieben, ich muss nach Hause", sagte Frank.
"Scheiße, so geht's nicht weiter!", polterte Nils plötzlich und stand auf.
"Was meinst du?", fragte ich.
"Ich mein', wir können die Ferien nicht einfach abfackeln lassen, ohne dass was passiert. Das is' wie'ne Kinokarte, die man nicht einlöst."
"Aber was sollen wir denn machen?", fragte ich.
"Ich find', wir müssen am ersten Schultag irgend'was Besonderes erzählen können, was Aufregendes oder Abenteuerliches."
"Ja, is' ja gut, aber was?", bohrte ich weiter und fühlte mich von Nils' Aufbruchstimmung angesteckt.
"Keine Ahnung. Am besten, jeder überlegt sich bis morgen was. Dann treffen wir uns wieder hier und tun es einfach."
"Wie soll es denn ungefähr sein?", fragte Frank. "Nur damit ich weiß, worüber ich nachdenken soll."
"Du wirst es weit bringen, oh Verzagter", grinste Nils. "Es muss was sein, wofür man Mut braucht und auch was, das wir bis jetzt noch nicht gemacht haben. Irgend'was Großes."
"Etwas Gefährliches am besten", fügte ich euphorisch an.
"Ge-nau!", stimmte Nils zu. "Wir treffen uns morgen früh wieder hier. Wenn auch nur zwei von uns sich geeinigt haben, muss der Dritte mitmachen. Egal welche beiden. Dann sind wir gezwungen und es klappt bestimmt."
"Aber, wenn es was Verbotenes ist?", wandte Frank ein.
"Na und? Wir wollen ja nicht gleich jemanden umbringen", sagte Nils. "Überlegs dir halt, du musst ja nicht mitmachen. Kannst auch zu Hause sitzen, dann haste' aber die ganzen Ferien über einen Scheißdreck erlebt. Ausser, dass deine Mutter dich anschweigt."
"Am besten, du entscheidest dich jetzt, ob du mitmachst oder nicht", schlug ich vor.
"Aber ich weiß ja noch gar nicht, worum es geht!"
"Ich auch nicht. Das macht es ja noch spannender. Also, ja oder nein?", beharrte ich. Frank dachte nach. Er schien die Machtverhältnisse zwischen dem großen NEIN, das er in sich trug und unseren Forderungen abzuschätzen, übersprang beide Instanzen und sagte:
"Ach, scheiß doch drauf, ich mach' mit!"
„Dann gilt es jetzt!“, sprach Nils wie ein Richter, der ein Urteil verkündet.
Wir schwangen uns auf die Räder und machten uns auf den Heimweg. "Ach ja, Themenbereich Cordula - mein Rat: abschließen!", sagte Nils, bevor sich unsere Wege trennten.

Beschwingt fuhr ich weiter. Das war doch mal was! Da bieten sich ja tausende von Möglichkeiten! Ich war gespannt, was mir einfallen würde, ja freute mich darauf, darüber nachzudenken. Ein Teil meiner Euphorie gründete sich auf die Erkenntnis, dass wir ganz einfach selber entscheiden konnten, etwas Besonderes zu unternehmen. Ohne jemanden zu fragen, als Kapitän des eigenen Lebens! Das war eine richtige, kleine Erleuchtung. Ich fühlte mich frei und genoss den Fahrtwind im Gesicht.
Oh, schon spät!, fiel mir ein und ich legte die letzten hundert Meter rasend zurück, machte eine quietschende Vollbremsung und betrat mit einem gut gelaunten "Hallo Eltern!" das Haus. Diese saßen am gedeckten Küchentisch.
"Na Jung? Wie war's?", fragte mein Vater.
"Gut. Bestens!"
"Na, dann ist ja alles in Ordnung."
"Warst du wieder mit Nils zusammen?", wollte meine Mutter wissen. "Immer, wenn du mit ihm zusammen bist, kommst du zu spät."
"Lass' ihn doch in Ruhe, Hilde. Der Junge ist in der Entwicklung, vielleicht wollte sich sein Gehirn gerade eben zu einem Genie entwickeln und du hast ihn gestört!" blödelte mein Vater.
"Also Paul! Ein bisschen strenger könntest du auch mal sein..." hörte ich meine Mutter sagen und begann zurück in die Welt meiner Gedanken zu kriechen. Was nützt Entscheidungsfreiheit, wenn man keine Entscheidung trifft? "...ein bisschen Autorität...", etwas Gefährliches also. Aber was ist gefährlich? Und auch noch interessant? "...ich immer die Böse, weil du ..." Und auch noch was Neues. Neu, gefährlich, interessant. Das weiß ich immerhin schon. "...und du der nette Kumpel..." Ein Raub! Quatsch, das ist zu gefährlich und böse obendrein. Vielleicht etwas, dass irgendwie mit Sex zu tun hat. Oh ja, genau! "...aber er ist doch gut geraten. Warum soll ich denn auf einmal..." Vielleicht in ein Bordell gehen? Geht nicht. Die lassen uns ja nicht mal rein. Außerdem, naja, vielleicht später mal. Also...eine Telefonzelle umschmeißen? Nee, das geht zu schnell. Wo ist da das Abenteuer? Abenteuer...am besten ein Boot klauen und einfach immer einen Fluss langfahren, immer weiter, tagelang...und eine wunderschöne Anhalterin mitnehmen. Aber Moment, Anhalterin an einem Fluss? ...Fluss, Wasser, schwimmen...
"Ich hab's!", brüllte ich und schlug mit der Faust auf den Tisch. Meine Eltern sahen mich verdutzt an. Wie aus einem Reflex legte mir meine Mutter ihre Hand auf die Stirn.
"Und was hast du?", fragte mein Vater.
"Fieber jedenfalls nicht", antwortete meine Mutter.
"Mir ist nur gerade etwas eingefallen", stammelte ich und grabbelte nach meinem Wurstbrot.

Am nächsten morgen war ich ziemlich nervös. Ich hatte nicht besonders gut geschlafen und wild geträumt. Mein Vater war bereits zur Arbeit gegangen, Mutti wirtschaftete in der Küche herum.
"Na, mein Junge? Soll ich dir mal einen Pfannkuchen zum Frühstück machen? Mit Marmelade oben drauf? Das schmeckt dir doch immer so gut." Oh ja! Immer wenn meine Mutter dachte, dass sie zuviel mit mir schimpfen würde, war sie am nächsten Tag besonders freundlich. Ich sah sie von hinten am Herd stehen und empfand tiefe Zuneigung zu ihr. Aber immer nur, wenn ich sie von hinten sah, genauso erging es mir mit meinem Vater. Ob das wohl auch bei Anderen so war?
Egal, ich musste weg, bevor mir irgendwelche Aufgaben übertragen wurden.
"Ich fahr' heut' zu Frank."
"Is' gut Helmut, macht keinen Quatsch!"
Ich weiß nicht, ob es daran lag, dass ich das Haus verlassen hatte, oder am Sonnenschein. Jedenfalls war meine Nervosität wieder purer Abenteuerlust
gewichen. Aufs Rad und los zum Schulhof! Was werden die anderen für Vorschläge haben? Wer wird sich durchsetzen? Und was zur Hölle werden wir überhaupt machen? Von weitem sah ich Frank auf der Bank sitzen. Vollbremsung. Oha! Frank schien in mieser Stimmung zu sein. Außerdem hatte sich über nacht ein grosser Pickel mitten auf seiner Stirn gebildet. Irgendwie unterstrich dieser Pickel seinen mürrischen Eindruck. Er wird doch nicht...?
"Was is'n los? Machst du einen Rückzieher?"
"Nee, mir is' sogar was eingefallen."
"Gottseidank! Aber was is' passiert? Schweigt deine Mutter immer noch?"
"Leider nicht! Gestern Abend hat sie gesagt, sie hätte mit Oma darüber gesprochen..."
"Ach du Scheiße!"
"...Oma hat gesagt, das sei ganz normal, Mutti soll sich keine Sorgen machen. Jetzt is' eben wieder ein Mann im Haus."
"Das is' ja ekelhaft! Ich glaub' du kannst jetzt echt 'ne Abwechslung gebrauchen. Wo bleibt Nils?"
"Da kommt ein Raucher", deutete Frank auf einen Radfahrer. Tatsächlich, es war Nils. Mit einer Zigarette im Mundwinkel und einem feinen Grinsen näherte er sich uns, stieg ab, streckte sich und sah uns an, als hätte er den Stein der Weisen entdeckt.
"Noch hast du nicht gewonnen, Nils. Uns ist auch was eingefallen", versuchte ich seiner Siegesgewissheit zu begegnen.
"Was is'n mit dir?", wandte sich Nils überrascht Frank zu. "Wieder nich' abgeschlossen?"
"Jetzt halt's Maul!", brüllte Frank und sprang auf. So etwas kannten wir von ihm bis dahin nicht.
"Moment mal, immer mit der Ruhe..", gab Nils verunsichert wider.
"Ich glaube, wir sollten langsam zur Sache kommen. Wenn ihr euch jetzt streitet, können wir unseren Plan gleich beerdigen. Und das wär' scheiße."
Frank setzte sich wieder. "'Tschuldigung."
"Kein Problem", antwortete Nils. "Also, wer fängt an? Willst du Frank?"
"Ja, o.k. Allllsoo, ... ich schlage vor..."
"Ja? Was denn?", bohrte ich.
"Also ich schlage vor, dass... und zwar..."
"Mein Gott, Frank! Das ist ja nicht auszuhalten!", drängte Nils.
"Ich schlage vor, Stegmann die Scheiben einzuschießen. Und zwar mit Steinschleudern", plapperte er rasend schnell und blickte uns erleichtert an.
"Aha."
"Oh."
Stegmann war der Rektor unserer Schule. Ein unbeliebter, überharter Mann. So hatte er sich schon oft geweigert hitzefrei zugeben, obwohl die offiziell dafür notwendige Temperatur schon längst überschritten war.
"Gar nicht schlecht", sagte Nils.
"Ja, hat was", pflichtete ich bei.
"Jetzt du!", verlangte Frank an Nils gewandt.
"Ich schlag' vor, zum Bahnhof zu fahren und dort auf einen Güterwagen zu steigen. Mit dem fahrn' wir bis zur nächsten Station. Von da schlagen wir uns durch, zurück nach Haus'."
"Gut! Das ist gut!", jubelte ich.
"Moment!", unterbrach Frank. "Die nächste Station is' ungefähr eine Stunde entfernt, also so etwa hundert Kilometer. Da bräuchten wir locker vier Tage um zurückzukommen. Wie soll das gehen? Wir können doch nich' vier Tage wegbleiben! Außerdem bräuchten wir, wir sind ja zu dritt, allein für's Essen 'nen Bollerwagen." Nicht umsonst war Frank einer der Klassenbesten. Ich hätte mich, ohne weiter nachzudenken, glatt auf Nils Idee eingelassen.
"Mist! Daran hab' ich nicht gedacht", gab Nils zu. "Also, Stegmann oder Helmuts Vorschlag. Dann lass' mal hören."
"Ich schlage vor, wenn's dunkel is', ins Hallenbad einzusteigen und uns die ganze Nacht da zu amüsieren."
"Hm", machte Frank.
"Auch nicht schlecht", sagte Nils.
"Der Vorteil wär', wir hätten länger Spaß als bei meiner Idee", meinte Frank. Und das wär' auch der Nachteil."
"Wie kann das denn ein Nachteil sein?" wunderte ich mich.
"Na, umso länger das dauert, desto länger die Zeit, in der wir erwischt werden können. Ich hab' keine Lust in 'nen Jugendknast oder so zu geh'n. Bei den Fenstern hau'n wir einfach schnell ab und hängen nicht ewig 'rum."
"Wegen Knast brauchst'e dir keine Sorgen machen", erklärte Nils. "In 'nen Knast kannste erst ab vierzehn kommen. Du würdest nicht mal in ein Heim kommen. Da müsstest du schon vorher einiges angestellt haben. Gar nix würde passieren."
"Ganz bestimmt nicht?", hakte Frank nach.
"Aber hundertprozentig!"
"Also, mir isses' egal", sagte ich, "ich find' beides gut."
"Ich scheiße mir zwar fast in die Hose, wenn ich denke, dass wir das wirklich machen, aber stimmt, beides is' gut."
"Dann machen wir das mit dem Hallenbad. Das is' was echt Besonderes. Scheiben haben schon viele eingeschmissen", entschied Nils. Frank und ich sahen einander an. Wollen wir? Ich nickte, worauf er nickend antwortete.
"Dann gilt es!", verkündete Nils. "Hand drauf."
Wir gaben uns die Hände und wusste, jetzt war es nicht mehr möglich auszusteigen. Ein lebenslanger Gesichtsverlust wäre die Folge gewesen.
"Um neune macht der Laden dicht", sagte Nils, "sagen wir mal, der alte Buck braucht noch'ne Stunde, bis er weg is'. Dann treffen wir uns um zehn hinten am Zaun. Dann isses' auch schön dunkel. Wir klettern rüber, laufen über's Gelände und machen die Tür zur Halle auf. Endweder mit'm Bohrer oder mit'm Glasschneider, das muss ich noch sehen."
"Bei dir kann einem ja Angst werden", sagte ich amüsiert.
"Was sollen wir denn mitnehmen?", fragte Frank.
"Badesachen?", antwortet Nils, worüber wir uns fast totlachten.

Ohne darüber gesprochen zu haben war klar, wir würden uns bis zum vereinbarten Zeitpunkt nicht mehr sehen. Vielleicht um zu verhindern, dass einer von uns seine Zweifel in den Ring warf, einen anderen ansteckte und somit die ganze Aktion zum Platzen bringen könnte.
Ich fuhr heim und überlegte, wie ich es anstellen könnte, mich heute nacht davonzustehlen. Am besten vortäuschen pennen zu gehen. Etwas auffällig um diese Zeit, aber anders würde es nicht gehen. Angespannt drehte ich meine Kreise im Wohnzimmer. Und dann? Raus übers' Fenster! Erster Stock, aber machbar, wegen der Regentonne, auf die ich mich hinunterhangeln könnte. Was soll ich noch mitnehmen? Außer den Badesachen? Eine Taschenlampe! Und das Radio! Einbruchwerkzeug bringt Nils mit, das is' mal sicher. Oh Gott, 'Einbruchswerkzeug'!
"Na? Hast wohl dein erstes Rendezvous?", fragte meine Mutter und lächelte, als habe sie mich ertappt. "Läufst rum wie ein Tiger im Käfig."
Ich verkrümelte mich in mein Zimmer und packte mein Zeug zusammen. Den Rest des Tages verbrachte ich in einer merkwürdigen Mischung aus Langeweile und Anspannung. Eine Gefühlslage, die mir unerträglich erschien. Ich konnte mich zu nichts aufraffen, als dürfte ich unseren Plan nicht aus den Augen verlieren. Endlich begann es zu dämmern und ich ging ins Wohnzimmer zu meinen Eltern.
"Also, 'Nacht dann."
"Was? Du gehst schon schlafen?", wunderte sich mein Vater mit einem vom Fernseher bläulich beleuchteten Gesicht.
"Ja, ich..."
"Daran merkt man eben, dass Helmut erwachsen wird!", sagte meine Mutter. "Früher wär' er ja im Leben nicht freiwillig vor der Zeit ins Bett gegangen."
"Na denn, schlaf gut!", entließ mich mein Vater.
Treppe hoch, Zimmer abschließen, dann Fenster auf, Rucksack raus, vorsichtig runter, die Arme gaaanz lang werden lassen, mit dem Fuß nach der scheiß Tonne tasten, ah!, da isse' und jetzt tritt fassen. Mit einem Riesengeschepper fiel die leere Tonne auf die Betonplatten und ich auf den Rasen. Augenblicklich wurde das Wohnzimmerfenster aufgerissen und Vati sah mich konsterniert an.
"Helmut? Was machst du denn da?"
Ich wusste einfach nicht, was ich sagen sollte. Der Kopf meiner Mutter erschien.
"Ahahahah", lachte sie.
"Was gibt's denn da zu lachen?", fragte mein Vater vorwurfsvoll.
"Na, dein Sohn hat heute sein erstes Rendezvous. Der war den ganzen Tag schon so komisch, wollt's aber nicht zugeben. Also ich find' das süß. Guck' mal, wie er sich schämt!"
"Bei mir ging das aber einfacher mit dem ersten Rendezvous. Vergiss den Schlüssel nicht, das du uns nicht wachklingelst. Und nu' los, du Casanova!"
Er schüttelte den Kopf und schloss das Fenster. Leise fluchend rappelte ich mich auf und griff meinen Rucksack. Wie war das peinlich! 'Süß'! Wer will denn süß sein? Aber immerhin hatte ich kein Wort gesagt und sie folglich nicht belogen.
Mittlerweile war es so dunkel, dass ich das Licht an meinem Fahrrad anstellen musste. Sehr gut! Ich fuhr durch die laue Nacht und genoss den typischen Geruch, den ein heißer Sommertag hinterließ. Wehmut und Fernweh löste er in mir aus und eine Ahnung von der Größe dieser Welt, meiner eigenen Kleinheit und den unendlichen Möglichkeiten. Gleichzeitig jedoch hatte ich die fatale Ahnung, dass ein sehr normales Leben auf mich warten würde. "Weißt du schon, welchen Beruf du erlernen willst?", hatte mich Vati neulich gefragt und mir angeboten, bei ihm in der Schreinerei ein Praktikum zu machen. Ein Grund mehr, diese Sache durchzuziehen.
In der Ferne sah ich das rote Rücklicht eines Fahrrads. Zeit, Ort und das langsame Tempo ließen mich an Frank denken. "Huhu!", rief ich, "Hi!", bestätigte sich mein Verdacht. Minutenlang fuhren wir schweigend nebeneinander her, nur das witsch-witsch-witsch unserer Dynamos drang in die Stille.
"Und? Auch durchs Fenster rausgekrabbelt?", fragte ich.
"Ja", antwortete Frank knapp.
"Hast du Schiss?"
"Geht so."
Frank war scheinbar mal wieder in sich gekehrt und wollte nicht sprechen. Manchmal nervte mich das. Es wäre mir lieber gewesen, meine Aufregung mit ihm zu teilen. Wir erreichten die Schrebergartensiedlung. Noch zehn Minuten und wir waren am Schwimmbad, das am Ortsrand lag. Es war ein schönes Bad, mit allem Komfort. In der Halle gab es zwei Sprungtürme, drei meter und fünf meter hoch, und eine große Rutsche. Draußen ein Kinderbecken, eine Liegewiese und Duschen. Besonders wichtig war die Gaststätte, die wir gern aufsuchten um unsere paar Kröten für möglichst ungesundes Essen auszugeben. Ich liebte es, mit freiem Oberkörper und nassem Haar dort zu sitzen und heißhungrig Currywurst mit Pommes zu verschlingen. Wer so etwas nicht mochte, konnte nur ein schlechter Mensch sein! Viel wichtiger als das war in diesem Jahr jedoch das Thema Mädchen. Wie viele Stunden hatten wir allein deshalb auf der Liegewiese zugebracht um zu glotzen und uns gegenseitig auf besonders interessante Einblicke hinzuweisen! Löcher wurden in die Kabinenwände gebohrt, rumgeschäkert und bei jeder Gelegenheit versucht, in Körperkontakt mit dem anderen Geschlecht zu treten. Am besten, indem man ein Mädchen einfach ins Wasser schubste, hinterhersprang und sich genüsslich verfolgen und schließlich bestrafen ließ. Aber wie weit war man in jeder Hinsicht von einer Erfüllung entfernt! Dieses Wissen gab all dem Gebalze etwas Qualvolles. Es gab Jungs, die nur ein paar Jahre älter waren als wir und eine Freundin hatten. Sie konnten all das erleben, wovon wir den ganzen Sommer über träumten. Dennoch schienen sie nicht unbedingt glücklicher oder sehr verändert, ja stritten sich mit ihren Mädchen sogar. Wie unbescheiden! Wir mussten warten. Immer mussten wir warten! Auf die Ferien, auf's Taschengeld, auf die Erlaubnis bis zehn aufbleiben zu dürfen, darauf endlich fünfzehn zu werden um ein Mofa fahren zu dürfen und tausend andere Dinge. Warten, warten, warten! Warum waren die Menschen, die nicht mehr warten mussten, die all das hatten und durften, nicht andauernd glücklich? Ich konnte das nicht verstehen. Warteten die denn noch immer auf etwas, auf etwas, das mir nicht bekannt war? Aber heute wurde nicht gewartet, sondern gehandelt!
"Wie bist du eigentlich 'rausgekommen? Dein Zimmer ist doch im ersten Stock?"
Aha, das Tal des Schweigens war durchschritten.
"Ich hab' mich fallen lassen. Erst rausgehängt, dann langgemacht und losgelassen."
"Mir wär' das zu gefährlich. Wäre übrigens ein guter Spruch für meinen Grabstein."
"Was?"
"Na, 'Wär' mir zu gefährlich'. Ach, vergiss es!"
Manchmal erstaunte mich Frank. Ich ahnte, sein Kopf war größer als meiner.
"Hoffentlich ist der alte Buck wirklich schon weg", sagte ich.
"Bestimmt! Was soll er denn um zehn noch da? In dem Alter, der ist doch locker schon über siebzig."
"Komisch, dass der überhaupt noch arbeiten darf."
Das halbe Dorf hatte beim alten Buck schwimmen gelernt. In den Sommerferien wurde er, obwohl schon längst pensioniert, wieder aktiviert um Hagedorn, den regulären Bademeister, zu unterstützen und den Laden abends dicht zu machen.
Über einen Feldweg kommend näherten wir uns der Rückseite des Bades, das von einem hohen Bretterzaun umgeben war. Wir erkannten einen rot glimmenden Punkt. Das musste Nils sein.
"Das Licht inner' Halle is' aus", begrüßte uns Nils leise, sobald wir in Hörweite waren. "Also ist die Luft rein."
 



 
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