"Weihnachtsgeschichte"

4,00 Stern(e) 2 Bewertungen

Stefan

Mitglied
Hedwig, die Weihnachtsgans ( Märchen )

Auf einem großen Bauernhof, irgendwo im hohen Norden, lebte einst eine schneeweiße Gans mit Namen Hedwig. Sie lebte nicht allein auf dem Bauernhof, sonst wäre es dort bestimmt zu langweilig gewesen.
Nein, Hedwig lebte dort zusammen mit drei Hühnern, einem farbenprächtigen Hahn, fünf Schafen einem klapprigen, alten Zugpferd und der Haushündin Lolita, einer rassigen Spanierin aus dem Stamme der Cockerspaniels.
Natürlich gab es dort auch Menschen, nämlich den Bauern Heinrich und seine immer lachende Frau Gisela, die Magd Hilde, die alle Tiere füttern musste und von Hedwig besonders geliebt wurde wegen ihrer beiden strohblonden Zöpfe, nach denen Hedwig hin und wieder im Spiel schnappen durfte.
Hedwig, die Gans war von allen Tieren auf dem Hof das allerschönste. Gerade mal der Hahn Nero konnte mit seinen vielen Farben versuchen, es mit ihrem Schneeweiß aufzunehmen. Und man konnte wohl auch annehmen, dass Hedwig so weiß und elegant, sicher auch die Untugenden vieler weißer und eleganter Damen besaß: die Eitelkeit und die Hochnäsigkeit.
Mitnichten. Hedwig war das liebenswerteste Geschöpf, das ein Bauernhof im hohen Norden beherbergen kann.
Immer hilfsbereit und freundlich, jederzeit gut gelaunt und immer bereit, dem Kummer anderer zuzuhören.
Und Zuhören gehört ja gerade nicht zu den Eigenschaften, die man einer schnatternden Gans zutraut.
Hedwig war sich nicht einmal zu schade, im Sommer auf den Eiern der Henne Kalpurnia zu brüten, als diese sich den linken Flügel gebrochen hatte.
Alle liebten Hedwig und Hedwig liebte alle, und alles wäre genauso friedlich weitergegangen, wäre da nicht das Weihnachtsfest näher gerückt.
Die gutmütige Hedwig fasste es als besondere Ehre auf und freute sich riesig, als sie zufällig vernahm, dass sie in diesem Jahr die Weihnachtsgans werden sollte. Wie schön musste es sein, am heiligen Abend mit einer roten Schleife dekoriert, den schönsten Platz unter dem Weihnachtsbaum einzunehmen.
Voller Stolz erzählte sie das bevorstehende Ereignis der Hündin Lolita, dann dem Hahn Nero und schließlich der Henne Kalpurnia. Aber seltsam, keiner freute sich mit ihr.
Ja, immer wenn sie ihr bevorstehendes Glück mit jemandem teilen wollte, drehte sich der schweigend ab und sah traurig zu Boden.
Hedwig bekam langsam das Gefühl, alle waren traurig und vielleicht sogar eifersüchtig, nicht selbst als Weihnachtsgans den heiligen Abend mit den Menschen verbringen zu dürfen.
Und es wurde still und stiller auf dem Hof und Hedwig wurde von Tag zu Tag trauriger. Gönnte ihr denn keiner die Ehre, eine richtige Weihnachtsgans zu werden?
Als Heinrich eines Tages mit einem scharfen Beil zum Schleifstein am Wassertrog ging, da war es soweit.
Traurig, aber entschlossen machte sich Hedwig zu dem alten Klepper auf, dem Wallach Sebastian.
„Sebastian\" flüsterte die Gans kaum hörbar, „ich habe lange nachgedacht und bin zu einem Entschluss gekommen: Wenn auf diesem Hof keiner mehr mit mir reden will, weil ich offenbar zu unwürdig bin am heiligen Abend die Weihnachtsgans zu sein, dann verzichte ich lieber auf die hohe Ehre.
Euer aller Freundschaft ist mehr Wert als aller Ruhm der Wel.\"
Und während sie Heinrich draußen auf dem Hof laut nach ihr rufen hörte, trat sie noch dichter an Sebastian heran und seufzte mit einer Träne im Auge:
„Du, Sebastian, du bist hier der Älteste, nur dir gebührt die Ehre, die Weihnachtsgans zu sein. Geh hinaus zu Heinrich, er wird sicher nichts dagegen haben.\"
Sebastian schaute die Gans zweifelnd und voller Unglauben an: „Hedwig,\" rief er dann in Panik, „Hedwig, solltest du wirklich nicht wissen, was es heißt, eine Weihnachtsgans zu sein?
Wir alle sind schon seit Tagen traurig, weil wir dich alle vermissen werden. Keiner konnte mehr froh werden mit dem Gedanken, dich als Weihnachtsgans auf dem Tisch von Heinrich und Gisela zu sehen!\"
Jetzt war es Hedwig, die ungläubig schaute und es kostete Sebastian nicht wenig Mühe, der armen Gans die volle Wahrheit zu erklären.
Und langsam begriff Hedwig.
Trotzdem begann sie wieder leise zu lächeln. „Wie schön, „ rief sie, „dann habt ihr mich alle wirklich lieb, denn sonst würde euch mein bevorstehender Tod nicht so traurig machen.\" Und mit beseeltem Lächeln eilte sie Heinrich entgegen.
Als sie aber die wild entschlossenen Augen Heinrichs sah und das scharfe Beil in seiner Hand erkannte, da bekam sie es gehörig mit der Angst zu tun und laut schnatternd rannte sie vor dem Menschen davon.
Und immer schneller rannte sie und immer schneller bis sie den Boden unter den Füßen verlor und plötzlich in der Luft war.
Richtig, erst jetzt wurde ihr bewusst, dass sie ja ein Vogel war und fliegen konnte. Heinrich guckte ganz verdutzt, aber alle Freunde Hedwig, sogar die Magd Hilde riefen ihr zu: „Flieg weg, flieg weit weg, liebe Hedwig, flieg solange du kannst!\"
Und unter dem Jubel der Hofbewohner verschwand Hedwig am südlichen Firmament.

Aber noch ist die Geschichte Hedwigs nicht zu Ende: Denn solange die schneeweiße Gans durch den Raum und die Zeit flog und wo immer sie landete, nirgends schien es ihr ausreichend sicher und weit genug entfernt zu sein, um doch noch von Heinrich und seinem Beil erreicht zu werden.
An einem Abend, der von auffallendem Sternenlicht beschienen war, landete sie erschöpft in einem Stall. Nur ein Esel und eine Ochse fanden sich darin, keine Hühner, keine Schafe und auch kein Sebastian. Aber Hedwig war zu müde. „Hier bleibe ich,\" seufzte sie, und sank zu Boden. „Selbst auf die Gefahr hin, dass Heinrich mich noch erreicht.\"
Aber kein Heinrich tauchte auf. Zwar kamen später noch ein Mann und eine Frau, und noch später ein ganz kleiner Mensch dazu, der in ein Holzgestell gelegt wurde, aber es herrschte eine wohltuende Stimmung voll Friede und Freude. Hedwig wurde endlich wieder die ruhige, weiße und weise Weihnachtsgans. Zusammen mit dem netten Ochsen und dem freundlichen Esel durfte Hedwig das neugeborene Kind bewachen und keiner würde ihr hier ein Leid antun.
Wir ihr sicher alle schon vermutet habt, war Hedwig im Stall zu Bethlehem gelandet und stand dort hinter Maria, Josef und dem Christkind: Der Ochse, der Esel und die Weihnachtsgans.

Wie, ihr vermisst die Gans auf allen Bildern und den schönen Holzkrippen, die den Stall von Bethlehem darstellen? Das ist kein Wunder, denn schließlich soll Heinrich ja nicht erfahren, wo Hedwig jetzt steckt. Aber wenn ihr ganz genau hinseht und ganz genau nachlest, sitzt da zwischen dem Ochsen und dem Esel etwas schneeweißes, glückliches:
Hedwig, die Weihnachtsgans.
 

Ralph Ronneberger

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo Stefan,

erst mal herzlich willkommen auf der Leselupe.
Als Einstieg hast du hier eine Geschichte - nein - ein Märchen präsentiert, von dem ich (beim Titel) schon befürchtet hatte, es könne sich um einen Abklatsch der berühmten Weihnachtsgans Auguste handeln. Zum Glück ist das nicht der Fall. Ich fand das Märchen hübsch und hätte - von ein paar leicht auszubügelnden Flüchtigkeitsfehlern abgesehen - nix zu meckern.
Leider bist du in der falschen Rubrik gelandet. Das kann vorkommen. Ich schiebe deinen Text hinüber zu den Märchen. Ich denke, dort wird man dich und dein kleines Werk willkommen heißen.

Gruß Ralph
 



 
Oben Unten