1. Kapitel meines Romans

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Amy

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Da war nichts in ihrem Kopf. Gedanken, wenn sie überhaupt zu ihr durchdrangen, formten sich zu einem grausamen Wirrwarr aus Verzweiflung, Angst und der schlimmen Gewissheit, dass es unabänderlich war. Endgültig. Ein kühler Luftzug wehte durch die Tür hinein in die Küche. Ihre Brust zog sich zusammen, die linke Hand begann zu zittern. Beinahe hätte sie die Teetasse fallen lassen.
„Ich muss mich zusammen reißen“, sagte sie zu sich selbst ohne die Worte auszusprechen, während sie wie erstarrt ihre eigene Hand beobachtete, das Zittern verfolgte.

Lena sah sich selbst beim leben zu. Jeden Tag, 24 Stunden. Wenn sie Schlaf fand, waren ihr wenige Stunden Ruhe vergönnt, eine Zeit der Flucht vor dem eigenen Dasein. Doch der Morgen kam immer wieder. Wie eine sich aufbäumende Welle brach er über sie herein und holte sie zurück aus den Träumen, aus der anderen Welt, in der ihr Leben als Schatten verblasste und nur der Himmel über ihr zurückblieb. Jedes Mal lag sie da, in der roten Bettwäsche, wie in ihrem eigenen Sarg, und begrüßte den Morgen als wäre er ein alter Begleiter, den man nicht los wurde, ein schlechtes Essen, das gegessen werden mußte. Sie lag dann einfach da und wartete, was passieren würde, wenn sie einfach gar nichts täte. Nur liegen bleiben. Tot sein. Draußen wurde es immer heller. Die Sonne warf ihre Strahlen wie heiße Pfeile auf Lenas erstarrtes Gesicht und sommerliche Wärme begann sich auf der schläfrigen Haut auszubreiten, sie zu kitzeln. Doch meist registrierte sie es kaum. Die Raphael-Engel auf dem Poster an der Decke starrten sie an. Fragend, besorgt und naiv, mit ihren dicken Oberärmchen und dem rotgelockten Haar, das ihnen bis auf die Schultern fiel. Lena starrte mit demselben hoffnungslos unschuldigen Blick zurück, als hoffe sie auf ein Gespräch, eine Antwort auf all ihre Fragen, ihre Verwirrung, ihr Tod-Sein. Sie lag lange so da, wälzte sich von Zeit zu Zeit auf die andere Seite, starrte auf den Computer, danach auf den grün bemalten Holzstuhl in der Ecke, dann wieder auf die Engel. Jeden Tag. Die Wochen zählte sie nicht mehr. War es schon Juli? Oder noch nicht? Der Kalender an der Wand zeigte das Bild einer verschneiten Landschaft in Alaska und darunter stand „Januar 2004“. Er hing einfach da und sie hatte ihn seit Anfang des Jahres nicht mehr berührt. War Zeit nur ein Begriff? Für sie war es so. „Wieso gibt es eigentlich Uhren, wo die Zeit doch nur ein Wort mit vier Buchstaben ist?“ fragte sie sich und fühlte sich wie ein Kind. Das Fragen und Zweifeln war ein Spiel, durch das sie sich wie ein kleines Mädchen in die wohlige Watte der Naivität betten konnte, als letzte verzweifelte Rettung vor der tiefen seelischen Zerstörung. Die Ziffern auf dem Funkwecker verloren ihre Bedeutung, waren ohne Sinn und konkreten Einfluss auf ihre Realität.
Erschien morgens auf dem Display 08.15, drang lebendiges Kindergeschrei von draußen durch das gekippte Fenster. Um 08 Uhr 30 wurde es unerträglich. Die jüngeren Stimmen schrieen, weinten oder lachten herzhaft und ausgelassen. Die älteren waren laut, bestimmend und sagten „Lass das!“, „die Mama holt dich heut Mittag wieder ab“ oder blieben stumm und ließen die Schreie unkommentiert.
Die Stimmen wurden lauter. Lena verbarg ihren Kopf unter dem riesigen Kissen und presste die müden Hände aufs Ohr. Sie wollte die Stimmen vertreiben, ungeschehen machen, ihre Existenz genauso anzweifeln können wie die der Zeit. Und jeden Morgen wusste sie aufs neue, dass nur ein kurzer Handgriff nötig war, um das Fenster zu schließen und die Stimmen wirkungsvoll zum Schweigen zu bringen. Es waren zwei Schritte bis zum Fenster. Doch sie blieb liegen. Sie quälte sich. Sie hasste die Stimmen und ersehnte sie doch jeden Morgen herbei, verzehrte sich nach dem Kinderlachen, das ihr wie ein Messer die Seele zerstach. Sie lauschte, presste das Kissen erneut aufs Gesicht, krümmte sich in den Laken wie ein verwundetes Reh, lauschte wieder. Ihr Körper wollte zerfließen, nicht mehr Teil von ihr sein. Lena rang nach Luft und hoffte, das etwas geschehen würde. Vielleicht würde sie sich einfach auflösen wie ein schlechter Gedanke und nicht mehr da sein.
Das Zittern begann meist in den Beinen, die sich weiß und nackt ihrem Schmerz hingaben. Sie spürte das Beben in ihrer Brust, fühlte, wie es sich erbarmungslos dem Rhythmus der Beine anzupassen versuchte. Ein Rhythmus ohne Zeit. Dann lauschte sie wieder. Die Engel starrten noch immer wortlos vor sich hin. Sie vernahm ein Geräusch, das nicht von draußen zu kommen schien. Es war im Zimmer. Es brach direkt durch sie hindurch, durch ihren um Erlösung bittenden Körper. Das hilflose Schluchzen bahnte sich seinen Weg und der Schrei ihrer eigenen Stimmer drang an Ohren, auf die sich noch immer zwei magere Hände pressten.
Dann kamen die Tränen. Salzige Tropfen, angefüllt mit dem Schmerz ihrer verwundeten Seele, der alles verzehrenden Traurigkeit, die sich wie das eigene Blut in all ihren Gliedern ausgebreitet hatte. Immer wieder zuckte sie vor Schreck heftig zusammen, aus Furcht vor ihrem eigenen Schluchzen. Sie weinte herzzerreißend und klagend wie ein Kind, nur dass es ihr eigenes Herz war, das dabei zerbrach und ihre eigene Existenz, die sie beklagte. Diese Gabe war einem Kind verwehrt.
Lena klagte jeden Morgen und wusste am einen Morgen, dass es am nächsten nicht anders sein würde. Irgendwann wurden die Tränen kraftlos, brachen nicht mehr wie ein Gewitter aus ihr heraus, sondern wurden zu einem lauen Sommerregen, nass und leise und ohne Gefahr. Dann war es vorbei. Sie fühlte nichts mehr. Nicht sich selbst und auch den Schmerz nicht. Nicht einmal die Baumwollfasern des von unzähligen Tränen durchtränkten Kopfkissens konnte sie auf der Haut spüren. „Ich bin ein lebloser Gedanke in einem müden Körper.“ dachte Lena und das zarte Empfinden des Selbstmitleids, das ihr noch geblieben war, hüllte sie in einen vorübergehenden Zustand von Infantilität und Geborgenheit, wie eine warme Wolke inmitten des riesigen dunklen Universums. Meist blieb sie dann liegen und ließ sich einfach treiben. Egal wie, egal wohin, einfach nur weg sein. Nicht mehr ans Leben denken. Leben, was war das?
Irgendwann rang sich dann eines der menschlichsten Urgefühle überhaupt bis zu ihrem Bewußtsein hindurch und holte sie zurück in die Wirklichkeit ihres sonnendurchfluteten Zimmers: Hunger. So endete ihr morgendliches Ritual. Jeden Tag.

Und jetzt saß sie da, an dem großen Holztisch in der Küche, mit der Teetasse in der zitternden Hand und einem angebissenen Käsebrötchen auf dem Teller. Es war eine sehr kleine Küche, eine viel größere hätte sie gar nicht benötigt und auch nicht gewollt. Es gab eine kleine Kochnische in der Ecke, die zwei Herdplatten und einen winzigen Backofen umfaßte. Dieser eignete sich hervorragend dafür, heiße Seelen mit viel Käse zu backen. Lena ließ die Seelen immer absichtlich ein wenig zu lang im Ofen, mindestens eine halbe Stunde, so daß der Käse dunkel und knusprig wurde und sich beim Kauen wie Blätterteig anfühlte. Einmal hatte sie sogar einen kleinen Kuchen in den winzigen Ofen gezwängt. Für Bennys Geburtstag im vergangenen Oktober. Die Schokostückchen an der Oberfläche waren ein wenig angebrannt gewesen, aber Benny hatte sich trotzdem gefreut und so viel davon gegessen bis ihm schlecht geworden war.
Als die Erinnerungen daran in ihr hochkamen, spürte sie, wie sie ruhiger wurde und sich das Zittern der Hände legte, wie ihre Seele begann aufzuatmen und ihre Gedanken neue Schritte wagten.
Seine Augen hatten den ganzen Mittag lang geleuchtet und seine Backen, die ganz rot von der frischen Herbstluft gewesen waren, hatten sich aufgebläht wie zwei dicke runde Äpfel, als er den Schokoladenkuchen in den Mund geschoben hatte. Sie hatte ihn geschimpft, weil er seine Hände nicht gewaschen und sich unter den Fingernägeln noch sämtliche Mitbringsel aus der Natur befunden hatten. Aber als er neben ihr am Küchentisch gesessen und vor lauter Glück gestrahlt hatte, hatte auch bei ihr das Lächeln den Kampf mit der Vernunft gewonnen und die dreckigen Finger hatten das bleiben dürfen, was sie gewesen waren: ein Teil der wunderbaren, kindlichen Unvernunft, genährt aus den Wurzeln der Natur.

Lena goss sich etwas Tee nach. Er schmeckte süß und lieblich und sie haßte ihn dafür. Es gab viele verschiedene Teesorten, angereichert mit allen erdenklichen Aromen und Geschmacksverstärkern, je nach Bedarf des Konsumenten. So war diese Gesellschaft. Wieso hatte sie nur geraden diesen gekauft? Sie wünschte sich einen anderen Tee, wünschte sich an einen anderen Ort, in ein anderes Leben, oder zumindest raus aus diesem, ihrem Leben.
Sie fing an, ohne Interesse in einem EINE WELT - Bestellkatalog zu blättern, der am Tag zuvor mit der Post gekommen war. Auf den hinteren Seiten wurden Kaffeesorten und Tee angeboten. Ein dunkelhäutiges Mädchen, das auf dem Foto inmitten von gefüllten Jutesäcken saß, und der Kamera ein Päckchen mit Kaffeebohnen entgegenstreckte, blickte sie aus wachen Augen an. Wie es wohl wäre, den ganzen Tag lang Tee zu verpacken? Diesen süßen Tee, den sich die Menschen der westlichen Länder dann in ihre Teeküchen und Pubs und Studentenbuden holten, um ihre Nachmittage am PC und ihre Abende vor dem Kamin süßer und lieblicher zu gestalten.
Ihre Gedanken überschlugen sich und wie durch einen Sog wurde sie angezogen von den Bildern eines Lebens, das sich in ihrer Vorstellung spiegelte.
Mit so einem Leben wäre alles ganz anders gekommen. Sie hätte andere Eltern gehabt, andere Geschwister. Vielleicht wäre ihr Vater Alkoholiker gewesen oder ihre Mutter eine Prostituierte, oder gar sie selbst. Sie hätte sich am einen Tag überlegt, ob sie für den nächsten genug zu essen haben würde, hätte sich das Bett mit 2 oder 3 Geschwistern geteilt und wäre mit 16 von der Schule gegangen, weil sie mit dem Jungen aus dem Nachbardorf verheiratet werden würde.
In der 10. Klasse hatte Lena über mehrere Wochen hinweg eine Brieffreundschaft zu einem Mädchen aus Sri Lanka aufgebaut, die Krishanthi geheißen hatte. Die Adressen waren von der Englischlehrerin verteilt worden. Sie hatte zu Hause den großen Atlas vom obersten Regal genommen, in auf dem Wohnzimmerboden ausgebreitet und sich stundenlang einer gedanklichen Weltreise gleich um den gesamten Globus geträumt. Sie hatte sich alle Länder auf unzähligen Karten angesehen, die Legenden studiert und die Namen leise vor sich hin gemurmelt. Sri Lanka hatte nach Südsee geklungen, nach Kokosnüssen, duftenden Gewürzen und Menschen mit schönen und leicht bekleideten Körpern.
Als sie den ersten Brief von Krishanthi in den Händen gehalten hatte, hatte sie vorsichtig daran gerochen, in der Hoffnung, dass der herbe Duft des Küstensands oder gar der süßliche Geruch von Kokosnüssen bis zu ihr gelangt war.
Etwa 3 Monate später war ein Brief gekommen, in dem Krishanthi geschrieben hatte, dass sie den Kontakt nicht weiter aufrecht erhalten könne, weil sie geheiratet hätte und nun andere Verpflichtungen wichtiger wären. Sie müßte sich um die Diener im Haus kümmern wenn ihr Mann im Büro war und sich schön machen, sobald er nach Hause kam, und beides würde viel Zeit in Anspruch nehmen. Dem Brief war ein Hochzeitsfoto beigelegt gewesen, auf dem die schöne Krishanthi, gehüllt in einen leuchtend bunten Sari, neben einem Mann jenseits der 30 abgebildet gewesen war. Neben dem Brautpaar hatten vier Hunde gesessen, die sehr gepflegt und wertvoll und gehorsam ausgesehen hatten. Im Hintergrund hatten sich etwa fünfzig Hochzeitsgäste zusammen gedrängt, jeder einzelne ein breites aber süßliches Lächeln auf den Lippen. Es hatte den Anschein gehabt, als hätten alle dasselbe Lächeln gelernt, wodurch es ihr schwer gefallen war, die verschiedenen Gesichter auseinander zu halten. Nachdem sie den Brief gelesen hatte, hatte sie ihn zusammen mit den anderen in den Papierkorb geworfen.
Nun war sie sich nicht sicher , welches Gefühl sie damals dazu verleitet hatte. War es die Wut darauf gewesen, dass Krishanthi plötzlich in die Welt der Erwachsenen eingetreten war und sie sich dadurch dumm und kindlich vorkam? Oder war ihr plötzlich bewußt geworden, dass sich hinter Sri Lanka doch nicht nur Kokosnüsse und sonnengebräunte, nackte Körper verbargen, sondern auch steife Traditionen, egoistisches Prestige-Denken und eine konsumorientierte Hochzeitsgesellschaft mit künstlichem Lächeln auf den eingefrorenen Gesichtern. Gab es das exotisch duftende Sri Lanka vielleicht nur in Lenas Träumen?
Sie verspürte plötzlich die Sehnsucht, diese Briefe noch einmal zu lesen, in ein anderes Leben, eine andere Welt einzutauchen und sich darin zu vergessen. Alles zu vergessen.
Wie ein schwarzes Loch machte sich der Schmerz der Erinnerung erneut in ihr breit und der ferne Klang der Südsee verstummte als leerer, dumpfer, niemals dagewesener Ton in ihrer Seele.
Müde hob Lena den Kopf und blickte aus dem Fenster. Es war schon mittag geworden und die Sonne stand als großer, runder Feuerball am Himmel und blendete sie durch die Scheiben hindurch. Keine einzige Wolke konnte sie entdecken und spürte erschreckt, dass die grenzenlose Weite des blauen Horizonts ihr Angst einjagte. Sie klammerte sich an der Teetasse fest und versuchte einfach nur still zu sein, glaubte, die Geräusche ihres eigenen Atems könnten sie verschrecken und das hilflose Erstarren in Gefahr bringen. Ganz leise und behutsam versuchte sie, Luft zu holen, um nicht zu ersticken. Nur das regelmäßige Ticken der Uhr an der Wand war zu hören und wirkte beinahe ein wenig einschläfernd.
Plötzlich konnte Lena die Stille nicht mehr ertragen, schnappte sich aus einem blitzartigen Impuls heraus Teetasse und Teller, warf das Brötchen in den Abfall und ließ Wasser ins Spülbecken laufen. Der heisse Strahl strömte auf ihre Hände und sie genoß den Schmerz, blickte wie gebannt auf die roten Flecken, die sich auf der zarten Haut bildeten. Mit einer einzigen Bewegung fegte sie das gesamte verbliebene Geschirr der letzten Woche in das Wasser, sah es darin einsam schwimmen, betrachtete den Schmutz und Dreck und empfand dabei ein Gefühl der Wertlosigkeit.
Lena kippte den Rest des Spülmittels dazu und verteilte es im Wasser, bis sich eine dicke, ölig glänzende Schaumschicht gebildet hatte. Verbissen und mit Leidenschaft begann sie, alles Festgeklebte und Eingetrocknete von den Tellern zu kratzen als wäre es das einzige, wonach sie sich jemals gesehnt hätte. Sie schrubbte mit dem Schwamm, kratzte wieder und spürte das Brennen ihrer Fingerknöchel kaum, ließ das Einreißen ihrer vom heißen Wasser geschwollenen Nagelhaut einfach geschehen und sog den Schmerz gierig in sich auf wie die zärtliche Liebkosung eines Geliebten. Glücklich und erstaunt entdeckte das kleine Mädchen, das sie jetzt war, den Schmerz als Spielzeug des Selbstschutzes, als Leidenschaft des kleinen Wahnsinns in ihr, der die ungebrochenen Wellen der Angst nicht mehr ertragen konnte und glaubte, sich darin auflösen zu müssen. Sie durchstöberte im heißen Wasser rastlos die Gänge und Höhlen ihrer eigenen Seele, kratzte den Schmutz von den Wänden, um nicht darin zu ersticken und füllte die Leere aus mit Verletzung und Kampf, den sie gegen die eigene leblose Hülle austrug. Dann lag das Geschirr zum Abtropfen in dem weißen Gitter, und genauso wie das Wasser von den dampfenden Tellern herab floss, ließen sich Tropfen warmen Blutes von ihren Fingern in das heiße Spülwasser fallen, und sie schaute stumm dabei zu, wie sich rötliche Wolken in der von Soßen und Essensresten getrübten Flüssigkeit zu bilden begannen. Es erinnerte sie an das Malen mit Wasserfarben, den Moment, wenn man zum ersten Mal den von Farbe durchtränkten Pinsel in das klare Wasser tauchte, das nach und nach desto dunkler wurde, je mehr Farben hinzukamen.
Es tat gut, das eigene Blut zu sehen.
Sie erinnerte sich an Arztbesuche in ihrer Kindheit, wenn ihr Blut abgenommen worden war.
Während sie ins Spülbecken starrte, spielten sich diese Ereignisse wie ein hektisch abgespielter Kurzfilm vor ihren Augen ab.
Im Wartezimmer konnte man bereits die Schreie und das Schluchzen der Kinder aus dem Behandlungszimmer hören, was meist so schrecklich und herzzerreißend klang, dass die Mütter nicht nur ihre Kinder, sondern auch sich selbst beruhigen mussten. Ihre Mutter hielt ihre Hand, die dadurch ganz feucht wurde. Doch sie hatte keine Angst. Als sie an der Reihe war, saß sie still da und blickte gebannt auf den roten Strahl, der durch die dünne Nadel in die Spritze floss, stellte sich vor, wie diese Flüssigkeit literweise durch ihren eigenen Körper floss und sie am Leben erhielt.
„Gleich ist es vorbei.“ Sagte der Arzt mit väterlicher Stimme und tätschelte Lenas kleinen Kopf. Sie blickte ihn erstaunt an, aus grossen, dunklen Kinderaugen, die gierig waren nach Leben. Sie wunderte sich und hoffte, dass es noch eine Weile dauern würde, dass sie noch ein bisschen zuschauen dürfe, mit ihren Augen aufsaugen könne, was da aus ihr herausfloss. Als alles vorbei war, bekam sie ein Päckchen Gummibärchen, weil sie so tapfer gewesen war.

Die Farbe des Wasser im Spülbecken ging in ein zartes rosa über, als sich ihr Blut verteilt hatte. Ja, sie hatte sich gut gefühlt nach diesem ersten Blutabnehmen. Beschwingt und mit den Gummibärchen in der kleinen, feuchten Hand war sie mit der Mutter aus der Praxis gegangen.
Daraufhin hatte sie beschlossen, dass Arztbesuche etwas Wunderbares waren, eine Reise ins eigene Ich, während der sie all ihre Wahrnehmung auf den eigenen Körper lenken und sich Bestätigung dafür holen konnte, dass sie einzigartig und am Leben war. Lenas Körperbewusstsein war immer mehr gewachsen, hatte sie stark und lebendig gemacht und war beinahe zu einer unstillbaren Sucht geworden. Und da sie ja noch ein Kind gewesen war, hatte man sie obendrein noch für all diese Erfahrungen belohnt. Mal waren es Gummibärchen, ein anderes Mal eine Tafel Schokolade gewesen, die ihr die Mutter nach dem Arztbesuch gekauft hatte.
Sie musste schmunzeln.
Eines Tages, wenige Wochen nach ihrem zwölften Geburtstag, war Lena allein in der Stadt unterwegs gewesen. Sie war durch die Strassen geschlendert, um sich nach einem passenden Geschenk für eine Freundin umzusehen. Als sie neben sich plötzlich das silbern leuchtende Praxisschild des Kinderarztes aufblitzen sehen hatte, war sie wie magisch angezogen stehen geblieben, hatte entschlossen die Klingel gedrückt, das Summen abgewartet und mit aller Kraft die schwere Tür aufgestemmt.
Dann hatte sie auf einmal dagestanden, konfrontiert mit ihrem Vorhaben und einer gelangweilten, sie mit einem fragenden Blick prüfenden Sprechstundenhilfe.
„Ich bin krank, der Doktor muss mir Blut abnehmen.“ hatte sie der dunkelhaarigen und stark geschminkten Dame entschlossen ins Gesicht geplappert.
„Ist deine Mutter auch hier?“ war sie von der verdutzten Frau gefragt worden und hatte den Kopf geschüttelt. Als sie gesehen hatte, wie die Frau zum Telefonhörer griff und sie bat, die Telefonnummer ihrer Eltern zu nennen, war etwas in Lena aufgestiegen, das ihre Pläne durchkreuzt hatte: Panik. Wut. Ohnmacht. Die Einsicht, dass sich diese hässliche, unwichtig scheinende Frau so ohne weiteres ihrer Leidenschaft entgegenstellen konnte.
Mit dieser Erkenntnis war sie aus der Praxis gestürmt, nach Hause gerannt und hatte sich wütend aufs Bett geschmissen und geweint und geschluchzt wie die ängstlichen Kinder in der Praxis, deren Heulen ihr stets auf die Nerven gegangen war.
Ab diesem Tag war all der Zauber verflogen gewesen. Sie hatte begonnen, alle Sprechstundenhilfen und Ärzte und alles, was mit ihnen zu tun hatte, zu hassen. Der nächste Arztbesuch war für Außenstehende recht normal abgelaufen. Lena hatte geweint, als sie die Spritze samt Nadel in der Hand des Arztes aufblitzen gesehen hatte und geschrieen, als er sie in die Armbeuge gestochen hatte. Und als er sie gefragt hatte, was denn passiert sei, weshalb sie plötzlich so grosse Angst hätte, hatte sie ihn aus zusammengekniffenen, listig wütenden Kinderaugen angeblickt und sich vorgestellt, wie sie dem freundlich blickenden Mann durch den weißen Kittel hindurch eine riesige Spritze direkt in den leicht gewölbten Bauch stieß.
Mit dieser Phantasie hatte ihre Sucht ein für alle mal der Vergangenheit angehört. Doch gestillt war sie nie gewesen. Und manchmal, wenn sie abends im Halbschlaf vor sich hin träumend dagelegen hatte, waren zwei kindliche Fingerspitzen an die Schläfe geglitten und hatten genussvoll, Haut auf Haut, gespürt, wie das Blut regelmäßig wie ein Uhrwerk und vor Kraft strotzend durch ihre Gedankenwelt pochte und ihren Körper mit Leben durchströmte.
Lena stand da und wollte all ihre Erinnerungen in dem rötlich gefärbten Wasser ertrinken sehen, stellte sich vor, wie sie sich langsam darin auflösten und unsichtbar wurden. Doch sie waren da, unauslöschbar und auf unerträgliche Weise an ihr nagend und der Anblick ihres eigenen Blutes versuchte vergeblich, ihr ins Gedächtnis zu rufen, dass sie am Leben war und das Leben durch ihren Körper strömte, regelmäßig und unaufhaltsam. Außer sie würde.......sie erstarrte innerlich und erschrak bei dem Gedanken, sich selbst das Leben zu nehmen. Nicht, weil sie Angst davor verspürte. Nein, sie war überrascht, wie einfach es war, sich alles vorzustellen und sich bewusst zu machen, dass ES möglich war. Sie allein hatte es in der Hand. In ihrem Kopf spielten sich die Bilder ab und jedes einzelne war wie ein inneres Aufleuchten eines Feuers, das ihre Seele zum Lodern brachte, heiß und unberechenbar.
Lena stellte sich das leise Geräusch vor, den Moment, in dem das Messer die Zellen ihrer Haut teilen würde. Danach würde alles rot sein. Rot und warm. Und dann nichts mehr. Dunkelheit. Stille. Pures Nichts. Jemand würde sie finden. Tot, hier auf dem Boden in ihrer Küche. Vielleicht schon morgen. Ihre Eltern wollten sie besuchen kommen. Sie würden klingeln und warten. Auf ihrem Handy anrufen. Noch einmal klingeln. Sie würden die Tür einbrechen und sie finden. Neben dem Spülbecken und dem abtropfenden Geschirr. Ihre Mutter würde über ihrem leblosen Körper zusammen brechen. Vielleicht würde sie ohnmächtig werden. Ihr Vater würde sie in den Arm nehmen, sie festhalten und die Nummer des Notfalldienstes wählen.
Es würde eine Beerdigung geben und sie einen eigenen Grabstein bekommen. Vielleicht würde es regnen an diesem Tag und alle müssten schwarze Schirme mitbringen und sich unter den schwarzen, tropfenden Schirmen kauernd um ihren Sarg stellen.
Jonas würde mit Sicherheit ein Lied auf der Gitarre spielen und dazu singen. „Valley`s deep and the mountains so high...“, wie auf der letzten Klassenfahrt vor zwei Jahren. Sie waren alle am Strand gesessen und hatten Marshmellows gegrillt. Der Sand war nachts noch warm gewesen und Lena hatte ihn durch ihre nackten Zehen rieseln lassen und gelacht, weil es so gekitzelt hatte und auch wegen desWeins.......lachen, lachen.....auch als das Kitzeln vorbei gewesen war. Sie hatte sich an Jonas Schultern gelehnt, die Weinflasche in der einen Hand, die fertigen Marshmellows in der anderen und hatte das Vibrieren seiner Gitarre gespürt, die Bewegungen seines Armes, wenn er die Tonart gewechselt hatte.
Würde Susa ein Gedicht vortragen? Oder von den Sommernächten im Heu erzählen, damals, als sie kleine Mädchen mit großen Träumen und langen Zöpfen gewesen waren und die Ferien bei Susas Tante auf dem Land verbracht hatten.
Und was wäre mit den Eltern? Lena versuchte, sich ihre Mutter vorzustellen, in ihrem schwarzen Samtkleid, das sie schon einmal getragen hatte. Sie sah ihren abwesenden Blick, spürte ihre krampfhaft mühevollen und vom Leiden gelähmten Bewegungen, eine zitternde Hand, die Erde auf den Sarg mit der Tochter darin warf. Dann sah sie einen starken Arm, der sich um die Mutter legte und sie vom Grab wegführte. Ihr Vater sah müde aus. Er hatte einen Drei-Tage-Bart und beinahe übersah man dadurch die zwei tiefen Furchen, die sich von seinen Mundwinkeln weg am Kinn entlang gebildet hatten und die letztes Jahr noch nicht da gewesen waren. Sein Kummer hatte ihn alt gemacht und seine innere Stärke schien unter diesen Falten zu verblassen.
Sie sah all ihre Verwandten unter den schwarzen Schirmen. Ihre Großmutter, grauhaarig und zerbrechlich, auf einen Stock gestützt. Alle würden sie dasselbe denken, sich dieselbe Frage stellen und zu dem Schluss kommen, dass es keine Antwort darauf gab.
Auch ihre Eltern würde immer und immer wieder derselbe Gedanken plagen, inmitten aller Trauer und Verzweiflung würde er sie quälen, sie um den Verstand bringen und ihnen keine Möglichkeit lassen, das Geschehene anzunehmen.
Bis an ihr Lebensende würden sie Morgen für Morgen erwachen und sich fragen, weshalb sie die Auserwählten dieses schrecklichen Schicksals waren, weshalb Gott, wenn es ihn gab, zugelassen hatte, dass ihnen das Liebste und Wichtigste, die Freude ihres Daseins, die Früchte ihrer gemeinsamen Liebe, genommen worden waren. Und wenn man sie später einmal fragen würde, was das schlimmste Ereignis in ihrem Leben gewesen sei, würden sie sich müde anblicken und antworten: Der Tod unserer beiden Kinder.
 



 
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