2. Kapitel "Scharlatane, Schurken und Schamanen"

Tobias

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2. Lahme Flügel

„Ich hau´ einfach ab, Baba-life!“ sagte ich und knallte mit ungewollt heftiger Bewegung den Hörer auf. Hilflos saß ich da, atmete stoßweise, wie in Panik. Mein Gesicht hatte sich zu einer spürbaren Grimasse verzogen, die meine innere Zerrissenheit plastisch greifbar machte. Während sich mein Puls schier unaufhaltsam beschleunigte, sah ich mich, wie aus mir selbst herausgetreten, da zusammengesackt auf dem durchwühlten Bett hocken. Bis an die Grenze des Erträglichen gepeinigt von den unablässig kollidierenden Gedanken, die mit panischer Geschwindigkeit durch meinen gemarterten Kopf rasten.
Viel zu laut und aufdringlich klingelt das blöde Ding Sekunden später erneut, zerrt mich gewaltsam zurück in ein Jetzt, das ich nicht wahr haben wollte. Widerwillig hebe ich trotzdem ab, melde mich aber nicht. Kann mir ja ohnehin denken, wer dran ist. Einige bange Sekunden Stille, dann höre ich Anettes vertraute Stimme, fast flehend: „Ey, Mann, mach´ jetzt bitte keinen Scheiß, ja?“ Sie wartet ab, ich erwidere aber nichts. „Ich komm´ gleich vorbei.“ Setzt sie mit fragendem Ton fort, dann folgt wieder eine gespannte Pause. „O.k.?“ Sorge schwingt jetzt in ihrer bebenden Stimme, als befürchte sie, ich sei längst schon über alle Berge. „Ja, ja“ stoße ich schließlich heraus. Dabei klinge ich genervt, was ich gar nicht beabsichtige, es ist ja nicht ihre Schuld. Bloß nicht die Nerven und damit die letzten Freunde verlieren. Hastig versuche ich „Du bist echt lieb“ so überzeugend wie möglich anzufügen. Aber sie hat längst schon eingehängt, sich die Jacke übergestreift und die Haustür ohne abzuschließen hinter sich zugeknallt. Wird gleich hier sein, sind kaum zehn Minuten Fußweg.
Irgendwie freut mich ihre Anteilnahme. Aber gleichzeitig fühle ich mich eingeengt, verletzt in meiner Autonomie als Todkranker meine verbleibende Zeit so auszuleben, wie ich es für richtig hielt. Aber was ist schon richtig in dieser ausweglosen Situation? „Gottverdammter Scheiß“ brülle ich in die Leere um mich. Sie hat ja recht, irgendwie jedenfalls, überlege ich. So einfach mir nichts dir nichts abhauen, das ist natürlich nicht mein Ernst. Kann es einfach nicht sein. Aber was sollte jetzt auch noch einfach sein? Ich seufze laut und herzzerreißend. Stelle unmittelbar fest, wie wenig ich mich leiden kann in meinem Selbstmitleid. Meine Gedanken schlagen doppelt und dreifache Loopings. Reflexhaft springe ich aus dem Bett auf, gehe zum Fenster. Mit verschränkten Armen blicke ich in das trostlose Grau des Kalker Hinterhofs. Die Wohnung, so was musste man kündigen, die Möbel einlagern. Nein, gleich entsorgen. Es würde sowieso eine Reise ohne Wiederkehr sein. Meine Mutter. Die Arme. Litt sicher mehr als ich. So ´n Quatsch, denke ich ärgerlich. „Das ist dann wohl kaum mein Problem“ sage ich erneut seufzend zu mir selbst. Und, klar, Maiko. Ach. Wenigstens eine Erklärung war ich ihr wohl unausweichlich schuldig. Ach, leckt mich doch alle! In letzter Konsequenz war jeder mit sich selbst allein. Spätestens im Angesicht des Todes fallen die Masken. Diese drecks Erkrankung. So schön das ja wäre, von allem losgelöst nur mit ein paar Flocken und ´nem Pass, ab auf den Berg und in die Höhle. Aber, ein Schreck fährt mir durch Mark und Bein, würde ich es überhaupt noch dahin schaffen?
Ich hatte zwar von irgendwem gehört, dass man jetzt in mein geliebtes Hochlandtal eine Straße gebaut hatte, wollte mir das aber nicht so recht vorstellen. Zu sehr kollidierte es mit meiner jetzt so wichtigen Erinnerung an jene so unvorstellbar ungestörte Idylle. Und selbst wenn, denke ich weiter, selbst wenn sie dieses waghalsige Unterfangen tatsächlich durchgezogen haben sollten, ohne dass ihnen die Brückenpfeiler an den steilen Hängen durch die Wucht des Monsuns eingestürzt waren, selbst wenn, nie würden sie bis ganz oben, dort, wo die heiße Quelle war, wo die Saddhus genannten Wanderasketen in ihren Höhlen hausten, wo ich mein Leben in Frieden beschließen würde. Nein. Niemals, bis dorthin konnte doch unmöglich eine Straße auch nur geplant sein? Wenigstens einige Stunden würde ich also über unebene Pfade bergauf kraxeln müssen, bevor ich mich endlich erleichtert am Lagerfeuer der heiligen Männer niederlassen könnte. Und dann?
Ich konnte beim besten Willen nicht sagen, was daran mich eigentlich so faszinierte, in mir eine tiefliegende romantische Ader anzapfte, die eigentlich so gar nicht zu meinem kühlen rationalen Kopf passen wollte. Schon in der Schulzeit, ich erinnerte mich ganz deutlich, fünfte Klasse, bei der todtrockenen Frau Oeshey, hegte ich eine sonderbare Affinität zum steinzeitlichen Höhlenmenschen. Mit Begeisterung stürzte ich mich auf Exkursion ins nahe dem Museum des Neandertals gelegene Bächlein, um mit höchster Konzentration nach einem Faustkeil zu spähen oder sogar selbst zu versuchen, mit einem verdorrten Stück Rinde und einem Ast ein wenig Glut zu erzeugen, bis die Finger lahm wurden. Geschichte, ein Fach das mich künftig immer zu Tode langweilen würde, weil das alles so urlange her war und nichts mit mir zu tun haben schien. Als es aber um das mühsame Leben des Höhlenmenschen ging, da kam ich voll in Fahrt. Vor meinem geistigen Auge, das gewöhnlich in straffen Strukturen projizierte und höchst selten in plastischen Bildern fühlen konnte, entstanden ganze Traumwelten romantischster Steinzeitphantasie. Wie die das Feuer kultiviert hatten! Schlägt während eines eiszeitlichen Unwetters ein gewaltiger Blitz in einen knorrigen Urzeitbaum ein. Mit dumpfem Hall schlägt die Krone auf den starr gefrorenen Boden, der geborstene Stumpf brennt lichterloh. In der Nähe kauern ein paar fellbekleidete Gestalten mit derben Gesichtern in ihrem Unterschlupf und schlottern vor Kälte. Der verkohlte Baumstumpf glimmt noch knisternd, als der Regen, der bereits ihre Höhle zu überfluten drohte, endlich nachlässt. Jemand löst sich aus der Gruppe, wagt es zaghaft, sich dem dampfenden Etwas zu nähern. Begreift schließlich, nachdem er sich zunächst die Hand versengt hat und schreiend zur schützenden Höhle zurück gerannt war, wagt sich erneut vor und sammelt die Glut, trägt sie im Lederbeutel zur Lagerstatt. Staunend drängelt man sich um die Leben verheißende Wärme, mit der man rasch den Umgang lernt. Und bald schon riecht es überall im Neandertal nach gebratenem Mammut. Eine Spezialisierung entsteht, der Feuerwächter. Er (bzw. Sie, ist ja klar. In meiner kindlichen Vorstellung handelte es sich aber glasklar um einen bärtigen Mann mit zotteligen Haaren.) sorgt dafür, dass das Wärme spendende Medium nicht stirbt, hütet die geheimnisvolle Kunst es zu pflegen, wie seinen Augapfel. Der erste Schamane. Ein schlauer Fuchs, erobert er doch eine komfortable Position: gebraucht und gefürchtet, von seiner Sippe unweigerlich mit der gebührenden Ehrerbietung und Respekt behandelt ...
Eine gute Freundin, die sich schon zu jenen Schulzeiten intensiv mit Esoterik, namentlich dem Rebirthing beschäftigte, veranlasste mein Bericht über diese eigenartigen romantischen Regungen mal zu der Mutmaßung, dass ich eine alte Seele sei, die schon seit eben diesen Urzeiten auf dem Planeten weilte. Dabei zwinkerte sie mir verschwörerisch zu, als sei ihre Vermutung eine Art Auszeichnung. „Nicht besonders weit gekommen seitdem, was?“ hatte ich ihre Bemerkung spöttisch abgetan, denn für derartigen spekulativen Unsinn hatte ich wirklich nicht das geringste übrig. Selbst, wenn all der Kram, den sich die Gruppe, zu der ich durch Sanni kurzzeitig Kontakt pflegte, zurechtspann, Wiedergeburt und so, zu beweisen gewesen wäre, was hätte es mit mir, dem heutigen mir zu tun? Eben. Nichts. Ebenso wenig, wie Karl der Große, Otto der Gefräßige und wie sie alle sonst noch heißen mochten. Solche Information taugte schlichtweg nicht zur Auseinandersetzung mit den Gegebenheiten. Jede weitere Vertiefung war somit reine Zeitverschwendung. Meinte ich jedenfalls. Nichtsdestotrotz, der Gedanke an eine mögliche frühere Existenz schlug irgendwie trotzdem Wurzeln. Natürlich nur als rein hypothetisches Denkmodell, das versteht sich ja von selbst. Hatte ich vielleicht durch eine zufällige Kombination einen hohen Anteil originärer Neandertaler-DNS abbekommen, so dass meine Zellen eine Art genetische Erinnerung wachrufen konnten? Faszinierend. Damit könnte man eine ganze Reihe außergewöhnlicher Phänomene erklären. Oder so ähnlich. Und damit vergaß ich die ganze Sache zwischen Pubertät und Abiturprüfung, legte sie ab in der Schublade mit der Aufschrift `nicht relevant´.
Bis ich dann, viel später und gänzlich unerwartet, die eingestaubte Liebe zum Höhlenmenschen bei meinen Reisen durch den Himalaya, die mich letztlich auch in jenes unbeschreiblich schöne Hochgebirgstal führen sollten, wiederentdeckte. Denn die sogenannten Saddhus, besitzlose Wandermönche, mit denen ich hier und da wie zufällig in Kontakt kam, sie hätten gut und gern direkt meiner kindlichen Steinzeitvorstellung entsprungen sein können. Mit ihren zu langen Würsten verfilzten Zottelhaaren, den ungestutzten Bärten, als seien sie direkt einer Zeitmaschine entstiegen. Dazu die gewöhnlich orangefarbene, derbe Baumwollkluft, die keinerlei Anzeichen von Taschen, Knöpfen und ähnlichen modernen Accessoires zeigte, sondern ganz ohne jede Naht ein einziges, kunstvoll gebundenes Stück Stoff war. Filmreif ergänzt durch die einem Tanga ähnelnde Unterhose, die ebenfalls aufwendig geknotet werden musste. Dazu noch den obligatorischen Umhängebeutel, der wahrscheinlich all das enthielt, was ein Asket zum Leben benötigte. Wahrscheinlich sogar das Stück Leder, in das dereinst die heißen Kohlen gewickelt worden waren! Oft begegnete ich einem dieser seltsamen Wesen. Nicht immer gelang die Kontaktaufnahme, häufig wurde ich unwirsch abgewiesen. Hatte ich aber das Glück, an einen Auskunftsfreudigen Vertreter geraten zu sein, dann war ich wie im Rausch brennend daran interessiert zu erfahren, welche Lebensphilosophie sich dahinter verbergen mochte, in moderner Zeit ein derart entbehrungsreiches Leben zu führen.
Einmal, es war in Benares, an den Ghats am heiligen Ganges, dort wo die Toten verbrannt werden und gaffende Touristen mit ihren penetrierenden Kameraobjektiven längst schon keinen Zutritt mehr hatten, war es mir trotz alledem gelungen mich im schemenhaften Halbdunkel des aufglimmenden Morgenrots mit einer Gruppe Indern durch die verwinkelte Gasse hineinzuschleusen. Alsbaldige Entdeckung fürchtend trat ich deshalb nicht auf den allzu freien Verbrennungsplatz, sondern hielt mich gleich rechts, entlang einer Backsteinmauer. Suchte aufgeregt nach einer unauffälligen Ecke, damit man mich erst möglichst spät bemerken würde. Hier hinten stand etwas erhöht und über ausgetretene Stufen zu erreichen ein Pavillon, der mir als Versteck geeignet schien. Ohne weiter zu überlegen saß ich schon mit dem Rücken zur Wand in der hintersten Ecke an einem spärlich züngelnden Feuer. Ich mutmaßte, dass es sich hier also um einen überdachten Lagerplatz für Saddhus handeln musste und schaute scheu umher. Schemenhaft konnte ich bald die Umrisse eines Saddhu erkennen, der an der Wand im rechten Winkel von mir hockte. Er hatte mich natürlich gleich bemerkt und beobachtete mit ungläubig hochgezogenen Brauen, wie ich vor dem Hinsetzen dem Feuer, das überall übereinstimmend von allen Saddhus als heilig bezeichnet und behandelt wurde, meine Ehrerbietung zu Teil werden lies, bevor ich mich setzte. Freundlich aber bestimmt gab er mir zu verstehen, dass Ausländer nicht erwünscht seien, mit ihren respektlosen Fotoapparaten, Schuhen an den Füßen und was nicht alles. Mit väterlichem Wohlwollen musterte er mich im flackernden Schein der vereinzelten Flammen, aus seinen unvergesslich glasklaren Augen, die viel jünger und wacher zu sein schienen, als das der Rest seiner vom Alter gebrochenen Erscheinung erwarten ließ.
Ich versuchte ihm klar zu machen, dass ich kein Tourist mit Kamera war und konnte durch das Rezitieren einiger Sprüche, die ich anderswo aufgeschnappt hatte, scheinbar glaubhaft machen, dass ich durchaus das Recht hatte, dort zu sitzen. Er jedenfalls ließ mich gewähren, drückte die Wirbelsäule kerzengerade durch und schloss die Augen, als meditiere er. So bekam ich die für Ausländer wohl höchst seltene Gelegenheit, meinen Blick ungehindert über den Verbrennungsplatz schweifen zu lassen, der jetzt zunehmend in das warme rote Licht der aufgehenden Sonne eintauchte. Am nachhaltigsten blieben mir allerdings nicht die deutlich in den Flammen erkennbaren Körper in Erinnerung, die eigenartig unwirklich wirkten, wie im Film, oder die selbstverständliche Gelassenheit, mit der die Angehörigen die verkohlten Überreste in den Ganges schaufelten. Was sich am tiefsten eingrub war diese scheinbar selbstmitleidsfreie Ruhe aller Anwesenden. Dieses bei uns so völlig abhanden gekommene Annehmen des Todes als unausweichlichem Bestandteil des Lebens, ein klagloses Trauern. So wunderbar natürlich und frei, unbehaftet von unseren kläglichen Versuchen, den Tod zu verstecken, mit Schminke zu übertünchen, um ihn zu ignorieren. Hier war tot tot. Und mit den Strudeln, die die Asche im trüben Wasser des Flusses nachzeichnete, war die Sache erledigt. Kein Grabstein zwang die Hinterbliebenen sich rückwärtsgekehrt der Vergangenheit zu erinnern, statt vorwärtsorientiert im Jetzt zu leben. In dem Moment, da mir gewahr wurde, wie töricht und lebensfern unser abendländischer Totenkult war, beschloss ich, dass es nach meinem Ableben nichts geben sollte, das an mich erinnern würde.
Beißend stieg mir der Rauch des Lagerfeuers in die Augen. Auf der Zunge hinterließ er einen eigenartig staubigen, leicht süßlichen Nachgeschmack. Der war möglicherweise von den Scheiterhaufen herbeigeweht worden, ein unangenehmer Gedanke. Ich überlegte schon, ob ich nicht bereits die Nase voll hatte und gehen sollte, solange mich noch niemand entdeckt hatte. Doch im gleichen Moment öffnete der steinalte Saddhu seine Augen und wandte sich an mich. Aus seinem Mund, in dem sich nur noch braune Überreste von Zähnen befanden, begann er mich ungefragt zu belehren. Er berichtete über die Besonderheiten gerade dieses Verbrennungsplatzes, die angeblich irgendwas mit lange vergagenen mythischen Ereignissen zu tun hatten, die ich mir nicht merken wollte. Als er aber schließlich dazu überging, die Bedeutung des Feuers zu erklären, hing ich mit großem Interesse an seinen spröden Lippen. Das Feuer werde seit Urzeiten an genau dieser Stelle genährt. Lange noch bevor es je eine Stadt namens Benares mit ihren Ghats und Tempeln gegeben habe, sei dies bereits ein heiliger Ort gewesen. Nie sei das Feuer verloschen.
Unwillkürlich musste ich an das olympische Feuer denken. Da war doch auch so was gewesen, die Flamme des olympischen Geistes musste jeweils an den Ort des Geschehens getragen werden und war bezeichnenderweise erst jüngst auf dem Wege mehrfach verloschen. Die Symbolik lag auf der Hand, ich schmunzelte.
Er nun stehe in jener uralten Tradition, lenkte der Saddhu meine Aufmerksamkeit fast flüsternd wieder auf sein Thema zurück. Denn er sei derjenige, dem die gewichtige Aufgabe zukomme, das Feuer, das er immerzu liebevoll `Shakti´ nannte, zu hüten. Nur mit Glut aus diesem Feuer, erklärte er nuschelnd, dürfe der Stapel Holz zur Totemverbrennung entzündet werden. Für diesen Dienst müssten ihn die Verwandten bezahlen. Wie viel? Ja, das hänge von der Position des Verstorbenen ab. Er wiegte den Kopf und setzte fort: Bei einem armen Mann, da überreichte er die Glut auch mal umsonst. Sei es hingegen ein Reicher, da wären schon mal erhebliche Beträge fällig. Er nannte eine astronomisch hohe Summe, die mir völlig aus der Luft gegriffen erschien, wie um die Wichtigkeit seiner eigenen Rolle zu belegen. Einer dieser Wichtigtuer, grummelte ich. Gleich würde er mich anschnorren.
Dennoch, er hatte mir mit seinen Ausführungen zweifelsfrei einen tragenden Grundsatz des indischen Religionssystems erschlossen. Dass nämlich im Gegensatz zu unserer Religion keine anonyme Kirchensteuer erhoben wird, sondern dessen Überleben ausschließlich von den direkten Gaben der Gläubigen abhängt. Korrupte Priester erhalten nichts, schlecht gepflegte Tempel verkümmern zur Belanglosogkeit. Eine wunderbare Art, das Erstarren des Systems zumindest zu verzögern. Was mir allerdings erst Jahre später aufging.
Jetzt nahm ich diese Besonderheit nur am Rande wahr, so sehr war ich eingefangen vom eintönigen Gemurmel der Gebetsformeln, dem Rot des Sonnenaufganges und von den herbeigewehten dicken rußig schwarzen Rauchschwaden, die den Hintergrund für ein plastisches Szenario boten, das mich zusehends in seinen Bann zu ziehen vermochte. Geradezu maßlos faszinierte mich der Gedanke, dieses Feuer, das jetzt, da der Saddhu es behutsam schürte, meine Wangen glutrot erhitzte, sei genau das Feuer, das direkt von dem zerschmetterten Baumstumpf jenes eiszeitlichen Blitzschlages meiner kindlichen Phantasie abstammte. Ich sah es förmlich vor mir, wie es von Generation zu Generation durch unzählige rußgeschwärzter Hände glitt, schwebte gleichsam mit durch Äonen von Zeiten hin zu dem ganz und gar nicht zu meiner Stimmung passender scharfen Ton, der mir unangenehm bis tief ins Mark drang. Abrupt riss der Faden und ich sah vor mir einen hageren Inder mit dunkler Haut und Schnauzbart mit wild fuchtelnden Händen stehen. Mit zornig blitzenden Augen herrschte er den alten Mann an und deutete wild gestikulierend auf mich. Offensichtlich war ihm meine Präsenz ein Dorn im Auge. Der Saddhu erwiderte zwar kleinlaut etwas, gab mir aber gleichzeitig mit fächelnder Hand zu verstehen, dass meine Zeit nun um sei. Ich sprang auch sofort auf die Füße, verließ den Platz allerdings nicht ohne die vorgeschriebene Drehung um die eigene Achse (die ich mir irgendwo abgeguckt hatte) und die respektvolle Verbeugung vor heiligem Mann und heiligem Feuer. Mit weichen Knien machte ich mich schleunigst von dannen. Hämisch freute mich der verdatterte Gesichtsausdruck des Schnauzbarts, den ich belustigt aus dem Augenwinkel noch erhascht hatte, mein korrektes Einhalten der Etikette sprengte offenbar seine Raster.
Ich hatte es nämlich mittlerweile gelernt, mich unter den Saddhus so zu bewegen, dass man mir im allgemeinen Sympathie entgegenbrachte, denn ich verstand für einen Außenseiter und obendrein Nicht-Inder einigermaßen viel von ihren Verhaltensnormen. Bei jeder Gelegenheit beobachtete ich, was zu welchem Zeitpunkt getan wurde und imitierte es einfach. Man könnte es als eine Art Respektbezeugung vor der alten Kultur bezeichnen oder, weniger wohlmeinend, schlicht ein hohles Nachäffen. Denn, offen gestanden, nicht mal im Ansatz verstand ich die dazugehörige Religion mit ihrem schier unendlichen Götterpantheon, ich wollte es auch gar nicht. Meine Sympathie galt den Saddhus und das Einhalten gewisser Formen hatte sich als Schlüssel dazu erwiesen, von Ihnen nur selten abgewiesen zu werden. So irrational meine zärtliche Sympathie gegenüber diesen kurzen Einblicken, die ich über die Jahre erhalten durfte, für meine sonst so nüchterne Logik war, um so mehr passte dazu die unbewusste Abneigung diese unergründliche Gefühlsregung durch Wissen zu kategorisieren. Dieser Prozess, dessen Anfang noch vor meinem Schulabschluss zu finden war, hatte klammheimlich dafür gesorgt, dass sich neben dem weltoffenen Rationalist ein schwärmerischer Romantiker eingenistet hatte. Tief in meinem Herz war der Mystiker erwacht. Die wenngleich sporadischen Berührungen mit den heiligen Männern, dieser extremen Strömung der hinduistischen Kultur, hatten mich ergriffen und Zwiespalt in mein Innerstes getragen.

Das erste mal, dass ich einen echten Saddhu treffen durfte, das war mit gerade zwanzig in Nepal.
Damals, es war 1988, war Katmandou noch nicht wie heute zu einer Art Außenposten der Disneylandkulisse verkommen. Die Straßen der Altstadt waren gerade erst im zweiten Jahr elektrisch erleuchtet. An jeder Ecke roch es förmlich noch nach dem Ruß der Fackeln aus versunkener Zeit. Saddhus wurden nicht als arbeitsunwillige Schnorrer betrachtet, sondern waren heilige Männer mit gewichtiger Funktion. Schwächer werdend loderte noch der Geist des einst stolzen Königreichs mit seiner selbstgenügsamen Geisteshaltung.
Im gesamten Stadtgebiet war kaum je das Hupen eines Autos zu hören, der Himmel war klar und hatte jenes tiefe dunkle Blau der Gebirgswelt, das sich mit jedem Höhenmeter verdichtet und mehr und mehr dem unergründlichen Schwarz des Universums angleicht. Von dem erst kürzlich zum neuen Touristenzentrum avancierenden Tamel zum Dubarsqaure, dem Hauptplatz gleich beim alten Königspalast, war man mit dem Fahrrad durch die schmalen Gassen auf holprigem Untergrund in gerade mal zehn Minuten geradelt. Eine angesichts des tosenden Verkehrschaos heute unvorstellbare Traumzeit, die vielleicht noch mitten in der Nacht erreichbar sein könnte. Kein Smog, der scharf die Nase reizt. Jede Nische ein Geheimnis. Spärlich beleuchtete Seitengassen, kärgliche Teebuden, überall knisternde Mystik. Auch die „Pigalley“, die schmutzigste Straße Katmandous ???TEMPELBAU??? hieß nicht ohne triftigen Grund so und der Euphemismus, sie Piealley zu nennen, war noch nicht aufgekommen.
Freundliche Menschen traten einem überall aufgeschlossen und interessiert entgegen, beantworteten geduldig auch die obskursten Fragen des Reisenden, machten sich aus Freude am eigenen Leben gern zum Führer und verabschiedeten sich als Freunde. Die letzten Zuckungen eines großartigen Kulturerbes, das zwischenmenschliche Beziehungen ganz anders zu definieren wusste, als durch unsere herzlos-modernen, angebliche Notwendigkeiten der Wirtschaftlichkeit. Ein selbstgenügsames Land wie gesagt, dazu fähig sich am Gegebenen zu erfreuen, statt dem Möglichen hinterherzuhasten. Ein weises Land, in dem Zeit haben als das hohe Gut galt, nicht Effizienz und das ewige Streben nach mehr. 1988, kurz vor dem massiven Einsetzen der viel beschworenen Globalisierung, die nur ein anderes Wort war für die grausamen Riten der gierig um sich greifenden neuen Religion, dem Kult des furchterregenden Gottes Geld. ???Geldgott??? Zum großen Bedauern meiner romantischen Ader gehört das materialistische Glaubensbekenntnis nun unumstößlich auch zur nepalesischen Litanei ...
Auch die von den Einwohnern selbst liebevoll `Freakstreet´ (da die Nepalesen scharfe Konsonanten am Silbenanfang nur schwer aussprechen können, klingt das Wort aus ihrem Mund noch niedlicher: Freak-i-street) getaufte kleine Straße an der Rückseite des Palastes, nahe dem Hauptplatz verdiente ihren Namen noch. Hier wimmelte es nur so von den buntesten Paradiesvögeln. Auch die männlichen Vertreter dieser Spezies schmückten sich über und über mit Ringen, Ketten, Amuletten und Ohrringen aus Silber und schwerem Halbedelstein. Kunstvoll bestickte Westen und fransige Tücher aus leichter Baumwolle um die Stirn gebunden gehörten zum obligatorischen Outfit. So behangen und fast ausnahmslos langhaarig wirkten sie allesamt, als seien sie direkt dem Musical `Hair´ entsprungen. Wie sie mit wiegendem Schritt und wehenden Gewändern da langstolzierten, sich untereinander grüßend oder ein kurzes Schwätzchen haltend, als sei man hier zu hause.
Vermochte die Reise in die andere Kultur zu fesseln, so war es zumindest für mich dieser völlig unerwartete Zeitsprung, der zu den bleibendsten Erinnerungen zählen würde. Fasziniert lauschte ich Geschichten von `damals´, als die Beatles selbst angeblich irgendwo im Himalaya am Lagerfeuer saßen, und merkte mir bis dahin unbekannte Namen wie Tim Leary und die Merry Pranksters. Leute aus diesem `damals´, die eigenartig präsent und immens wichtig zu sein schienen. Unmerklich sachte wurde ich eingehüllt in ein lebendiges Überbleibsel eines eigentlich vergangenen Zeitabschnittes, der das `here and now´ zu seinem Motto erklärt hatte. Dies in offenkundiger Anlehnung an die Weisheiten der überlieferten Traditionen des indischen Subkontinents. Wie ich erfuhr war die Freak(-i-)street in den frühen Sechzigern eine der ersten Anlaufstellen jener außergewöhnlichen Generation gewesen. Auf der Suche nach Alternativen war für die revoltierende Jugend das Erforschen anderer Kulturen früher oder später zwangsläufig. Man war geleitet von dem Wunsch, in die andere Kultur einzutauchen, sie wahrhaftig von innen zu erfahren und möglichst mit ihr zu neuer Einheit zu verschmelzen.
Und zu der Zeit, da ich durch das sich wandelnde Katmandou streifte, war die Freakstreet ein Refugium für solche Menschen mit dem erhabenen Geist jener Bemühungen um Synthese. Kurz bevor sich dieser verflüchtigte und nichts als leere Phrasen und Kulisse hinterließ. Einem neuen Geist wurde Platz gemacht, dem Geist der Globalisierung mit ihrer ganz anderen Art des Reisens, dem Abenteuertourismus. Lediglich danach trachtend, Fremdartigkeit als Attraktion zu konsumieren, um den müden, reizüberfluteten Nerven noch ein kleines Kitzeln abzutrotzen. Aber das ist wirklich eine Geschichte für sich ...
Was mich selbst betraf, so hatte ich zunächst mit diesen archaisch anmutenden Überresten wenig gemein. Die Freakstreet kam mir vor wie ein Zoo und ich glaubte zu wissen, auf welcher Seite der Gitterstäbe ich mich befand. So entsprach mein Vorhaben denn auch ganz und gar dem Zeitgeschmack des aufkommenden Rucksacktourismus: Bergwandern, Neudeutsch: Trekken. Möglichst extrem. Je höher, je weiter, je besser. In dieser Saison war gerade der Jompson Treck erstmalig freigegeben worden, und so hätte ich also mit nahezu unberührtem Originalnepal in Kontakt treten können, doch verpasste ich die Chance in meinem blinden Exotikwahn. Denn Jompson, das klingt eben nach nichts besonderem, barg nicht den rechten Reiz, den der Extremtourismus fordert. Außerdem hieß es obendrein, der Weg sei beschwerlich und die Versorgung äußerst schlecht. Das klang nach Reis und Linsen, Reis und Linsen, Reis und Linsen. Wer wollte das schon? Was ein richtiger Trekker ist, der trinkt schon mal gern eine Cola im Gegenlicht der untergehenden Sonne und lässt sich dabei fotografieren. So war es quasi vorbestimmt, dass die Wahl auf etwas wohlklingenderes fallen sollte: Mount Everest. Basecamp, fünftausenddreihundert Meter über Null. Das macht doch was her! Mount Everest Basecamp, jawohl. Und so entschied ich mich nach kurzer Beratung in einem der wie Pilze aus dem Boden schießenden Trekkingläden, wo man die notwendige Ausrüstung leihen konnte, für diese Variante. Fünftausenddreihundert Meter über dem Meeresspiegel, das sollte es sein.
Natürlich heißt weder der Jompson Jompson noch der Everest Everest. Das sind nur die eher willkürlichen Namen aus der Zeit arroganter Kolonialisten. In der Vorstellungswelt der Nepalis hat jeder Berg seine spezielle Bedeutung. Animistische Ideen, also die Gleichsetzung eines Berges mit einer personifizierten Naturgewalt, fließen hier mühelos zusammen mit der Mannigfaltigkeit des hinduistisch und tibetobuddhistischen Pantheons. Um sich interessanterweise in synergetischer Symbiose letztlich mit modernen Konzepten wie dem Umweltschutz zu assoziieren. Denn bis heute ist es von der Regierung noch niemand genehmigt worden, den Machapuchare (den wir lieblos Fishtail nennen, weil er von einer Seite aufgrund seines Doppelgipfels tatsächlich ein bisschen wie ein Fischschwanz aussieht) zu besteigen. Das war in alter Zeit begründet mit seiner erhabenen Heiligkeit, wohingegen heute hauptsächlich mit Erwägungen des Naturschutzes argumentiert wird. Gegen eine finanzstarke Bergsteigerlobby, die ach so gerne auch diesen jungfräulichen Berg `bezwingen´ möchte. (Ich denke mit Mitgefühl an die bedauernswerten Gemahlinnen der Männer, die solches Vokabular zur Beschreibung ihrer Sportart verwenden ...)
Wer mal wie ich bei dieser `Expedition´ die Müllberge gesehen hat, die eine einzige der unzähligen Gipfelstürmerattacken hinterlässt, wird seine Meinung über die propagierte Reinhold-Meßmer-Idylle gehörig ändern und sich mehr oder minder meiner annähern: nämlich das Bergsteigen eine widerliche Freizeitbeschäftigung für Geistesgestörte ist. Da werden Tonnen an Material von krummgebeugten Sherpas ins Gebirge getragen, zehntausende von Mark pro Expeditionsmitglied ausgegeben und alles, wirklich alles, was man für dieses zweifelhafte Vergnügen braucht, Zelte, Spezialnahrungsverpackung aus Alu und Plastik, ganze Gaskocher, neuwertige Schlafsäcke, einfach alles bleibt dann dort liegen, wo es zuletzt benutzt wurde. Der Auftrag an die Träger, den Mist wenigstens wieder zu Tal zu tragen, würde vielleicht ein paar unwesentliche Mark mehr kosten, aber in der Gipfelstürmereuphorie wird eine solche Kleinigkeit gewöhnlich übersehen. Man kommt ja nur höchst unwahrscheinlich ein zweites Mal, ist ja schon auf dem Weg, die nächste Jungfrau zu bezwingen. Bis zu drei solch waghalsiger Expeditionen täglich muss der Saggarmatha, wie der Mount Everest wirklich heißt, heute über sich ergehen lassen. Als ich das Basecamp erreichte war es vielleicht eine oder zwei die Woche. Und trotzdem, das Müllfeld das sich mir darbot war das Erbärmlichste, was ich bis dahin gesehen hatte. Erbärmlich, weil so einfach zu vermeiden. Ich will gar nicht wissen, wie es da heute aussieht.
Gesegnet sei mir deshalb jener helle Bürokratenkopf, der, sei es aus religiösen oder aus Erwägungen des Umweltschutzes, den Fischschwanz noch nicht zur Häutung freigegeben hat. Wobei ich hier zugeben muss, dass derartige Einsichten natürlich nur langsam und deutlich nach dieser ersten Reise in mein Bewusstsein sickerten. Damals war ich ganz und gar geistiges Kind meiner Erziehung. Als solches neigte ich selbstverständlich zu ähnlich schizophrenen Verhalten und warf meinen Müll achtlos in die Hochgebirgswelt. (Interessanterweise kann ich mich beim besten Willen nicht daran erinnern, wie ich ein Zigarettenpäckchen den Hang hinunter schnippe, mein Unterbewusstsein blockiert da völlig. Ich war aber starker Raucher und hätte ich die leeren Päckchen ins Tal zurückgetragen, daran müsste ich mich doch zweifelsfrei erinnern können.) Dass ich dabei tatsächlich noch den `tropischen Regen- und Nebelwald´ durchwandert habe, ist gesicherte Tatsache, wenn auch eher Zufall denn gewollt.
Dieser wirkliche Urwald ist heute bedauerlicherweise nur noch auf den Landkarten verzeichnet. Auch hier bedurfte es einiger Jahre, bis mir aufging, wie phantastisch dieses Kleinod der Natur wirklich gewesen ist. Es war der Kontrast, als ich mich aus anderen Gründen Jahre später im gleichen Gebiet aufhielt und mir physisch schmerzhaft als ein Stich im Herz bewusst machte, dass diese kahlen Hügel noch vor wenigen Jahren dicht mit jenem sagenhaften Urwald bewachsen gewesen waren.
Massentourismus bedarf massenhaft Unterkunft, warmem Essen und, unerlässlich, warmem Wasser zum Duschen. Die Geschwindigkeit, mit der wir das Antlitz der Erde zu verändern vermögen, ist einfach atemberaubend. Der tropische Urwald ist naturgemäß auf die niederen Bergregionen begrenzt, so dass die wenigsten Trekker, schon gar nicht die Gipfelstürmer, ihn je zu Gesicht bekommen hätten. Denn schon einige Jahre vor 1988, als ich zum Everest vordringen wollte, bestand bereits die Möglichkeit, die halbe Strecke nach Lukla einzufliegen und sich dadurch den angeblich weniger imposanten Aufstieg durch den flacheren Gebirgsteil zu sparen. Aus den früher für die Tour erforderlichen drei bis vier Wochen wurden so leicht zehn Tage. Endlich passte der Trekkingtrip ins Programm gewöhnlicher Drei-Wochen-Urlauber. Entsprechend vervielfachte sich die Zahl der Bergwanderer in dieser Region binnen kürzester Zeit.
Seit einem äußerst unangenehmen Zwischenfall in Indonesien, der leider hier keinen Platz finden kann, fliege ich selbst allerdings höchst ungern. Je kleiner die Maschine, um so ungemütlicher wird mir. Propeller erinnern mich grundsätzlich an sprotzende, Rauchschwaden verbreitende Ungetüme aus den Katastrophenfilmen meiner Kindheit. Der Gedanke, mit so einem klapprigen Propellergerät auch noch über die haifischzahngleichen Bergkuppen nach Lukla zu schaukeln, veranlasste mich, den erheblich längeren Weg in Kauf zu nehmen. Zum Glück, wie ich heute sagen darf. Da die meisten meiner artgenössischen Extremtourismusfreunde alles gern im Schnellspurt durchzogen, um mehr Attraktion pro Zeit einzuheimsen, kam es so, dass ich während der ersten Tage ein nahezu touristenfreies Gebiet durchstreifte. Und das, trotz der Popularität des Everest. Nur ein oder vielleicht zweimal kam mir eine Gruppe Wanderer entgegen. Kurz, wie diese Begegnungen waren, erinnere ich mich nur schemenhaft. Ansonsten war ich allein mit mir und den immerzu freundlich winkenden Bergbewohnern, dem fabelhaften tropischen Hochlandnebelwald und der sich von ihm stetig behutsam ausbreitenden Ruhe, die tiefer und tiefer in mich einfloss und schließlich unbekanntes Ausmaß annahm. Tropischer Nebelwald, das Wort zergeht mir auf der Zunge. Majestätische Bäume ungeahnter Höhe. Das dem rauen Bergwind trotzende knorrige Geäst sanft ummantelt von leuchtend grünem Moos. Moos, wie man es noch nie gesehen hat: Zentimeterdick, in langen Fäden, die bisweilen wie Bärte aussahen, herabhängend, im Wind wie Wimpel flatternd. Sich Sanft über die Stämme zum Boden und über schwere Felsbrocken ausbreitend, märchenhaft alles einhüllend in unendliche Nuancen satten Grüns. Grün, grün und noch mehr davon, den müden Wanderer zum Verweilen einladend. Derart in sich ruhend, als sei er ein organisches Ganzes, das sehr wohl um die Anwesenheit des Fremden wusste, vermochte der Wald einen freundlich, aber dennoch unmissverständlich darauf hinzuweisen, dass hinter diesem unendlich grünen Vorhang, auf diesem federweichen Teppich aus Moos, Gräsern und Blumen eine Märchenwelt beginnt, die nicht gestört zu werden wünscht. Man rechnete förmlich jede Sekunde damit, dass man um die nächste Wegbiegung einem jener sagenumwobenen Fabelwesen begegnen möge. Ein zotteliger Yeti vielleicht, der einem ein gut gelauntes „Namaste“ entgegenrufen würde. Oder eines jener tolkienschen Wesen würde mit pinkfarbenen Ohren zwischen dem samtweichen Moos aufschauen und seine Geschichte erzählen ... Es war einfach phantastisch.
Ohne es richtig zu bemerken wuchsen die Eindrücke dieser Tage in mich hinein und erzeugten eine schleichende Sehnsucht nach Ausgleich und Eintracht, diesem naturverbundenem Gefühl der Ruhe, das so ganz im Gegensatz zu dem Dominanz- und Wettbewerbsverhalten stand, das man mir in der Schule eingebläut hatte. Solchen feingliedrigen Verschiebungen gegenüber im höchsten Maße unsensibel, schlenderte ich trällernd durch die Tage und erfreute mich an der Fülle dieser gottgegebenen Stille. Kontrastiert dann um so deutlicher von dem Getümmel, dass mich nach dem Erreichen Luklas zu erschlagen drohte. Wo man obendrein alle drei Meter von einem ungezogenen Kind nach Bonbons, Stiften oder eben dem obligatorischen „One Rupee“ gefragt wurde.
Aber in jenem sphärischen Gebiet sollte ich meinen ersten echten Saddhu treffen. Besser wohl: er sollte mich treffen, mitten ins Zentrum meiner romantischen Ader. Ich erinnere mich wie gestern, es war noch ziemlich kalt. Ich war sehr früh in der Saison gestartet, schon Mitte März, als die Pässe gerade schneefrei waren. Beschwerlich war der vom Tauwasser matschige Weg und mit jedem Meter Höhe wurde es deutlich kälter. Ich schwitzte des Tages, in dünner Luft hyperventilierend vor mich hin stolpernd, die Haut ausgekühlt vom unablässig pfeifenden Wind. Ich fror des Nachts, feucht-klamme Kleidung in zu dünnem Schlafsack in ungeheizter Absteige.
Acht Tage anstrengendes Bergauf waren so schon vergangen. Es war erst drei Uhr Nachmittags, doch war die Sonne bereits hinter den Bergkuppen verschwunden. Die eiskalte Gipfelluft strömte wieder unbarmherzig herab und vertrieb das bisschen Warm des matten Frühlingstages. Noch gut drei Stunden strammer Marsch bis zum nächsten Dorf lagen vor mir, Dunkelheit drohte. Da saß rechts von meinem Eselspfad, leicht bergan, erhöht auf einem grauen Fels unter majestätischen Pinien ein wunderliches Wesen. Nackter Oberkörper, nur mit einem Lendenschurz bekleidet, die Beine zum Schneidersitz gekreuzt, aufrecht, wie eine Statue. Kaum fünfzig Meter weg von mir und doch so unendlich weit entfernt. Seine lange Mähne geschmeidig über die Schultern nach hinten gleitend hatte es sich wohl gesonnt und gar nicht bemerkt, dass die Sonne bereits verschwunden war. Ich selbst hatte mir gerade meinen zweiten Wollpullover übergezogen und die Mütze aufgesetzt, es war ja schließlich säuisch kalt und der raue Wind schwoll von Minute zu Minute an. Wieso ich da eigentlich nicht gleich innerlich geschaltet und die Besonderheit des Mannes und der Situation erfasst habe, heute ist mir das schleierhaft. Völlig gefesselt im verstockten Materialismus meines Schulweltbildes, dass es mir heute unvorstellbar scheint. Einen anderen als mich selbst würde ich bei solchem ignoranten Verhalten am treffendsten als bornierten Hornochsen bezeichnen.
Wer nicht an Wunder glaubt, der kann auch keine sehen. Also habe ich mich auch nicht weiter gewundert, sondern fand den Mann, ob seiner außergewöhnlichen Haartracht und Pose, ein gelungenes Fotoobjekt. Gerade erwägte ich die Frage, ob ich ohne seine Erlaubnis gleich ein Foto von dem kuriosen Anblick schießen sollte, besann mich eines besseren und stapfte ein paar Schritte in seine Richtung. Tief sank ich in den schmatzenden Matsch des weichen Hangbodens. Ich wusste nicht recht, wie ihn ansprechen, deshalb war ich erleichtert, als er gleich zu mir rüber schaute und mich freundlich winkend einlud, mich zu ihm zu gesellen. Viel Zeit glaubte ich ja nicht zu haben. Eigentlich hatte ich ja gar keine, denn ich musste vor dem Dunkel der mondlosen Bergnacht noch die nächste Siedlung erreichen. Dabei habe ich völlig übersehen (und ärgere mich noch immer ein wenig drüber), dass mein Gegenüber ja irgendwo in der Nähe hausen musste. Sicher hätte auch ich dort lagern können und hätte zweifelsfrei Erzählenswertes erlebt. Zumindest im Vergleich mit der Müllhalde, die mich am Ziel meiner Wanderung erwartete. Aber, blind, wie ich nun mal war, interessierte mich nur das mögliche Foto.
Ich bot dem Baba (so die intim-freundliche Anrede für alle Saddhus) noch unschlüssig vor dem etwa kopfhohen Felsen stehend eine Zigarette an. Eine Marlboro, sündhaft teures Kraut für einheimische Verhältnisse, die er auch dankbar annahm. Mit dem Feuerzeug in der Hand als Alibi kletterte ich eilig zu ihm und ließ mich etwas steif auf dem nasskalten Fels nieder. Wir rauchten ohne weitere Worte getauscht zu haben. Viel zu sprechen gab es ohnehin nicht, denn bald stellte ich fest, dass sein Englisch gegen Null zu tendieren schien. „Angrezii nei samaj hai“ war die Antwort auf meine Frage nach seinem Namen. So blickten wir beide in die milchig blaue Ferne. Zugegeben, es war schon ein grandioser Anblick, wie sich da das Tal bereits zur Nacht verdunkelte, während die granitgrauen Berggipfel zu unserer Rechten noch in kräftigem Orange der nachmittäglichen Sonne erstrahlten. Rasant änderte sich die Farbkomposition des Bildes vor uns, wie im Zeitraffer oder bei einer Lasershow. Besser als Fernsehen schoss mir durch den Kopf. Aber nur allzu kurz hielt mich das Schauspiel in seinem Bann, denn ich hatte ja Grund zur Eile, mahnte mein nie müde werdender innerer Organisator unaufgefordert. Bei diesem Gedanken sogleich von Unrast durchdrungen wechselte ich ungemütlich von einer Pobacke zur anderen.
Nach einer mir viel zu langen weiteren Weile des Schweigens versuchte ich erneut eine Konversation anzuzetteln. Wenigstens um dann nicht so ganz unvermittelt `Photo possible?´ fragen zu müssen, was mir unhöflich vorkam. So fragte ich ihn, was nahe lag, aber mir so gar nicht nahe ging: „Don´t you feel cold?“ und bekam auch prompt meine Antwort: „Don´t you know, you choose?“ brummte er, drehte mir dabei den Kopf zu und riss die Augen unter den buschigen Augenbrauen weit auf, als erstaune ihn meine Frage zutiefst. Zwischen seinen wulstigen Lippen zischte Luft hervor und noch einen kurzen Moment starrte er mich tadelnd an, dann wandte er sich wieder der Ferne zu, in die er immerzu stierte.
Seine Antwort in fließendem Englisch, auch das überraschte mich erst im Nachhinein. Einen echten Sinn wollte mir seine Antwort jedenfalls nicht machen, ich suchte ja keine Antworten. Gedankenlos erwiderte ich „Ja klar, ich weiß“. Mir war es egal, was er sagte, Hauptsache er sagte was. Ich war nur darauf erpicht, das Photo zu bekommen. Das wäre ein Bild! Er müsste sich zwar herumdrehen, damit statt der Bergwiese das Tal und dessen traumhaftes Farbspiel im Hintergrund wäre, aber das würde ich auch noch hinbekommen. Ich stellte mir die Gesichter meiner Freunde vor, wenn dieses Bild vom Projektor auf die Leinwand geworfen würde. Mensch würden die Augen machen! Wenn es unbedingt sein musste eben gegen Bezahlung. Die Nacht im Tal vor uns breitete sich in bedrohlichen Schatten aus und kroch unaufhaltsam die Berghänge nach oben. Ich ließ den Gedanken, ein Gespräch zu führen schließlich fallen. Das war einfach zu zeitaufwendig. Mit klammen Fingern fummelte ich die Kamera aus meiner Jackentasche, erhielt aber gleich ein abweisendes „Nein, nein“ ohne überhaupt gefragt zu haben. Alibihalber fotografierte ich völlig sinnlos den riesenhaften Bergschatten vor uns und steckte den Apparat wieder ein. Jedoch nicht ohne ihm vorher die Beziehung Foto-gegen-Geld mittels einer entgegengestreckten 10 Rupee Note deutlich gemacht zu haben. Er lehnte händeringend ab, schien unerklärlicherweise ziemlich verärgert. Na, mir doch egal. Das Foto, das ich mir ausgemalt hatte, gab der düstere Hintergrund jetzt ohnehin nicht mehr her, Chance verpasst. Bald darauf verzog sich mein Gefährte. Ohne Abschied war er auf der Rückseite in Windeseile vom Fels geklettert und im Dickicht verschwunden.
Ich sputete mich weiter Richtung Norden. Missmutig trollte ich mich vermeintlich unverrichteter Dinge meines Weges, hier und da einen Kiesel aus dem Wege kickend. Mich fröstelte am ganzen Körper. Ich würde mich ganz schön ranhalten müssen, wenn ich nicht im Dunkeln vor mich hinstolpern wollte. Ich zwang meine matten Glieder zum Dauerlauf. Der Weg machte jetzt eine letzte Biegung um eine Bergkuppe. Von dort aus ging es entlang der rechten Flanke stetig bergab ins Tal. Irgendwo dort weiter unten würde die nächste Siedlung liegen, aber der Weg verlor sich in der Schwärze der Schatten. Ich hatte das dumpfe Gefühl, beobachtet zu werden und sah mich um. Der Platz, an dem ich mit diesem Typ gehockt hatte, lag verlassen da. Was war das überhaupt für ein Kerl, der sich da nicht fotografieren lassen wollte?
Ich wusste natürlich aus Katmandou, dass es sich bei den Männern in den orangenen Roben um eine Art Mönch oder Priester handelte, hatte mich aber nie besonders um die zotteligen Männer geschert. Eher noch waren sie mir lästig, denn sie waren noch aufdringlicher als die Bettler, von denen immer ein paar die Hotels in Tamel umlagerten. Einmal kam einer mit einladendem Lächeln auf mich zu, wies bedeutungsvoll auf ein Tablett, das er in der Hand hielt. Hier brannte eine kleine Öllampe und stand ein kleines gerahmtes Götterbild. Von dem anderen Schnickschnack konnte ich so schnell nicht viel erkennen, denn kaum war ich abgelenkt, nutzte der Mann die Gelegenheit und strich mir mit einer gewandten Bewegung mit einem Finger über die Stirn, dass ich zurückschrak. Bevor ich weiter reagieren konnte hob er die Hand mit nach oben gestrecktem Zeigefinger, als wolle er `Obacht´ sagen. Ich erkannte den von schmieriger roter Masse umhüllten Zeigefinger als den, der mir die gleiche Masse auf die Stirn geschmiert hatte. Noch immer die Hand gen Himmel weisend erhoben sprach der Mann, der mir gerade bis zur Brust reichte, mit bassbebender Stimme ein lautes „Siva!“ und blickte mich an, als hätte er in mir den Messias gefunden. Alsdann verwies die knorrige Hand sogleich wieder auf das Tablett, auf dem ich jetzt wie herbeigehext eine verbeulte Blechschale stehen sah, in der sich ein paar Münzen befanden. Ich hatte nicht im geringsten die Absicht irgendeinem Bettler Geld zu geben, dazu hatte ich mich vor der Reise fest entschlossen. Schon gar nicht dann, wenn ich damit eine Leistung bezahlen sollte, die ich gar nicht haben wollte und die ohnehin von zweifelhaftem Wert war. Ich schüttelte energisch den Kopf und ging meines Weges, was dazu führte, dass der Alte grimmig gestikulierend neben mir herlief. Immer wieder hörte ich sein „Siva, Prasad, Baksheesh“, als seien es Synonyme für einen hypnotischen Befehl, dessen Inhalt etwa `Tu mal Kohle´ war. Und der seine Wirkung nicht verfehlte, denn schließlich beugte ich mich seiner kühnen Penetranz und gab ihm etwas Kleingeld.
In irgendeinem Cafegespräch irgendwo im ersten Stock eines baufälligen Hauses entlang der Freakstreet hatte ich die Geschichte, die mich sehr geärgert hatte, meinem langhaarigen Gegenüber erzählt, Norbert aus München. Der hatte mich mit einer langen Erklärung über diese Typen gelangweilt, deren Quintessenz zu sein schien, dass es echte Babas, wie er sie immerzu nannte und eben falsche gab. Echte waren offenbar selten und Baba blablabla, Norbert redete unablässig wie ein Wasserfall. Ich entschuldigte mich mit meinem frühen Aufbruch zum Everest am nächsten Morgen, woraufhin Norbert meinte, wir könnten das Thema ja fortsetzen, wenn ich wieder da sei. Er jedenfalls habe nicht vor sich bald aus `seinem´ Katmandou zu entfernen. „Ja gern“ erwiderte ich mechanisch und war froh, endlich weg zu kommen. Dieses abgedrehte Gequassel von angeblich heiligen Männern bedeutete mir sowieso nichts. Echt oder nicht, ich hatte mir meine Meinung bereits gebildet: Diese Bettelmönche waren nichts als einfach nur eine abgewandelte Spielart von Bettlern. Eine Art Verkleidung, die es schwer machte, sie direkt aus dem Weg zu scheuchen, geschickte Tarnung sozusagen.
Jetzt, frierend bergab trabend, fiel mir Norbert wieder ein. Ich musste eingestehen, dass mich der fast unbekleidete Mann auf seinem Stein mächtig beeindruckt hatte. Ohne es zu wollen hatte ich ständig seine ausdrucksvollen Augen im Kopf, die ich doch eigentlich nur einen Moment lang während seiner verwunderten Antwort erblickt hatte. Als beobachtete er mich von einem sicheren Versteck aus, dachte ich. Ich versuchte krampfhaft, das unangenehme Gefühl abzuschütteln, wurde es jedoch beim besten Willen nicht los. Zugegeben, Norbert, dieser Saddhu war also offenbar echt, in deinem Sinne. Erstens saß er dort sicherlich nicht für Touristen. Dazu war es weder die richtige Jahres- noch Tageszeit, ich war ja gleichzeitig sehr früh als auch sehr spät dran. Außerdem war es der denkbar dümmste Platz, um auf die Saddhutour Geld zu erbetteln. Nur zwei Tagesmärsche bergan lag ja Lukla, voll von gerade eingeflogenen, fetten, kamerabehangenen Kurzzeittouris. Zugegeben, gebettelt hatte er auch nicht. Eher das Gegenteil war der Fall, stellte ich bestürzt fest. Auch gegen Geld verweigerte er mir das erhoffte Foto, ganze zehn Rupees! Davon konnte man in einem einheimischen Restaurant satt werden, oder gar zwei Tage lang selber kochen. (Oder eine halbe Packung Marlboro kaufen ...) „O.k.“ brummte ich an der Grenze zwischen Gedanken und gesprochenem Wort „das wirst Du mir erklären müssen, Norbert.“ Was machte der Kerl denn in drei Teufels Namen auf dem Stein? Sich sonnen kam die simple Antwort.
Ja, aber ..., mein Kopf war jetzt voll von sich aufdrängenden `Ja-abers´.
Irgendwie lebte der ja hier in der Wildnis. Im Winter? Wie und wo, was, aber wenn? Ich ergab mich. Hast recht, Norbert, dachte ich, es gibt echte `Babas´ und das war einer. Na ja, hätte mich ja sowieso mit ihm nicht unterhalten können. Wenn Du echt noch in Katmandou bist, dann werde ich dir noch mal ´ne Chance geben mich voll zusülzen.
Damit glaubte ich den Saddhu wenigstens vorläufig hinter mir lassen zu können. Ich blieb stehen, zog die Handschuhe aus und versuchte mit steifen Fingern den Schal unter der Jacke enger an den Hals zu ziehen, als mich plötzlich ein Blitz, wie von einer Kamera durchzuckte. Sogleich blickte ich wieder in die Augen dieses Mannes, die mich scheinbar belustigt musterten. Die Perspektive änderte sich wie bei einer Aufblendung im Film. Vor meinem geistigen Auge sah ich ihn da sitzen, mit seinem entblößten Oberkörper. Sein „Don´t you know you choose?“ klirrte in meinen steifkalten Ohren. Fern in meinem Innern klang Bedeutungstiefe an und echote durch ungeahnte Räume meiner Seele. Mir wurde fast schwindelig bei der Erkenntnis, wie echt der Mann gewesen sein musste. Ich ahnte dunkel, dass ich ihn nie gänzlich würde hinter mir lassen können. Der Kerl fror nicht bei den knapp acht Grad oder weniger. Das also war ein echter Fakir, Schamane oder sonstsowas gewesen! Das war etwas, an das ich gewöhnlich nur im Zusammenhang mit Kino oder Sensationsberichten unseriöser Magazine gedacht hätte. Ich erinnerte mich noch mal an Norbert, der berichtet hatte, dass die echten Saddus Yoga machen und so. Mir fiel allerdings nicht mehr ein zu welchem Zweck. Noch eine ganze Zeit hing ich in Gedanken der Idee nach, dass ich vielleicht dumm gewesen war, mich von dem Kerl so schnell ins Bockshorn jagen zu lassen und ich penetranter hätte nachfassen sollen. `Don’t you know you choose?´ Ich meine, der hatte doch echt was drauf, oder? Schließlich lebte er ja irgendwie hier in den Bergen. Zwangsläufig lebte er also von dem, was ihm der Hochlandwald spenden konnte. Moossuppe mit Pinienkernen beispielsweise. Humbug genug, ihn mindestens für total beknackt und somit originär zu halten. Was mir übrigens dann auch endlich gelang, vornehmlich ersteres. Verrückte gab es schließlich überall. Denn was sollte das ganze Geyoga, wenn das Ergebnis war, dass man wählen konnte, ob man fror oder nicht. Hatte ja wenig praktischen Nutzen, wenn man doch eine mollig warme Heizung bezahlen konnte. Eben. Punktsieg für rationale Gegebenheiten.
Damit hielt ich die Sache für abgeschlossen, vergaß, wie tief erschüttert ich noch Minuten vorher gewesen war, legte ab in der so unglaublich praktischen Schublade mit der Aufschrift „nicht relevant“. Und setzte meinen Weg planmäßig fort. Don’t you know you choose? Die kleine Begebenheit verblasste im Strudel der Zeit.

Aber Anette hatte schlichtweg recht. Ich konnte ja gar nicht für mich sorgen, zumindest dann nicht, wenn ich einen Anfall habe. Nette Idee, ab in die Berge, einen heiligen Mann finden und bei dem die Kunst erlernen, selbst zu wählen, ob es mir nun dreckig geht oder nicht. Ganz recht, das war vorstellbar. Das musste mittlerweile auch meine kühle Logik zugeben.
Wir nehmen sowieso immer nur Bruchstücke der Realität war, können es gar nicht anders, weil unsere Sinnesorgane so begrenzt sind. Sehen zum Beispiel kein Infrarot, obwohl es da ist und die Bienen es sehen können. Obendrein filtert dann noch unablässig das Unterbewusstsein, selektiert, hebt hervor, verdrängt, vergisst. Natürlich, das weiß auch die moderne Wissenschaft, man kann in gewissem Maße seine eigene Wahrnehmung kontrollieren. In gewissem Maße. Aber ich, ich bin schließlich todkrank! Daran gab es beim besten Willen nichts zu deuteln. Tolle Idee, ins Himalaya auf die Suche nach einem Wunder zu gehen. Glatter Selbstmord war das. Auch der, überlegte ich fieberhaft, auch der war natürlich eine mögliche Variante, dem verheerenden Unheil zu entgehen, das die Zukunft für mich bereit hielt. Ich legte die Stirn auf meinen Handteller und stützte so meinen schweren Kopf auf dem Tisch ab. Schwermut verdunkelte meine Seele, graue Nebel wollten nach mir greifen und mich hinabziehen in einen Schlund, der kein Ende zu haben schien. Ja, Selbstmord war eine diskutable Alternative zu langjährigem Leid im Rollstuhl. Wobei ich dem allzu plötzlichen, wirklichen Mord eine andere Version vorziehen würde, die mit Sicherheit mehr Spaß versprach: Ab nach Goa, Party ohne Ende. Techno am Strand in lauen Nächten. Frisches Seafood nach Belieben. Ecstasy-gedopte Schwedinnen auf silbernem Tablett. Haushälterin und Zimmerservice. Wozu hatte ich schließlich über die Jahre meine Kreditlinie auf der Visakarte beständig ausgebaut? Ich konnte mich fünfstellig bedienen, erinnerte ich mich dunkel an den letzten Schriftverkehr, bevor ich zum Studium nach China ging. Hatten die Deppen anstandslos gefressen. Hatten sich Glauben machen lassen, ich sei wichtig genug für eine Goldkarte, wo doch eigentlich nur ein paar Mark im Kreise dreier Konten liefen.
Sofort alles cashen! Schneider lässt grüßen. Das würde eine Weile reichen, in Indien lang genug. Wenn´s mir richtig schlecht geht, Koks und Speed zum durchhalten. In ausreichender Dosierung würde das selbst Tote auferwecken. Um dann endlich, am Ende der Fahnenstange, wenn gar nichts mehr geht, im LSD-Rausch die Flügel auszubreiten und von den palmenbewachsenen Klippen durch den blutroten Sonnenuntergang in andere Welten hinübergleiten.
Warum eigentlich nicht?



* * *
 

Tobias

Mitglied
So. Mehr gibt es nicht, weil mich der Verlag, mit dem ich in Verhandlung stehe ausdrücklich vor Ideen + Textklau gewarnt hat. Werde (wenns klappt) irgendwann mal Bescheid geben, wenn das Buch käuflich zu erwerben ist.
Kommentare, Kritik und Anregung wäre aber herzlich erbeten!
So long.
TT
 

Tobias

Mitglied
Ich raff´s nicht. Wenn 16 Leute das zweite Kapitel aufrufen, dann haben doch wahrscheinlich die meißten das erste gelesen. Ihr Nasenbären! Wo bleiben die Kommentare, auch die schlechten? Dafür steht das hier!
Verwunde(r)t
TT
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
hallo, tobias!

da hat sich eine die mühe gemacht, deinen text durch den drucker zu jagen und gründlich zu lesen.ich konnte keinen schurken erkennen, aber vielleicht sind die ja im 1. kapitel, das hab ich nämlich nicht gelesen. ich finde deine geschichte etwas zähflüssig, aber interessant, obwohl einiges übererklärt wird. habe 42 hoffentlich flüchtigkeitsfehler gesehen - nicht akribisch gesucht, mir sticht sowas nur immer gleich ins auge - und ein paar ungünstige formulierungen. wo solltest du die idee geklaut haben? ich würde schon gern wissen, wie es weitergeht. lieben gruß
 

Tobias

Mitglied
Lieber Flammarion,

ich konnte erst jetzt antworten, obwohl ich im Urlaub schon gesehen hatte, dass endlich einmal jemand was geschrieben hat. (Hatte kein Passwort)
Dafür erstmal danke schön.
Fehler: So, da schaust Du gar nicht genau hin und findest 42 (hast Du genau gezählt?) Fehler. Nein, das sind leider keine Flüchtigkeitsfehler, sondern echte Orthografieschwächen. Schade, dass Du nicht gleich korrigieren kannst ...
Übererklärt: Das mag sein, passiert mir auch im richtigen Leben. Interessant wäre zu wissen, wo. Zu bedenken gebe ich, dass es sich um eine nicht gänzlich überarbeitete Version handelt, will sagen, ich habe vor, nach Fertigstellung erheblich rumzustreichen. Was mich zum Punkt
Zähflüssigkeit bringt: Das mag so nicht besonders taktisch klug sein, ist aber nicht unbeabsichtigt. Das Buch hat insgesamt am Ende 450 Seiten (nach Kürzung, bisher 350 real existent) und die Hauptperson macht eine innere Wandlung durch. Dazu gehört auch der Erzählstil. Jedenfalls versuche ich das rüber zu bringen.
Wie es weiter geht?
Da es Dich interessiert, Kapitel 3a. steht ab sofort drin.

TT
 

Tobias

Mitglied
Ich vergaß:
Die Scharlatanen findest Du tatsächlich im Kapitel 1. Auf die Schamanen mußt Du allerdings noch warten und die Schurken sind einfach überall dazwischen!
TT
 



 
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