3. Kapitel Scharlatane, Schurken und Schamanen

Tobias

Mitglied
3. Geheime Lehrpläne ungelehrter Meister
a. Hart aber Herzlich

„Weil Du nicht so schnell aufgeben darfst, gerade Du nicht“ fuhr sie mir mit ungewohnter Vehemenz über den Mund. Ihr irgendwie immer kindliches Gesicht glühte rot. Ihre Nasenspitze, die ich während unserer langjährigen Beziehung/jetzt Freundschaft immer als etwas knollig empfunden hatte, schien sich förmlich aufzuplustern. Die Nasenflügel bebten vor Erregung. Mit zusammengekniffenen Lippen sah Sie mich aus ihren braunen Rehaugen an und versuchte dabei streng zu wirken. Sie wusste, dass ihr das nie so recht gelang, dazu war sie viel zu weich. Außerdem war die autoritäre Schiene gänzlich ungeeignet, denn gewöhnlich reagierte ich auf Autorität mit störrischem Trotz. Typisch übersteigertes Geltungsbedürfnis eines verzogenen Einzelkindes halt.
Demnach, so schloss ich, verfolgte sie mit ihrem theatralischen Gehabe eine gänzlich andere Absicht, nämlich mich zurückzuholen in die Gefilde der mir sonst so eigenen humorvollen Distanz zu mir selbst. Der Versuch, mich mit ihrer Selbstparodie aufzuheitern, misslang allerdings gründlich. Ich war heute nicht zu erreichen, wollte es gar nicht sein. Was gingen mich die Gefühle der anderen an? Rüde, ja fast gewaltsam stieß ich sie von mir, konnte ihre sorgeerfüllte Nähe einfach nicht länger ertragen. Sprang auf, marschierte eckig zum Fenster, trat auf den Balkon. Blickte hinunter auf die grauen Betonsteinplatten, die verhasste billigste Lösung für unsere zweihundertfünfzig Quadratmeter ungenutzter Hoffläche. Mehr gab es halt nicht für sozialschwache Mieter. „Eigeninitiative unerwünscht“ hatte mir der Eigentümer auf Nachfrage ausrichten lassen. „Wo kämen wir denn da hin, wenn jeder machte was er wollte?“ hallte noch immer die abweisende Stimme des arroganten Hausverwalters in meinem Ohr. Ja, wo kämen wir da wohl hin, wenn jeder machte, was er wollte?
Mir war nach schreien zu Mute. Mit einem Ruck drehte ich mich um und stand unversehens wieder in der nach saurem Schweiß stinkenden Bude. Mit lautem Scheppern knallte die hölzerne Tür zurück in ihren baufälligen Rahmen. Soll sie doch aus den Angeln brechen! Wut wallte mir durch die schmerzenden Glieder. Völlig grundlos richtete sie sich jetzt gegen Anette, die mir mit schlaff herabhängenden Armen ratlos gegenüberstand. Eben wollte ich zu einer ausgedehnten Hasstirade ansetzen, meine ganze Wut grundlos an ihr auslassen, als der erneute Schwächeanfall mich ohne die leiseste Vorwarnung niederstreckte. Bleischwer dröhnte mir der Kopf, Schwindel. Und immer dieses widerliche Gefühl, aus dem Stand Kotzen zu müssen, das dann aber wie eine Chimäre verschwand, sobald man es versuchte. Nur um irgendwo in dunklen Ecken auf die nächste Gelegenheit zu lauern. Unklare Gesichtseindrücke, greife nach der Stuhllehne oder war es schon ins Leere? Verliere das Gleichgewicht. Sturz ins Schwarz. Gähnende schwarze Leere.

Ein Gesicht erscheint aus dem Nichts und verschwimmt. Erscheint wieder, bringt Erinnerungsfetzen mit, schon mal gesehen. Wer? Verschwimmt wieder in undeutlichem blass Rosa, taucht dann wieder auf. Ich kneife die Augen zusammen. Meine Mutter? Nein, Sanni. Wieder drückendes Schwarz schiebt sich vor den schwachen Blick, dann wieder Rosa, Gesicht, wird scharf, ist bekannt. Anette. Ja, jetzt erkenne ich die mit Tränen randvollen braunen Augen, meine liebe Anette. Mein Kopf leicht erhöht in ihrem Schoß ruhend sehe ich sie verkehrt herum. Eigenartig, fällt mir auf, wie fremd einem die Augenpartie wirkt, wenn man sie um hundertachtzig Grad verdreht anschaut und nicht weiß, wo oben und unten ist. Sehen dann aus wie Augen von Außerirdischen, denke ich und will zu einem Schmunzeln ansetzen. Oder wie Japaneraugen, setzt sich der Gedanke unaufgefordert fort und über alle Barrieren hinweg, spült schmerzliche Erinnerung aus der Tiefe. Maiko! Das Lächeln bleibt im Halse stecken, denn der schnürt sich augenblicklich zu, wie eine Python im Würgegriff. Ich versuche zu schlucken. Hals knochentrocken, Gesicht nass. Tränen rinnen mir über die Wangen. „Wieder da?“ höre ich Anette vorsichtig hauchen. Sie beugt sich etwas vor, versucht zu lächeln, was ich trotz des Kloß im Hals zu erwidern suche.
Ja, da bin ich wieder. Kloß im Hals, Nervenentzündung oder keine. Spielt sowieso keine Rolle mehr, seit ich erfahren habe, dass meine private Krankenversicherung nicht gedenkt, die von der fetten Kröte vorgeschlagene Therapie zu bezahlen. Außenseitermethode bei Außenseiterdiagnose, keine Chance. `Medizinische Notwendigkeit nicht nachgewiesen.´ Eine bodenlose Frechheit. Eine Psychoklinik für zigtausende von Marken die Woche, die würden sie ohne mit der Wimper zu zucken locker latzen, aber tausend Mark im Monat für eine neue Therapie mit Medikamenten, deren Nutzen nicht einwandfrei bewiesen ist, nein, so was ist eben medizinisch nicht notwendig. Nein, einem todkranken Beitragszahler wird nicht geholfen, wenn er sich erdreistet vor dem fünfundvierzigsten Lebensjahr dauerhaft zu erkranken. Wo kämen wir denn da hin, wenn alle in dem Alter mehr Leistung beanspruchten, als sie einzahlen? Da könnte ja gleich jeder machen, was er will.
Und ich kann es nicht bezahlen. Wie denn, als arbeitsunfähiger Student? Und meine Mutter kann es nicht und mein lieber Stiefvater kann es auch nicht. Die lebensrettende Therapie ist greifbar vor Augen und dennoch unerreichbar, wie eine Fatamorgana. Zum Kotzen, wie bei einem Anfall. Sturz, durch die Maschen des Netzes ins Bodenlose. Als ob´s nur das wäre! Die mittlerweile locker zehntausend Mark Labor- und sonstwie-Rechnungen auf der Suche nach den Triggerfaktoren, die zahlen sie auch nicht! Soll ich, ja, aufgemerkt, ich, der Patient, soll doch bitteschön mal nachweisen, dass die Untersuchungen medizinisch notwendig waren. Kann mir mal jemand sagen, wie das gehen soll? Man stelle sich vor: Jemand geht mit Kopfschmerzen zum Arzt, erhält ein Schmerzmittel, aber die, wohlgemerkt private, Krankenversicherung zahlt einfach nicht. Fordert den bedauernswerten Tropf stattdessen auf, mal eben die medizinische Notwendigkeit nachzuweisen. Nicht nur die der Verordnung, nein, die Notwendigkeit des Arztbesuches an sich. Und wie bitte beweist man die medizinische Notwendigkeit eines Arztbesuches?
Sie glauben das nicht, aber so ist die Vertrags- und Rechtslage bei privaten Krankenversicherungen nun mal.
Fast wünsche ich mir das Schwarz zurück. Immerhin ist mir in seiner gähnenden Leere nicht so dermaßen zum Kotzen zu Mute. Mit Anstrengung schiebe ich den naheliegendsten Gedanken bei Seite. Wenn das so weitergeht, brauche ich wirklich noch ´nen Nervenarzt. Ich bemerke, dass mir bei diesem Gedanken ein zynisches Grinsen gelingt. Ja, zweifelsfrei, ich bin wieder hier, in meinem Revier und das schmeckt nach Desaster und müfft nach krankem Nachtschweiß. Ich atme ihn ein, schlucke, antworte schließlich ohne rechte Überzeugungskraft „Ja. Alles ok, danke“. Fühle mich äußerst krank und äußerst übellaunig und kein bisschen dankbar.

Später. Endlich hat mich Anette so weit, dass wir in der Küche sitzen. Ich blinzle lustlos aus dem Fenster vor dem die total verlausten Bäume stehen, mit der die Stadt vor einigen Jahren den Kalker Markt hoffnungsfroh begrünt hat. Ein Kinderspielplatz umrahmt von Bäumen in einer verkehrsberuhigten Zone, wie trefflich das doch geplant war! Ein Kinderspielplatz voll von zertrümmerten Bierflaschen, versifften Spritzen und Hundescheiße. Vorhersehbar.
Damit ich hier nicht falsch verstanden werde: Ich habe weder etwas gegen Hunde noch gegen Junkies. Die armen Schweine können nichts dafür und irgendwo müssen sie ja ihren Geschäften nachgehen.
`It´s all in your mind´ müsste ich mir vorhalten lassen. Wenn es jemand gibt, der das weiß, dann bin ich es, würde Anette sagen können. `Du nicht´ hat sie gesagt und sie hat ja recht damit, ich nicht, weil ich es ja weiß, dass man selbst wählt, welchen Ausschnitt der Realität man gerade sehen will. Auch wenn man selbst oft gar nicht bemerkt, dass man jene nur bruchstückhaften Fetzen der Realität in seinem Hirn zu einer scheinbar ganzen Welt zusammenstückelt. Die eben auch ganz anders sein könnte, wenn man sie anders auswählte und neu zusammensetzte. Gewöhnlich projiziert man aber einfach mechanisch die eigene Gefühlswelt nach Außen und konzentriert sich auf beider Gemeinsamkeiten. An diesem Tag ging es mir dreckig und somit sah ich hauptsächlich Dreck. Ich roch ihn aber nicht. Was stattdessen wohltuend in meine vom vielen Schnäuzen wunde Nase dringt, ist der liebliche Duft des grünen Kaschmiritees, den Anette uns zubereitet hat und der jetzt in die vor mir bereitstehende Tasse geschüttet wird. Ein Hauch von Zimt und Cardamohn steigt wohltuend auf. Ich atme tief ein, Entspannung suchend. Der belebende Effekt währt jedoch nur einen Sekundenbruchteil. Den schweren Kopf auf meiner Hand aufgestützt, so dass mein rechtes Auge verdeckt ist, beobachte ich unsagbar matt mit dem freien Auge wie sie sich setzt und mir einen erwartungsvollen Blick zuwirft. Ob ich aufnahmebereit bin scheint sie zu fragen, wendet sich aber zunächst geschäftig der Zuckerdose zu. Umständlich süßt sie ihren Tee, streicht sich unschlüssig eine Strähne aus dem Gesicht, sieht erneut zu mir. „Ich weiß, was Du sagen willst“ breche ich ihr zu liebe die schwermütige Stille. „Nein, weißt Du eben nicht, sonst würdest Du dich nicht so gehen lassen!“ sagt sie streng und schlägt die Augen nieder. Betreten setzt sie fort: „So leicht darfst Du die Hoffnung nicht aufgeben. Gerade du nicht, mein Freund. Dazu ist es einfach noch zu früh.“ Ich höre den Appell, allein mir fehlt es an Kooperationsbereitschaft. Patzig, aber irgendwie halbherzig, argumentiere ich, dass es wohl meine Sache sei, wann ich mein Leben für nicht mehr lebenswert halte, quatsche abgedrehtes Zeug von meiner Würde und ähnlich abstrus abstrakter Dinge. Sie lässt mich gewähren, zusehends trauriger wie es scheint. „Bist Du endlich fertig?“ wirft sie dann in einer Atempause ungeduldig ein und ich erstarre, erstaunt, denn ich kenne Anette nicht so. Nicht so streng, nicht so energisch und erst recht nicht so hart, denn jetzt steht sie auf und wirft mir ein lustloses „Ich kann ja gehen, wenn Du dir nicht helfen lassen willst. Jedenfalls brauche ich mir Deine dummen Rechtfertigungen nicht länger anhören. Überzeug Dich selbst damit, wenn Du kannst. Falls Du von mir was hören willst ...“ Sie ringt sichtbar um Fassung, ist während des letzten Satzes an mir vorbei gestürmt in den Flur, zeiht schon die Jacke über.
Das kam irgendwie durch. Erschrocken halte ich inne. Diese Härte! Irgendwas meldet Alarm. Das Knäuel Selbstmitleid, in das ich mich verstrickt hatte, jetzt bietet sich eine Lücke, ich stoße mit Torschlusspanik vor. Ich brauche doch Freunde, nie zuvor so sehr, wie jetzt. So sei es ja nicht gemeint gewesen, versuche ich zu besänftigen. Ob sie denn gar kein Verständnis habe ...? Ich biege den heimlichen Vorwurf, der da unbeabsichtigt mitschwingt, gerade noch rechtzeitig ab und schiebe ein kleinlautes „Ach, da kann sich keiner reinversetzen, ich selbst raff´s ja auch nicht, Tschuldigung, alles meine Schuld“ nach. Fragend sieht sie mich an. Diese bisher unbekannte Härte verweilt auf ihrem Gesicht, wie über einer Trommel stramm gezogenes, feuchtes Leder beim Trocknen spannt sich ihre Haut über der Stirn. Betreten schlage ich die Augen nieder, stammle undeutlich „Es tut mir leid. Wirklich. Ich wollte Dich nicht verletzen. Bitte hilf mir.“
Wie wunderbar schnell und reibungslos unser Bewegungsapparat in der Lage ist, einen Menschen aus der stehenden in die sitzende Position zu befördern, fällt wohl nur dem auf, für den aufgrund einer Behinderung solch gezielte Koordinationen schwer oder unmöglich sind. Schon sitzt sie da vor mir, den Kopf etwas kokett zur Seite abgewinkelt, das eben noch beleidigt drein blickende Gesicht mit einem Hauch Lächeln verjüngt, die Stirn entspannt. Ich stelle fest, auch die Gesichtsmotorik ist etwas wunderbares, so genial zusammenspielend, dass man selbst die kleinste Nuance zum Ausdruck bringen kann. Ich versuche meinem unansehnlich schlaffem Antlitz zu etwas mehr Spannkraft zu verhelfen, erfolglos. Das versuchte Lächeln misslingt zur halbseitigen Grimasse. Entnervt stütze ich meinen Kopf wieder auf die Hand und schaue abwartend aus einem Auge auf Anette. „Nun schieß schon los, ich will´s ja hören“ sage ich so aufmunternd wie möglich. Sie rümpft die Nase, erwidert spitz „Was? Was willst Du hören?“ „Na, warum ausgerechnet ich nicht das Recht haben sollte, mich gehen zu lassen.“ Sie setzt ein befriedigtes Lächeln auf. „Das kannst´e haben. Obwohl Du´s ja weißt“ sprudelt sie hervor. „Aber manchmal muss man´s von jemand anders gesagt bekommen, obwohl man´s weiß. Stimmt´s?“ Ich nicke beipflichtend. Lasse mich entkräftet zurücksacken gegen die harte Lehne des Holzstuhles und warte. Sie nimmt einen kräftigen Schluck aus ihrer Tasse, setzt mit gedehntem „Ah“, wie in der Cola-Werbung, ab und beginnt behutsam ihre Rettungsringe auszuwerfen. „Tobias. Ich habe nie geglaubt, Dir das jemals sagen zu müssen. Es ist mir irgendwie unangenehm, das zuzugeben. Vor allem, wo Dir das sowieso klar sein muss: Du hast mein ganzes Leben verändert, mich aus der vorgesehenen Bahn geworfen mit Deinem ganzen asiatischen Kram. Du warst so voll von Geschichten, dass ich, ich, Anette Rehwinkel, mich genötigt sah, in ein Land zu fahren, von dem ich nicht die leiseste Vorstellung hatte, nur eine diffuse Abneigung. Und alles, was ich dort wollte, war meine Vorurteile zu bestätigen und dann Dich als Irren abschießen.“ Sie macht eine Pause, als wolle sie sich vergewissern, dass mich die Wucht ihrer Offenheit nicht umhaut. „Weißt Du, wie gerne ich das getan hätte? Letztendlich hast Du versucht mir die rosa Brille, meine Vorgartenidylle, wegzureißen und als Ersatz versprachst Du völlig abgehobenes Zeugs.“ Noch eine Pause, während der sie mich eindringlich fokussiert. „Wie gesagt, ich hätte nicht gedacht, dass wir zwei in diesem Leben doch noch irgendwann mal Rollen tauschen würden und ich mich tatsächlich mal zu Deinem Lehrer aufschwingen müsste, aber jetzt ist es wohl soweit.“
Sie sieht mir die ganze Zeit unablässig direkt in das eine offene Auge, durch das Auge mitten in mein düsteres Herz. Ich weiß, was sie sagen wird, das Thema liegt ja nah. Wie sehr sie beeindruckt war, als sie letztlich erkennen musste, dass es tatsächlich menschenmöglich ist, die philosophische Trennung von Hoffnung und Erwartung praktisch zu leben. XxxBEZUGSSTORYWO?XXX Sie würde mich an Geschichten erinnern, die ich ihr immer wieder erzählt hatte, wie den kleinen Jungen, der meinen Geldbeutel fand, um mir damit klar zu machen, dass man unter allen Umständen immer mit seinem Leben zufrieden sein kann, einfach, weil es da ist und das allein schon Wunder genug. Obwohl ich das alles wusste, sie würde versuchen ausgerechnet damit meinen Lebensmut zu wecken. Wie oft hatte ich mit diesen selbsterlebten Geschichten versucht zu illustrieren, dass wir alle einen Irrweg gehen, zu dem es eine Alternative gab? Dass diese Alternative nicht das Hirngespinst eines naiven Jungen war und auch keine verbohrte politische Ideologie? Dass es Freiheit, wirkliche Freiheit vom roboterhaften Spiel der Gene, gab? Ich kannte jedes Wort und eigenartig, ich war begierig, es von ihr zu hören.
Reich mir deine Hand und führe mich! Anette, meine Exfreundin, jetzt Schwester per Definition und, ja, vielleicht tatsächlich einmal meine Schülerin, die mich jetzt überholen würde, um mich mitzuziehen. `Das Blau der Indigopflanze ist blauer als die Pflanze selbst´ heißt es in einem alten chinesischen Sprichwort, das die frohe Hoffnung verkündet, dass sich das Wissen vom Lehrer zum Schüler mehrt, so dass letztlich der Lehrer übertroffen wird. Dass mir das ausgerechnet jetzt einfiel, war unangenehm, denn China, das war so nah an meinem Studienaufenthalt und damit auch an Maiko. Der Gedanke an die unerreichbar Ferne sticht mir wie ein Messer durchs Herz. Ich seufze, richte mich mühsam auf. Mit tiefem Durchatmen, als sei zu wenig Sauerstoff in der Luft, versuche ich, Anettes forschendem Blick zu begegnen. Lasse sie dann durch ein kurzes Kopfnicken wissen, dass ich aufnahmebereit bin. Sie räuspert sich, schaut wie gedankenverloren aus dem Fenster.
„Guck mal, der Affe da“ wechselt sie abrupt das Thema und deutet auf den Junkie, der mit der typischen Körperhaltung des Entzugs auf seinen Dealer wartet. Im Zeitraffer, das hatten unsere jahrelangen Beobachtungen aus der Küchenfenstertribüne gezeigt, vollführte so ein bedauernswerter Mensch zwischen gekrümmtem Hocken und nervösem Ganzkörpergekratze wirklich eine Art Affentanz, weshalb die Szene den Entzug als `einen Affen schieben´ bezeichnete. Zumindest hatten wir diesen Schluss gezogen, denn der Vergleich drängte sich förmlich auf. „Arme Sau“ gebe ich als Kommentar dazu und halte das Thema damit für abgeschlossen. Hatte ich jedenfalls gedacht, aber blitzschnell dreht sich Anette mir zu. Mit einer Hand greift sie mich am Kinn und zieht meinen Kopf näher zu sich, wie Humphrey Bogart bei Audrey Hepburn. Oder wie das arglose blonde Püppchen sonst geheißen haben mag. Sie hat mich weiter fest im Griff, gegenwehrlos bin ich ihr ausgeliefert. Wir haben, so scheint es jedenfalls, tatsächlich Rollen getauscht. Eigentümlich herrisch funkeln mich ihre immer leicht umschatteten Augen an, das ernste Gesicht des Siegers in freudiger Erwartung seines letzten triumphalen Hiebes. Eine nie gekannte Bestimmtheit strahlt aus diesem eben noch so vertrauten Gesicht, das sich seit Jahren beharrlich weigert, sich schminken zu lassen. „So mein Freund“ faucht sie los. Ihre Hand umschließt mein Kinn jetzt noch fester, sie dreht meinen Kopf Richtung Fenster. Sie deutet auf den Affen. „Und, los, sag´s mir, wem geht´s hier schlecht? Wer ist hier die arme Sau?“ schreit sie fast. Etwas ruhiger setzt sie hinzu „Ich meine, die grundsätzlichen Ideen des Aktivismus wirst Du doch wohl noch aufsagen können, oder etwa nicht?“
Natürlich weiß ich, was sie jetzt hören will: Dass ein menschenwürdiges Leben elementar von den sozialen Bindungen abhängt. Das war eine Leitidee des Vereins der Aktivisten, einem Spaßprodukt gymnasialer Langeweile, der als Kulturförderverein tatsächlich mit einer kopierten Fußballvereinssatzung in Köln registriert worden war. `Gemeinnützigkeit anerkannt´ bescheinigte arglos das Amt. Man hatte den letzten Halbsatz der zwecks Kulturförderung abgeänderten Zielerklärung glatt überlesen: `Der Verein fördert Kommunikation, Publikation sowie Selbstdarstellung frei schaffender Künstler mit dem Ziel der Einleitung der Weltrevolution.´ Ein gelungener Schildbürgerstreich. Aber das führt hier dann doch zu weit und ohnehin, der Verein ist längst aus dem Register getilgt.
Entscheidend für den hiesigen Zusammenhang ist ein damals vehement diskutiertes Gedankenspiel, nämlich die Frage, von welchen Faktoren es abhängt, ob das Leben zukünftiger Generationen lebenswert sein würde. Nach unserer Meinung eben nicht von der freilich wünschenswerten Existenz einer intakten Umwelt. Vielmehr seien es intakte Sozialbeziehungen, so glaubten wir, von denen ein menschenwürdiges Dasein abhing. Wir stellten uns spielerisch vor, dass Kinder einer nicht allzu fernen Zukunft, die auf Autoreifenfeuern Ratten rösteten, durchaus zufrieden ins Leben blicken konnten, wenn sie nicht von ihrem Nachbarn unterjocht wurden oder sich von einer anderen Sippe bedroht fühlen mussten. Ohne Angst und Paranoia in die Augen des Nächsten blicken, das sei es, was den Mensch zum Menschen machte. Das soziale Gefüge, so folgerten wir kühn, ist das für das Wohlbefinden des Einzelnen Ausschlaggebende. Es konnte deshalb primär nicht um die Rettung des Regenwaldes gehen, so schön dies hehre Ziel ja klang. Aber das war eben eine jener tückischen Projektionen eigener Vorlieben in die Realität, so dass die wahrhaft wesentlichen Dinge gar nicht mehr erfasst werden konnten. Denn in aller erster Linie musste sich zukunftsfähiges Denken und Handeln um die Rettung der Menschlichkeit drehen, Rettung vor der alles niederwalzenden Ideologie der Gewinnoptimierung. `Nieder mit dem Homo Oeconomicus, es lebe der Schwärmer!´ war unser Schlachtruf.
Auf diese im Kreise einiger unterforderter Intellektueller heiß diskutierten Überlegungen bezog sich Anette jetzt mit ihrem unübersehbaren Hinweis, dass es dem da draußen zweifelsfrei schlechter ging, als mir. Der todkranke Mensch da draußen und ich, beide teilten wir ähnlich düstere Zukunftsaussichten. Aber ich hatte Freunde, die mir helfen konnten, statt einem Dealer ausgeliefert und von Co-abhängigen umgeben zu sein. Ich wurde von meiner Umwelt nicht wie ein Aussätziger behandelt. Noch nicht. Ergo durfte ich mich nicht so grenzenlos bemitleiden. Ja, Anette, ich weiß ja, dachte ich, aber es half doch nichts, denn solch abgehobene Überlegungen musste man ja auch irgendwie fühlen können, um sie zu leben. Was ich hingegen fühlte war, dass ich das Zentrum allen Schmerzes und Leides des gesamten Universums war. Die Botschaft hör´ ich wohl, dachte ich, aber woher den verdammten Glauben nehmen, wenn man sich innerlich so elend fühlte, so kalt, leer und tot?
Man hatte sich ohne jeden Grund mich als Opfer ausgesucht, ich wurde gepeinigt von Flüchen, die ich mir nicht eingebrockt hatte. Traurig sah ich Anette an. Außer einem abwehrenden Kopfschütteln brachte ich nichts zu Stande, doch sie spitzte den Mund und setzte dann unbeirrt fort: “Ich weiß, wie es ist, wenn das Gefühl nicht nachkommt“ hauchte sie verständnisvoll und strich mir zärtlich durchs Haar. „Ich habe Geduld. Ohne Ende, Tobias.“ „Wirst Du auch brauchen“ erwiderte ich zynisch. Sie lächelte mitleidig. „Wir versuchen´s mal so: Denk doch einfach mal an Deinen ersten Saddhu, damals in Nepal. Das hat Dich doch immer begeistert. Das müsste Dich doch aufmuntern.“ Ich warf ein, dass es gar nicht so sehr der Saddhu gewesen sei, als viel mehr das dahinterstehende Ideenkonzept, wie es mir Norbert dargelegt hatte, was mich fasziniert hatte. Aber letztlich waren das doch nur abstrakte Gedanken ganz ohne praktischen Nutzen. Wenn es einem wirklich dreckig ging, so wie mir ... „Wir machen eine Übung“ schlug sie kurzum vor. „Du erzählst mir das einfach noch mal. Wie das alles war. Was Norbert so gesagt hat. Habe die Geschichte ja schon x-mal mitangehört, werde ich sie auch noch ein weiteres Mal verkraften. Von mir aus erzähl, ohne deine inbrünstige Überzeugung, kurz und knapp. Wollen doch mal sehen, ob die Begeisterung sich dann nicht doch von ganz alleine breit macht. Einverstanden?“ Nein, eigentlich war ich ganz und gar nicht mit neckischen Spielchen einverstanden.
Aber etwas in mir, das ich Konsequenz nennen möchte und auf dessen Existenz ich einigermaßen stolz bin, dieses etwas zwang mich, dennoch mitzuspielen. Es argumentierte: Wenn Du von Deiner `Schülerin´ immer verlangt hast, Deine Anweisungen zu befolgen, weil das jedem Lehrer so zusteht, dann steht Dir jetzt nicht die Verweigerung ihres Vorschlages zu. Ja, aber, setzte ich an, wer sagt denn, dass Anette jetzt meine Lehrerin ist? Du brauchst Hilfe, kam es prompt zurück, das ist mal das erste. Und zweitens beweist nur der Test, ob sie dieser neuen Rolle gerecht wird, denn ein Diplom im Bereich `Lebenskunst´ gibt es nicht und Du selbst hast ja auch keines.
„Also gut“ lenkte ich widerwillig ein „auch wenn mir weiß Gott nicht danach ist.“ Wie zum Kühlen blies ich Luft in meine Tasse, nahm dann einen Schluck des längst ausgekühlten Tees. Anette goss mir aus der potthässlichen gelben Thermoskanne beflissentlich nach. Wie ich diese Kanne hasste! Mindestens so sehr, wie diesen vorsätzlich tristen Hinterhof. Nicht ablenken, mahnte es mich, ich mich, misch-ich. Mischmasch. Ein Teil meiner Gedanken weigerte sich beharrlich, sich an angenehmere Tage zu erinnern, blockierte bockig den Weg zur inneren Freiheit. Anette sah mich auffordernd an. Als ich nichts hervorbrachte, gab sie mir eine Einstiegshilfe: „Wie war das denn? Ich meine, zum Beispiel, welche Jahreszeit? War es warm? Komm Tobias, ein bisschen musst Du schon mitmachen, Du bist doch schließlich kein Erstklässler.“ Ihre Stichelei traf in mein wundes Herz, denn `Erstklässler´ hatte ich oft als Schimpfwort benutzt, wenn ich ihr etwas zum, wie ich meinte, hundertsten Mal erklärte. Ich, Erstklässler, ha! Niemand hatte ein Recht, mich so zu nennen.
Damit hatte sie es geschafft. Kaum wahrnehmbar regte sich mein Ehrgeiz.



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