31. Vaters Geschichte

molly

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Am nächsten Nachmittag saßen Florian, Klaus, die Prinzessin, bei Michael und Nele im Wohnzimmer. Sie warteten auf den Vater, seinen Geschichten lauschten alle Kinder gerne, doch er schickte sie noch einmal nach draußen. Der Vater wollte die Sessel, umstellen.
Michael wusste zwar nicht, warum das nötig sein sollte, aber der Vater hatte immer seine Gründe. Michael fragte ihn nicht danach, sie interessierten ihn heute nicht, so schnell wie möglich wollte er die Geschichte hören. Die Freunde setzten sich vor die Haustüre.

„Da kommt jemand, schaut, wer da kommt", rief Klaus.
David und seine Eltern kamen¬ die Straße herauf. Herr Wagner hatte unter einem Arm eine Krücke mit der anderen Hand stützte er sich auf Davids Schulter. Frau Wagner hielt Davids kleine Hand fest. Langsam, sehr langsam kamen sie näher.
„Lasst uns ins Haus gehen", flüsterte die Prinzessin.
„Papa wird uns rufen", entgegnete Nele. Michael konnte den Blick nicht von der kleinen Gruppe wenden. Davids Vater schwitzte, sicher hatte er Schmerzen, er sah krank und müde aus. Auch David blickte angestrengt zu Boden. Michael rührte sich nicht, dachte, Herr Wagner würde gleich umfallen und seine Frau und David mit zu Boden reißen. Wie mühsam und schmerzvoll war der Spaziergang für diese drei Menschen.

Der Vater öffnete die Tür und ging ihnen entgegen. Er hatte sie erwartet und half Herrn Wagner die Treppe hoch zu steigen. Vorsichtig führte er ihn ins Zimmer zum kleinen Sofa. Frau Wagner setzte sich dazu und sie nahmen David in ihre Mitte. Nele und Michael kuschelten sich neben ihre Mutter aufs große Sofa, Florian fand Platz bei Michael. Klaus und die Prinzessin saßen auf Hocker. Vater hatte seinen Sessel so hingestellt, dass alle ihn gut sehen konnten. Er holte seine Tabakspfeife aus dem Schrank, stopfte sie umständlich, verlor dabei einige Tabakskrümel, die er jedoch sorgfältig aufsammelte. Endlich brannte der Tabak in der Pfeife.

Alle Geschichten fingen so an, das kannten sie schon. Nach dem er einmal genüsslich an der Pfeife gesogen hatte, begann er zu erzählen:
„Vor einiger Zeit sagte Michael, dass wir für manche Menschen im Dorf Fremde wären. Sie wollen mit uns nichts zu tun haben, weil wir im Neubauviertel wohnen und vor allem, weil ich nicht hier geboren bin. Ich komme aus einem anderen Land und spreche nicht schwäbisch. Ich gehe auch nicht zum Stammtisch im Wirtshaus. Viele Menschen verstehen das nicht und was sie nicht verstehen, lehnen sie ab, es ist ungewöhnlich und fremd. Doch manchmal wird auch ein Mensch, der bisher zum Dorf gehörte, ein Fremder. Die Leute sagen, er hätte sich verändert, sie würden ihn nicht wieder erkennen. Manche Menschen vergessen, dass es schlimme Erlebnisse gibt, die Erwachsene und auch Kinder sehr verändern können. Für mich änderte der Krieg mein ganzes Leben und davon will ich euch erzählen.“

Vater zog an seiner Pfeife, lächelte ihnen zu und sprach weiter.
"Ich bin in Liegnitz geboren, so hieß die Stadt bis nach dem Krieg Jetzt wird sie Legnica genannt und ist eine polnische Stadt“.

„Du hast doch einmal gesagt, dass du in Schlesien geboren bist", erinnerte Michael den Vater.

„Stimmt, Michi, Schlesien war einmal ein deutsches Land mit vielen Städten. Jetzt ist Schlesien ein polnisches Land und die Städte haben polnische Namen. Der Krieg hat auch Städte und Länder verändert.
Ich wohnte dort mit den Eltern und den Geschwistern Ruth, Iris und Toni in der Nähe eines Flusses. Daran erinnere ich mich genau, denn wir durften nie allein zu Fluss, Mutti und Vati sagten, es wäre zu gefährlich. Wir konnten noch nicht schwimmen. Unser Vati arbeitete bei der Eisenbahn. Wenn er frei hatte, erzählte er uns die schönsten Geschichten. Wir durften auf seinem Rücken reiten. Beim Spaziergang setzte er uns abwechselnd auf seine Schultern. Mit Vati gab es für uns viel zu lachen. Noch bevor ich zur Schule kam, hörten die fröhlichen Spiele auf. Der Krieg begann und Vati wurde, wie die anderen Männer auch, Soldat, und musste kämpfen. Er lebte nun weit weg von uns.
Wenn er Urlaub hatte und nach Hause kam, war unser Vati müde und traurig, ein Fremder, den wir erst wieder kennen lernen mussten. Leider blieb er nie lange, der Abschied war jedes Mal schlimm. Wir erlebten, wie unsere Mutti weinte.
Der Krieg war zu Ende und immer mehr Menschen strömten in unsere Stadt, fremde Menschen, deren Sprache wir nicht verstanden. Schon lange hatten wir keine Nachricht mehr von unserem Vati erhalten. Mutti wusste nicht, wo er sich aufhielt und ob er überhaupt noch lebte. Jeden Abend beteten wir mit Mutti das gleiche Gebet: „Lieber Gott, beschütze uns und unseren Vati, Amen".
Eines Tages kamen Soldaten in unsere Wohnung. Sie befahlen Mutti, in zwei Stunden die Wohnung zu verlassen. Unsere Mutti hatte schon längst die Rucksäcke gepackt. Wortlos legte sie den größten in Tonis Kinderwagen, an Ruth, Iris und mich verteilte sie drei kleine Rucksäcke. In meinem Rucksack steckte ein kleiness Auto, das einzige Spielzeug, das ich mitnehmen durfte. Mutti setzt Toni in den Kinderwagen, nahm den letzten Rucksack auf ihren Rücken und so verließen wir unser Heim.
Mutti brachte uns zu ihrer Freundin Lena und ging zum Bahnhof. Wir wollten so schnell wie möglich zu unserer Oma nach Bad Landeck reisen. Sie bewirtschaftete dort eine kleine Gästepension und war eine große und starke Frau. Die Oma und die Mutti würden uns beschützen, davon war ich überzeugt. Unsere zierliche Mutti sah schwach aus, aber das täuschte. Die Maulschellen, die sie an uns verteilte, waren kräftig.“

„Was sind denn Maulschellen“?, erkundigte sich die Prinzessin.
„Backpfeifen! Du würdest sagen, sie hätte den Kindern eine geknallt.“, sagte Michael

Der Vater lächelte, schwieg und zog an seiner Pfeife. Dann erzählte er weiter. „Nach Stunden kam Mutti endlich vom Bahnhof zurück. Sie hatte Fahrkarten für den nächsten Tag mitgebracht und wir mussten früh schlafen gehen. Die beiden Frauen legten Strohsäcke auf den Boden, wir kuschelten uns hinein und wurden mit kratzenden Wolldecken zugedeckt. Wir beteten mit Mutti, danach umarmte sie uns, löschte das Licht und ging in die Küche. Ein leises Murmeln drang bis zu uns. Ich lauschte den Stimmen, die mich sanft in den Schlaf wiegten.

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Vaters Geschichte geht weiter ...
 



 
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