40 Hektoliter Stickstoff, aber das verdammte Mistvieh will einfach nicht verrecken

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Eigentlich wollte ich hier eine Geschichte über die Motivation des Bösen einstellen. Aber ich wurde abgelenkt, von dem hier:



40 Hektoliter Stickstoff, aber das verdammte Mistvieh will einfach nicht verrecken


„Da kriecht irgendwo ein Ding durch die Erde.“
Ludwig Kappelt setzte vorsichtig den Spaten auf den, vom Regen aufgeweichten Boden.
Es war schon ein wenig unheimlich, jetzt, da es Nacht war, hier auf dem Friedhof, in dem Nebel.
Draußen, auf der Straße, nicht mal zwanzig Meter von ihm entfernt, donnerte ein Lastkraftwagen vorbei. Kappelt sah in Richtung der Straße und sah den Lichtschein schimmernd durch den Nebel davon sausen.
„Irgendwas kriecht da unten durch die Erde.“
Er kratzte sich nachdenklich das schmutzige, unrasierte Kinn und leckte sich mit der Zunge über die trockenen, kalten Lippen. Aus dem Radio, das er auf ein Stück Plastikfolie gestellt hatte und das über ein paar alte 12-Volt-Batterien lief, plärrte die Moderatorin eines Regionalsenders und kündigte gähnend die Mitternachtsmusik an. Bis um fünf Uhr morgens, die besten Hits der Sechziger und Siebziger. Kappelt bückte sich und drehte am Lautstärkerädchen.
Alles begann mit einer langen Version von Iron Butterfly. Im Vordergrund hörte man noch die Stimme der Moderatorin, die zwischen Gähnen und Papiergeknister die Uhrzeit ansagte.
„Es ist jetzt kurz nach Mitternacht. Schlafen Sie gut und seien Sie mein Gast, wenn es um fünf Uhr morgens wieder heißt, Guten Morgen Deutschland.“ Den letzten Satz leierte sie wie eine Bahnhofsansage herunter, gähnte noch einmal, mit einem Knacken verschwand ihre Stimme. Dann setzte die einmalige Einleitung von In the Garden of Eden ein. Kappelt nickte, ab jetzt wiederholte sich das Band zu jeder vollen Stunde.

Ludwig Kappelt hatte seit mindestens einer Woche nicht geschlafen.

„Was?“, Kappelt wirbelte herum und starrte in die Nacht hinaus. Seine Stirn fühlte sich an, als würde jemand mit Aluminiumfolien darüber streichen. Er hätte schlafen sollen, ging es ihm durch den Kopf. Sein Blick zitterte zwischen denen vom Tau gebeugten Platanen und Birken umher und sein Verstand versuchte einen klaren Gedanken zu fassen.
„Was? Natürlich sacken sie manchmal ab. Sie sacken alle ab, sogar bis ins Grundwasser. Und wenn du Glück hast, jagst du deine Großmutter in zwanzig Jahren noch mal die Klospühlung runter.“ Kappelt fasste sich an die Stirn. „Olovsen?“
`Warum war Olovsen nicht da? Er war immer da, wenn sie eine Exhumierung durchführten.´ Kappelt versuchte sich mit den Fingernägeln die Aluminiumfolie von der Stirn zu wischen.
Im Radio begann jetzt das lange Schlagzeugsolo. Kappelt schüttelte den Kopf und konzentrierte sich ganz auf die Musik. „Wahnsinn“, flüsterte er. Er nahm den Spaten in beide Hände und setzte die Schneide da an, wo er vor knapp Zehn Minuten die frisch gepflanzten Vergissmeinnicht mit der Hand ausgerissen hatte.

„Wie alles angefangen hat?“ Kappelt wischte sich den Schweiß von der Stirn und rammte den Spaten in den Boden. Langsam kroch er aus dem bereits einen Meter tiefen Loch, säuberte seine schmutzigen Hände an seiner Hose und zündete sich eine Zigarette an.
Vorsichtig und genüsslich sog er sich den warmen Rauch in die Lungen.
„Das fragen Sie am besten meinen Partner.“ Kappelt nahm eine zweite Zigarette aus der kleinen Schachtel, hielt sie in die Luft und ließ sie fallen.
„Olovsen?“ Kappelt drehte sich um. „Naja, er redet nicht gern“, sagte er. „Vor zwei Wochen hab ich noch gesagt, man, wenn uns die ganze Scheiße man nicht absackt, wenn es weiter so regnet. Wir hatten schon so tief abgerutschte Grabstellen, dass wir ein Schild für Leinenpflicht für kleine Hunde aufstellen mussten.“ Kappelt spuckte auf den Boden.
„Und die alte Friedrichsen ist uns von Morgens früh bis Abends spät auf die Nüsse gegangen, DAß SIE NICHT IN EINEM SCHLAMMLOCH BEERDIGT WERDEN WOLLTE!
Ich sagte ihr, dass sie noch viele, ereignisreiche Jahre auf diesem Planeten haben würde.“
Kappelt ließ die halb gerauchte Zigarette auf den nassen Boden fallen. Das leise Zischen ließ ihn nach unten sehen und sein Blick fiel auf das Loch, das er gegraben hatte.
„Aber ich hab nicht gesagt wo, was Frau Friedrichsen?“
Kappelt sprang wieder in das Loch. Er nahm den Spaten, riss ihn bis weit über seinen Kopf und rammte die Schneide bis zum Anschlag in den Boden.


Als die lange Version von In the Garden of Eden ein zweites Mal erklang, war das einzige, was man von Ludwig Kappelt noch sehen konnte, sein Kopf, der immer wieder unter der Oberfläche verschwand, wenn er die feste, schlammige Erde mit dem Spaten aufnahm und sie in hohem Bogen aus dem Loch schleuderte. Kappelt redete jetzt ohne Unterlass. „Tja, wenn Olovsen auf mich gehört hätte, dann wäre alles anders gekommen. Dann hätten wir erst gar nicht versucht, einen Wasserableitungsgraben um den Friedhof zu ziehen. Ich habs noch gesagt, vereisen, Olovsen, vereisen. Wir jagen über zwei Duzend Rohre, 40 Hektoliter Stickstoff in den Boden, das reicht für mindestens zwei Wochen und dann ist der Regen vorbei und wahrscheinlich ist dann auch schon Bodenfrost.“ Kappelt keuchte und stützte sich auf dem Griff des Spatens ab.
„Aber nein, wir mussten ja diesen bescheuerten Graben ziehen. Zwei Fünfzig tief, einen halben Meter breit. Einen halben Wald haben die oben in Norwegen abgeholzt, damit wir die ganze Scheiße abstützen konnten. Wasserdichte Folien, Kiesaufschüttung und dieses verdammte Rohrleitungssystem, das uns fast die Haare vom Kopf gefressen hat.“
Kappelt riss die Augen auf. Als zum zweiten Mal das lange Schlagzeugsolo von In the Garden of Eden erklang, wirkte die Musik wie eine Untermalung für seine Erinnerungen.

Als sein Spaten zum ersten Mal auf Holz stieß, entfuhr Kappelt ein leises Kichern.
„Na, Frau Friedrichsen, so sieht man sich wieder.“ Kappelt schlug mehrere Male mit der Metallschneide auf das Holz des Sargdeckels ein. „Na, da ist wohl wieder mal niemand zu Hause, was?“ Hastig schaufelte Kappelt die nasse Erde von dem Sargdeckel und zog das Brecheisen aus seinem Gürtel. Zielsicher klemmte er den Metallhaken zwischen die echt vergoldeten Messinggriffe und den Sargdeckel und öffnete den Sarg mit einer einzigen kraftvollen Bewegung.
Schreiend riss Kappelt das Brecheisen, wie eine Mordwaffe in die Höhe.
Einige Augenblicke herrschte nichts als beruhigende Friedhofsstille.
Überrascht ließ Kappelt das Brecheisen sinken.
„Was zum Teufel …?“
Und tatsächlich, da lag die gute, alte Frau Friedrichsen, die Hände ganz konservativ vor der eingefallenen Brust verschränkt, die faltigen Lippen, ganz nach ihrer Art, zickig verkniffen und hatte die Augen verschlossen, genau so, wie er sie das letzte Mal gesehen hatte.
„Du bist also noch nicht da gewesen.“, flüsterte Kappelt und nickte. Ein siegesfrohes Lächeln sprang auf seine Lippen.
„Ich war also zuerst hier.“, flüsterte er. „Ich hab gewonnen.“ Eine seltsame Unruhe befiel Kappelt, die einerseits von mangelndem Schlaf und anderseits von enormer Vorfreude verursacht wurde. Er benutzte den Spaten wie eine Leiter. Die Schneide klemmte er zwischen Frau Friedrichsen und der Sargseitenwand ein, rammte das Brecheisen wie ein Bergsteigereisen in die feuchte Erde, stieg mit dem linken Fuß auf das Eisen, dann mit dem rechten Fuß auf den Griff des Spatens und war aus dem Loch, noch bevor irgendjemand „Herr, erlöse uns von dem Übel“ sagen konnte.

Alles musste jetzt sehr schnell gehen. Kappelt hatte in der letzten Woche (oder waren es zwei gewesen?) 62 verdammte Gräber ausgehoben. 62! Kappelts Verstand schlug Purzelbäume. Das war das erste Mal, seit dieser Zeit, dass der Käse noch da war. Anfangs hatte er sie noch Leichen genannt oder Frau Sowieso oder Herr und Frau Sowieso. Aber irgendwann waren sie alle nur noch Käse gewesen. Käse, für seine Falle. Und zum ersten Mal war der Käse so frisch, dass dem Mistvieh die Schnauze abfallen würde, wenn es davon naschte.
Kappelts Hände zitterten, als er den Lastwagen anwarf. Normalerweise hatte er ihn immer hier, außerhalb des Friedhofgeländes stehen lassen und hatte den kältesicheren Schlauch bis zur notwendigen Stelle gezerrt.
Aber dafür war jetzt keine Zeit! Ruckend brachte er den Lastwagen auf Geschwindigkeit. Er bog um die Ecke, fluchte, weil es nicht schnell genug ging, holperte auf die Straße und gab Vollgas, dann, mit weit aufgerissenen Augen, riss er das Lenkrad herum und krachte mitsamt dem Lastwagen durch das Friedhofstor. Es wurde wie ein Streichholzminiaturnachbau von den gewaltigen Rädern und dem Führerhaus zu Boden gewalzt.

Die geöffneten Gräber an der Friedhofsallee rasten wie Erinnerungsfetzen an ihm vorbei. Ja, er hatte sie gekannt und bis vor einer Woche hätte er sie auch noch alle beim Namen nennen können. Aber sie waren Käse, jetzt waren sie alle nur noch Käse. Und die Friedrichsen war der frischste Käse von allen. Wie bei allen anderen, war er einfach in ihre Wohnungen eingedrungen, mit dem Brecheisen und hatte sie kalt gemacht. Die Friedrichsen hatte nie besonders gut hören können, deshalb hatte sie auch so friedlich da gelegen, als er ihr das Kissen ins Gesicht gedrückt hatte.
Kappelts Gesicht zuckte zur Seite.
„Was, ob überhaupt noch irgendwer lebt?“ Seine Augenlider zuckten.
„Kann ich nicht sagen.“
Mit ganzer Kraft ging er in die Bremsen. Quietschend schlitterte der Lastwagen über den Regennassen Boden.
Kappelt sprang schon aus dem Führerhaus, bevor der Lastwagen endgültig zum Stehen gekommen war.
„Ich krieg dich, du Mistvieh, ich mach deine widerliche Wurmfratze zu einem Ausstellungsstück im Wintermuseum. 365 Tage im Jahr minus 25 Grad und ich nehm einen Hammer mit und hau dich wie eine gefrorene Rose auseinander. Ich brech dich. Ich brech dich. Ich brech dich!“
Kappelt riss den Schlauch vom Lastwagen los und stürzte auf die Grabstelle zu. Mit der linken Hand riss er die Verschlusskappe herunter, entsicherte den Öffnungsmechanismus und hielt den Schlauch in das Loch hinein.
Dann sah er es.

Der Wurm hatte sich bereits über die Beine der alten Friedrichsen her gemacht. Es knackte und knisterte, während die Knochen in seinem weit geöffneten Maul in tausend Stücke brachen. Überall tropfte Schleim von seiner rosigen, nackten Haut herunter und das riesige Vieh suhlte sich in dem Gemisch aus Schleim und nasser Erde, wie eine Wildsau in ihren eigenen Exkrementen.
„Du hast Olovsen gefressen.“, sagte Kappelt mit kreidebleichem Gesicht und eines der Lidlosen Augen des Wurms drehte sich in dem halslosen Kopf und starrte in die Höhe.
„Das Krachen, wenn du in tausend Stücke brichst, muss lauter sein, als das Geräusch seiner zerbrochenen Knochen."
Kappelts Lippen zitterten.
"Und lauter als seine Schreie.
Ich kann sie nicht mehr hören.“
Und Kappelt riss den Öffnungsmechanismus herum, damit sich 40 Hektoliter flüssigen Stickstoffs auf das Mistvieh ergossen, das seinen Freund gefressen hatte und das ihn dazu gebracht hatte,
ALL DAS ZU TUN!

Der Schlauch hustete und ein leises Zischen ertönte, bevor eine kleine milchige Dampfwolke in die Luft stieg. Kappelt stöhnte auf. In seinem Verstand spielte die rechte Gehirnhälfte wieder und wieder eine Gleichung durch: Wie viele Hektoliter Stickstoff passten in 62 Gräber?
Als der Wurm sich gierig aus dem Loch erhob, wurde es ihm klar.
„Genau vierzig Hektoliter.“, sagte Kappelt und sah zur Seite, als wäre da eine Kamera, die ihn filmte.
Warum lachte niemand?

Es wurde ein wenig laut in der Nähe des Grabes von Andrea Friedrichsen und eine Zeit lang konnte man nicht hören, wie in dem Radio, das von sechs alten 12-Volt-Batterien gespeist wurde zum dritten Mal die lange, fast zwanzig minütige Version von In the Garden of Eden von Iron Butterfly gespielt wurde. Der Wurm, der schon von je her, immer da lebte, wo er regelmäßig Nahrung fand, verspeiste noch den halben Stickstoffschlauch und verschmähte auch das Radio nicht, bevor er sich schlingernd und schlurfend wieder in die Tiefe hinab begab.
Es dauerte noch eine Weile, bis die Batterien in seinem Leib den Geist aufgaben und noch eine Weile länger, bis die Magensäure das Gehäuse des Radios zersetzt hatte.
Aber bis zum Morgengrauen hörte der Wurm noch zwei Mal die lange Version von In the Garden of Eden, bevor die Moderatorin schließlich um kurz nach fünf Uhr Morgens das Mikrofon in die Hand nahm, müde gähnte und sagte:

„Guten Morgen, Deutschland.“
 
G

Gelöschtes Mitglied 5196

Gast
hi,

mir gefällt der erzählstil, du erschaffst ne gute atmosphäre, finde ich. als würde ich auf ner bank auf dem friedhof sitzen und das ganze geschehen aus der versteckten ferne beobachten.

aber die geschichte? habe bis zum ende darauf gewartet, dass was unerwartetes geschieht, aber irgendwie kam da nix. geht es wirklich nur um einen großen wurm oder ahb ichs einfach nicht verstanden?

lieben gruß
mye
 
ja, korrekt, mye,
es geht nur um den Wurm und um den Kerl, der alle Leute in seiner Stadt umbringt, um den Wurm zu töten, der seinen Geschäftspartner umgebracht hat.
Ich find das irgendwie witzig.

Sieh das ganze doch so, wie ich es sehe, als eine kleine, anregende, ein wenig witzige Geschichte. Nichts besonderes, aber eben unterhaltsam.

Beim Schreiben war sie das.

Gruss, Marcus
 
G

Gelöschtes Mitglied 5196

Gast
ok

so wie du das eben nochmal kurz zusammengefasst hast... ok da gebe ich dir auf jeden fall recht... finds auch witzig! war auch nur ne frage aus interesse. hab nichts gegen texte, die einfach nur unterhalten, im gegenteil.

gruß
 



 
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