Flucht über die Nordsee 65. Segeln ist nichts für Mädchen

ahorn

Mitglied
Zurück zum Klappentext
Zurück zu 64. Nach Sibirien verkauft

Segeln ist nichts für Mädchen
Bernadette kauerte in einer Ecke der winzigen Fischerhütte, versteckte sich hinter den Fischernetzen und schob fröstelnd ihr Nachthemd über ihre Knie. Die Ballerina auf der Spieldose drehte wie immer ihre Pirouetten, als wäre nichts geschehen. Der Tag würde bald anbrechen, der Fischer sie entdecken und ohne seine Absicht sie den Mörder ihrer Eltern übergeben. Flucht der einzige Weg für sie ihrem Schicksal zu entfliehen.
Mit zitternden Beinen stand sie auf, schritt zu den Harken, an dem ihr Freund und Sohn des Fischers seine Sachen zum Trocknen aufhenkte. Sie schlüpfte in seine Hose, zog den löchrigen Pullover über, der nach Meer und Fisch roch, setzte sich, ihre Haare unter den Stoff stopfend, seine Wollmütze auf.

Die Spieldose in der Hand, kroch sie geduckt aus der Hütte, schlich zum Bootssteg und kletterte in das kleine Segelboot mit dem sie des Öfteren, zusammen mit dem Fischerjungen, zum Angeln gesegelt war.
Ihr Ziel wage, hisste sie das Segel, fing den Südwind ein und erlaubte dem Boot in Richtung Elbmündung zu gleiten.


Seit über einer Stunde hockte er in seinem Versteck - keine Spur von Sophia. Seine gesammelten Erkenntnisse, dass Bärbel Sophia war, hatte er verarbeitet. Den ersten Gedanken daran sie sei seine Mutter hatte er verworfen. Die Tatsache, dass sie die Schwester – er strich das Wort, ersetzte es durch Cousine, Tanja adoptiert hatte, untermauerte seine Schlussfolgerung. Tanja war ihre Tochter. Gezeugt in Schande, vergewaltigt von seinem Erzeuger, der Mutter die Chance verwerte, ins Kloster einzuziehen. Beide Schwestern tauschten ihre Identitäten. Somit war er Bärbels Kind und sie weiterhin die Tante. War diese Qual eine ihrer Prüfungen? Er zupfte an seinem Ohrläppchen. »Die Geburtsurkunde!«, flüsterte er. Klar! Berichtete sie ihm nicht, sie war ein Versehen gewesen. War sie das wirklich? Das Dokument welches sie ihm präsentierte das Original. Hatte Sophia ein Verhältnis mit Karl. Gestanden hatte sie ihm die Liebe nie! Konnte es sein? Seine Mutter ihrer Schwester beigestanden und geholfen indem sie das Kind angenommen hatte. Wo war es? Weggeben in ein Heim, wie der Spross eines Priesters verwahrt, der Umwelt entzogen. Oder vor Gram verstorben? Die tiefe Sehnsucht zu ihrer Tochter sie veranlasste, aus ihm Antonia zu modellieren. Antonia – Toni! Wie nie zuvor verzahnte sich das Wortspiel in seinem Schädel, die Erklärung der Cousine eine Ablenkung gewesen.

Wie weit Tanja und Sophia unter einer Decke lagen ihm ungewiss. Zumindest hatte seine Cousine die Tante nicht alarmiert. Er hatte Tanja angerufen, ihr mitgeteilt, er benötigte die Zeit, um in sich zu kehren.
Er ergriff den Rucksack, in dem er die nötigsten Sachen geworfen hatte: Zahnbürste, das Geburtstagsgeschenk von Tanja und eine Auswahl von Büchern. Den Inhalt der Reisetasche, welche er am Vorabend heimlich gepackt hatte, hatte er vorsorglich wieder in seinen Kleiderschrank gelegt.

Mit dem Fuß drückte er die zu einem Spalt geöffnete Tür auf, schob das Gesäß soweit vor, bis der Kopf den Rand der Öffnung erreichte. Die rechte Hand auf der Tür abgestützt erhob er sich, dabei fegte er die Spinnweben von den Knien und presste anschließend die Verschlagtür in die Laibung. Die Hände am Treppengeländer blickte er hinauf, wandte das Haupt zum Hinterausgang und schwang den Rucksack über die Schultern. Nach einem Schulterblick zur Treppe schlich er zum Hauseingang.

Er nahm den Weg durch den Park. Es war der schnellste und nach seiner Meinung der sicherste Weg. Den Umstand, die Straße an der Olgas Brautmodengeschäft lag zu nehmen, verdrängt er.

»Thorben!«
Den rechten Fuß nach hinten gehoben, den linken Daumen unter dem Riemen des Rucksacks, verharrte er.
»Warum warst du nicht an unserem Treffpunkt«, zischte ihn Tami an und legte ihre zarten Finger auf sein Schulterblatt. Die Hand auf seiner Schulter, umkreiste sie ihn, rückte ihr Gesicht an seine Nase. »Ich habe auf dich gewartet.«
Toni schüttelte ihre Hand ab und riss die Augen auf. »Lüg nicht! Eine halbe Stunde stand ich herum.«
Mit den Knien wippend, hob sie ihre Arme, flatterte wie ein Huhn. »Ach! Meine Mutter hat mich nicht eher losgelassen.« Sie zog den rechten Mundwinkel empor. »Hättest ruhig warten können!« Ein Lächeln auf den Lippen buffte sie gegen den Rucksack. »Wohin willst du?«
Den Kopf gesenkt, zog Toni mit der Spitze des linken Schuhes eine Linie. »Zum Bahnhof«
»Verreisen?«
»Weg«
Tami kniff die Augenbrauen zusammen. »Wie weg!«
Toni zuckte mit den Achseln. »Weg halt! Las mich in Ruhe!«, zischelte er und hob den rechten Fuß.
Ihr Gesicht der Boutique zugewandt, strich sie über seine Taille und biss auf ihre Unterlippe. »Wart! Ich komm mit! Begleite dich!«
Die Hände wie ein bettelnder Hund vor der Brust lief sie zum Geschäft.

Obwohl sein Herz nach einem Menschen schrie, die Sorgen, die Furcht zu teilen, sagte ihm der Verstand, die Vernunft die Erkenntnis zu verschweigen. Er umgriff die Riemen der Last, rannte wie vom Teufel gejagt die Straße hinab, stolperte um die Häuserecke und lief.

Beim ersten Rumpeln des Großraumwagens atmete er durch, nahm das Gepäck vom angrenzenden freien Fensterplatz und stellte es den Rumpf gebeugt zwischen seine Beine. Ein Rock flatterte über seinen Schopf. Ein Mädchen plumpste auf den Nachbarsitz, öffnete ihre hellrosa Umhängetasche, fischte einen Klappspiegel, einen Lippenstift heraus, hielt den Handspiegel vor ihr Gesicht und malte ihre Lippen feuerwehrrot an.
»Von warten hältst du nicht viel! Oder!«, schnarrte Tami und zupfte an ihren Augenbrauen. »Dachte, ich hätte den falschen Zug!« Klackend schnappte die Spiegeldose zu. »Hab dich nur, die Treppe hinauflaufen, gesehen!«

Toni breitete den Inhalt des Rucksacks auf den Boden aus, öffnete die Kleiderschranktür, stopfte, beobachtet von Tami, die ihre Arme verschränkt pausenlos mit ihrer Schuhspitze wippte, Jungenkleider in den leeren Sack die.
Das Nötigste hatte er ihr gesagt. Dass er ins Internat solle und er mit der Wahl nicht einverstanden. Die Art der Anstalt verschwieg er. Warum wusste er nicht? Es war nicht verwerflich, in ein Mädcheninternat zu gehen.
Tami zielte mit dem Zeigefinger auf die Tasche. »Ich komme mit«, kam es schnippisch über ihre Lippen.
Auf der Bahnfahrt hatte sie ihm erzählt, dass Olga von ihrer Mutter die Erlaubnis eingeholt hätte, bei einer Freundin zu übernachten.
»Das geht nicht!«, antwortete Toni, ohne sich ihr zuzuwenden. »Fahr du wieder heim. Ich muss allein mit Sophia sein.«
Die Augen weit geöffnet, zog sie ihren Kopf zurück. »Du hast eine Freundin, ich dachte …«
Die Rechte am Genick richtete er sich auf. »Sophia ist mein Segelboot!« Er zupfte an seinen Ohrläppchen und dachte ‚meine Tante‘.

Ihm war bewusst, dass er das Schiff nicht allein beherrschte - ein zweiter Mann vom Vorteil. Weit hatte er nicht vor zu segeln, nur bis Mellum – klare Seeluft, klare Gedanken.
»Mit einem Boot fahren wollte ich schon immer!«, konterte sie.
Er musterte ihren grauschwarzen Minirock, ihr rosa Top. »Das ist nicht für Mädchen!«.
»Nur weil du Mal einen Rock angezogen hast, heißt das lange nicht, dass du dich über Mädchen lustig machen kannst!«
Die Logik in ihren Worten verstand er nicht. Zumindest war er erleichtert, inwieweit sie ihm die Lüge mit den Kleidern für die Hochzeit abgenommen hatte.

Toni kniete nieder, nahm die Bücher, den Kompass, stand auf und wandte ihr den Rücken zu.
»Wohin willst du?«
Im Schritt verharrt, hob Toni die Schultern. »Proviant suchen!«
»Wie Bitte«.
Er drehte sich zu ihr um, steckte den rechten Zeigefinger in die Mundhöhle. »Essen!«
Dumm war sie gleichermaßen – halt ein Mädchen!

Kopfschüttelnd rannte Toni die Holztreppe herab, lief in die Küche und schnappte sich den Weidenkorb der verstorbenen Großmutter. Zumindest war sie es weiterhin, egal ob Bärbel oder Sophia seine Mutter. Er deponierte die Bücher in den Korb, hing ihn über seine Armbeuge und schritt zum Vorratsschrank. Allerlei Konserven verwahrte er in ihm.
Sein Gewissen plagte ihn. Der Schreck der Wahrheit hatte ihn in seinem alten Trott geworfen. War es nicht sein Ansinnen, sein Bestreben gewesen mit dem Törn sein altes Leben über Bord zu werfen, sein wahres Ich zu erkunden. Was konnte Tami dafür? Nichts!
Er öffnete erneut den Vorratsschrank, holte eine Flasche Cola heraus – Cola-Light gab es nicht. Die Mundwinkel emporgezogen, befüllte er zwei Gläser.

Eins der beiden Gläser fiel auf die Holzdielen, zerbrach, verteilte dabei seinen Inhalt, in Stücke. Nicht, dass ihm der Anblick, die Männerbüx an ihren Beinen erschreckte, obwohl es keine von seinen war, er trug nur weite und die letzten zwei hatte er in den Rucksack verstaut. Es war eine von Tanjas, die der Meinung, dass derartige Jeans ihre Rundung unterstrich. Das dunkelblaue T-Shirt mit dem Piratenmotiv ließ ihn ebenfalls nicht zusammenzucken, da es eins von seinen war. Der Umstand, dass sie ihren Zopf umklammerte und an ihrem Oberschenkel hielt, an dem er nicht zu suchen hatte, sowie eine Schere in der andern Hand, ließ ihn versteinern.
»Was hast du getan!«
Sie schob die Unterlippe hervor. »Hast gesagt, ich sehe aus wie ein bemalter Junge.« Sie hielt ihm den abgeschnittenen schwarzen Zopf entgegen. »Jungen können segeln!«

Er erinnerte sich an den Ausspruch. Ihr Gesicht hatte jungenhafte Züge – kantig, herb.
Sie rieb über ihren Nacken, strich durch das restliche Haar. »Wollte mir die Dinger eh abschneiden.« Sie zuckte. »Praktischer!«
Die Lider geschlossen dachte er an Alina, die den gleichen Spruch drauf hatte. Für ihn war es undenkbar sich die Haare abzuschneiden – freiwillig.
Das letzte Glas in der Hand schlich er auf sie zu, sah ihr ins Gesicht. »Ohne Lippenstift und Schminke?«, murmelte er und senkte den Kopf. »Aber!«

»Kein Problem«, lachte sie, griff in eine Schublade des Schrankes, öffnetet Knopf und Reißverschluss der Hose und stopfte ein zu einem Ball geformtes Paar Socken zwischen ihre Schenkel.
»Alles da wo es sein muss!«
Er wies auf ihre Brust und zog einen Mundwinkel herauf. »Alles da wo es sein muss?«, wiederholte er papageienhaft.
Sie verschränkte ihre Arme. »Darüber habe ich mir auch Gedanken gemacht! Vielleicht ein weiter Pullover.«
Toni schaute aus dem Fenster. »Es ist Sommer – und auf meinen Boot sieht dich niemand.«
Den Blick gen Zimmerdecke klopfte sie an ihren Nasenflügel. »Hab ihr einen Verbandskasten?«
Die Lippen verdeckt, betrachtete er ihren Hals. »Hast du dich geschnitten?«

Toni fasste ans Treppengeländer. Was sollte der Quatsch? Mellum unbewohnt, abgesehen von den Vogelglubschern, wie der Großvater sie genannt hatte, die ausharrend im Schilf Federvieh zählten. Denen es egal, ob Mann oder Frau, Mädchen oder Junge die Insel betraten, solange die Besucher ihre Schätze nicht aufschreckten. War sie Naive? Glaubte sie an seine Geschichte, dass Ziepeltrienen am Bord Unglück brachten?
Er presste ihren Zopf an die Nase und inhalierte den Duft von Lavendel und Zitrone. Das Haarkleid die Seele des Weibes! Grimms Märchen schwebten ihm durchs Gehirn - Rapunzel. Die Gefühle, die sie empfand mehr als Freundschaft?
Vor ein paar Wochen hätte er einen Purzelbaum vor Freude geschlagen, sie umarmt, einen Kuss auf ihre rosa Wange gedrückt. Sein Puls ohne Erregung, roch er an ihrer Flechtfrisur. Zuneigung wie zu einer Schwester nahm er wahr – sein Herz vergeben.

Tami umgriff die Mullbinde, überkreuzte die Arme, fasste mit den Fingern an den Saum des T-Shirts und zuckte mit den Augenbrauen. »Dreh dich um!«, befahl sie.
Er tat ihr den Gefallen, obwohl unlogisch, da sie bei ihren Besuch ihm freiwillig die Brüste präsentiert hatte. Toni zupfte am Ohrläppchen – nicht nur die. Er presste die Lippen, schüttelte den Kopf. Widersprüchlich? Nein! Konsequent! Welches Mädchen zeigt dem Freund, in den sie sich frisch verliebt hatte den Busen. Erfahrung hatte er keine, er holte sich sein Wissen aus Büchern. Reden mit ihr, der wahre Gedanken. Jetzt? Die Stunden auf der Insel waren trefflicher dafür geeignet. Die Öde, die Seeluft, der Ort, die Zeit ihr alles anzuvertrauen, ihr ein Schweigegelübde zu entlocken.

Toni drückte den linken Zeigefinger an die Unterlippe, schwank den Kopf im Takt und berührte ihren Oberkörper. »Na ja!«
Sie zuckte mit den Achseln. »Männerbrust!«, brummte sie eine Oktave tiefer.

Tami kickte ihren Kopf zur Seite. »Las uns gehen!«
Toni presste den Unterleib an die Fensterbank und drückte seine Nase an die Scheibe des Fensters. »Zu früh«, raunte er und klopfte ans Glas. »Der Hafenmeister würde uns entdecken.«
Die Stirn gefaltete schritt sie auf ihn zu, legte ihre Rechte auf seine Schulter. »Ist doch dein Boot! Oder ...«
Er wandte sich zu ihr, dreht sich eine Locke. »Erst seit ein paar Tagen.« Die Oberlippe leckend, schielte er zu seinen Wecker, der auf dem Nachttisch stand. »In einer Stunde glotzt er seine Lieblingsserie im Fernsehen, dann hört und sieht er nichts.«
Den rechten Ringfinger am Kinn, drehte Tami eine Pirouette, streifte mit ihren Linken über die Wand des Kinderzimmers. »Hast du etwas dagegen, wenn ich mir das Haus deiner Urgroßmutter anschaue?«
Die Schultern erhoben, kehrte Toni ihr den Rücken zu. »Tue dir keinen Zwang an!«, hauchte er der Fensterscheibe entgegen.
»Du kennst mich«, spöttelte sie. »Wohin fahren wir eigentlich?«
»Mellum!«
Zwei Kinder tobten im Watt.

weiter zum nächsten Teil 66. Die Sünderin klagt an
 



 
Oben Unten